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l 5oc ni^-7
HARVARD COLLEGE
LIBRARY
FROM THB BBQUBST OP
THOMAS WREN WARD
Tmwnr of Hamnl CoO^t
iS}o-i843
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1902.
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
AUS DEM JAHRE
1902.
MIT 21 TAFELN.
.'-•
BERLIN 1902.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
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Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei.
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1
X'
Inhalt.
Öffentliche Sitzungen S. vii— viii.
VerzeichDifs der im Jahre 1902 gelesenen Abhandlungen S. ix— xviii.
Bericht über den Erfolg der Preisausschreibungen für 1902 und neue
Preisausschreibungen S. xviii— xxri.
Verzeichnifs der im Jahre 1902 erfolgten besonderen Geldbewilligungen
aus akademischen Mitteln zur Ausfuhrung wissenschaftlicher Un-
ternehmungen S. XXII— XXVI.
Verzeichnifs der im Jahre 1902 erschienenen im Auftrage oder mit
UnterstrUzung der Akademie bearbeiteten oder herausgegebenen
Werke S. xxvii— xxix.
Veränderungen im Personalstande der Akademie im I^ufe des Jahres
1902 S. XXX— XXXI.
Verzeichnifs der Mitglieder der Akademie am Schlüsse des Jahres 1902 S. xxxii — xli.
Du u ML er: Gedächtnifsrede auf Paul Scheffer -Boichorst Ged. Red. I. S. 1— 16.
Schmidt, E. : Gedächtnifsrede auf Karl Weinhold » » IL S. 1—15.
Z IHM eh: Gedächtnifsrede auf Johannes Schmidt » • III. S. 1—10.
Abhandlungen.
Physikalisch -mathematische Classe.
Physikalische Abhandlungen.
Branco: Das vulcanische Vorries und seine Beziehungen zum vulca-
nischen Riese bei Nördüngen. (Mit 1 Tafel) Abb. 1. S. 1-132.
Philosophisch -historische Classe.
Conze: Kleinfunde aus Pergamon. (Mit 5 Tafeln) Abb. 1. S. 1— 28.
/
VI
Anhang.
Abhandlungen nicht zur Akademie gehöriger Gelehrter.
Physikalische Abhandlungen.
C RuNGK und F. Paschen: Uher die Strahlung des Quecksilbers im
magnetischen Felde. (Mit b Tafeln) Abh. I. S. I— 18.
M. Sabitrr und R. Hetmons: Die Variationen bei Artemia salina
Leach. und ihre Abhängigkeit von äufseren Einiliissen .... Abh. II. S. 1—62.
W.Krause: Ossa Leibnitii. (Mit I Tafel) Abh. III. S.1-10.
H. ViRCHOw: über Tenon*schen Raum und Tenon'sche Kapsel. (Mit
2 Tafeln) Abh. IV. S. 1-48.
N. Gaidukov: über den Einfliifs farbigen Lichts auf die Färbung
lebender Oscillarien. (Mit 4 Tafeln) Abh. V. S. 1-36.
Philosophische und historische Abhandlungen.
H. Schafer: Ein Bruchstück altägyptischer Annalen. (Mit 2 Tafeln) Abh. I. S. 1— 41.
W. Stieda: Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter . . Abh. II. S. 1—58.
Jahr 1902.
Öffentliclie Sitzungen.
Sitzung am 23. Januar zur Feier des Geburtsfestes Seiner
Majestät des Kaisers und Königs und des Jahrestages
König Friedrich's 11.
Der an diesem Tage voi*sitzende Secretar Hr. Di eis eröffnete
die Sitzung mit einer Festrede über »Wissenschaft und Romantik«.
Darauf wurden die Jahresberichte erstattet: über die »Samm-
lung der griechischen Inschriften« — über die »Sammlung der
lateinischen Inschriften« — über die » Aristoteles -Commentare« —
über die »Prosopographie der römischen Kaiserzeit« — über die
»Politische Correspondenz Friedrich's des Grofsen« — über die
»Griechischen Münz werke« — über die »Acta Borussica« — über
das »Historische Institut in Rom« — über den »Thesaurus linguae
latinae« — über die »Ausgabe der Werke von Weierstrafs« —
über die »Kant -Ausgabe« — über die »Ausgabe des Ibn Saad« —
über das »Wörterbuch der aegyptischen Sprache« — über den
»Index rei militaris imperii Romani« — über die »Ausgabe des
CJodex Theodosianus « — über die »Geschichte des Fixsternhim-
mels« — über das »Thierreich« — über das »Pflanzenreich« —
über die »Ausgabe der Werke Wilhelm von Humboldt's« — über
die »Humboldt-«, die »Savigny-«, die »Bopp-« und die »Hermann
imd Elise geb. Heckmann Wentzel«- Stiftung. In dem Bericht über
die zuletzt genannte Stiftung waren als Bestandtheile enthalten die
Berichte über die »Ausgabe der griechischen Kirchenväter« und über
VIII
das »Wörterbuch der deutschen Rechtssprache«, sowie ein vor-
läufiger Bericht über eine im Sommer 1901 ausgefiihite Forschungs-
reise im westlichen Kleinasien von Pro£ Dr. A. Philippson.
Zum Schlufs belichtete der Vorsitzende über die seit dem letzten
Friedrichs -Tage (24. Januar 1901) in dem Personalstande der Aka-
demie eingetretenen Veränderungen.
Sitzung am 3. Juli zur Feier des Leibnizischen Jahrestages.
Hr. Wald ey er, als Vorsitzender Secretar, eröffnete die Sitzung
mit einer Ansprache, welche die Entstehung der Internationalen
Association der Akademien zum Gegenstand hatte.
Darauf hielten die seit dem letzten Leibniz-Tage (4. Juli 1901)
neu eingetretenen Mitglieder der philosophisch - historischen Classe
HH. Dressel und Burdach ihre Antrittsreden, die von den HH.
Di eis und Vahlen als Secretaren der Classe beantwortet wurden.
Das gleichfalls seit dem letzten Leibniz-Tage neu eingetretene Mit-
glied der philosophisch -historischen Classe Hr. Zimmer war durch
Krankheit verhindert, der Sitzung beizuwohnen und seine Antritts-
«
rede zu halten.
Ferner wurden Gedächtnifsreden auf drei der in den letzten
Jahren veretorbenen Mitglieder der Akademie gehalten, von Hm.
Zimmer (verlesen von Hrn. Diels) auf Johannes Schmidt, von
Hm. Erich Schmidt auf Karl Weinhold und von Hrn. Dumm 1er
auf Paul Scheffer-Boichorst.
Schliefslich verkündete der Vorsitzende das Ergebnifs der Aus-
schreibung des akademischen Preises von 1898, welcher abgeändert
für 1906, und der Preisaufgabe aus dem Cothenius'schen Legat, die
unverändert für 1905 erneuert wurde, eine neue akademische Preis-
aufgabe für 1905 und einen Beschlufs der philosophisch-historischen
Classe betreffend die Eduard Gerhard -Stiftung.
IX
Verzeidmifs der im Jahre 1902 gelesenen Abhandlungen.
Physik und Chemie.
Lummer, Prof. 0., und Dr. E. Gehrcke, über den Bau der Queck-
silberlinien, ein Beitrag zur Auflösung feinster Spectrallinien.
Vorgelegt von Kohlrausch. (Ol. 9. Jan.; N. Ä)
Fischer und H. Leuchs, über Serin und Isoserin. (Cl. 30. Jan.;
S. B.)
Runge, Prof. C, und Prof F. Paschen, Ober die Strahlung des
Quecksilbers im magnetischen Felde. Vorgelegt von Planck.
(G.S. 6. Febr.; AhL)
Warburg, über den Geschwindigkeitsverlust, welchen die Katho-
denstrahlen beim Durchgang durch dünne Metallschichten er-
leiden. (CL 13. März; S.B.)
Fischer und Dr. F. Weigert, Synthese der a,€-Diaminocapron-
säure. (Cl. 13.März;.S.ß.)
van't Hoff, Prof W. Meyerhoffer und F. G. Cottrell, Untersu-
chuugen über die Bildungsverhältnisse der oceanischen Salz-
ablagerungen, insbesondere des Stafsfurter Salzlagers. XXV.
(CL 13.März;*S.iJ.)
..
Landolt, über kleine Änderungen des Gesammtgewichts chemisch
sich umsetzender Körper. (G.S. 20. März.)
van't Hoffund A. O'Farrelly, Untersuchungen über die Bildungs-
verhältnisse der oceanischen Salzablagerungen, insbesondere
des Stafsfmter Salzlagers. XXVL (G.S. 10. April; .S.Ä)
Runge, Prof C, und Prof F. Paschen, über die Zerlegung einander
entsprechender Serienlinien im magnetischen Felde. Vorge-
legt von Planck. (G.S. 1 0. April; iJ.ß.)
b
Kubierschky, Dr. K., über ein eigentliürnliches Salzvorkommen im
sogenannten Magdeburg - Halberstadter Becken. Vorgelegt
von van't Hoff: (Cl. 17. April; S. B.)
Planck, zur elektromagnetischen Theorie der Dispersion in isotropen
Nichtleitern. (Cl. 1 . Mai ; N. B)
Kohlrausch, über die Temperaturcoefficienten der Ionen im Wasser,
insbesondere über ein die einwerthigen Elemente umfassen-
des Gesetz. (Cl. 29. Mai; S.B.)
Kohlrausch und Dr. II. von Steinwehr, weitere Untersuchungen
über das Leitvermögen von Elektrolyten aus einwerthigen
Ionen in wässeriger Lösung. (Cl. 29. Mai; S.B)
Kutscher, Dr. F., zur Kenntnifs der Amidosäuren der Reihe
C„Il2„ + iN02. Vorgelegt von Engelmann. (Cl. 29.Mai; S.B.)
Fischer und M. Slimmer, über asymmetrische Synthese. (G.S.
5. Juni; S.B.)
Runge, Prof. C, und Prof. F. Paschen, über die Zerlegung ein-
ander entsprechender Serienlinien im magnetischen Felde.
Zweite Mittheilung. Vorgelegt von Planck. (Cl. 26. Juni; S.B)
van't Hoff und G. Bruni, Untersuchungen über die Bildungsver-
hältnisse der oceanischen Salzablagerungen, hisbesondere des
Stafsfurter Salzlagers. XX VE. (G.S. 10. Juh; Äl^.)
Ilolborn, Prof L., und Dr. F. Henning, über die Zerstäubung
und die Rekrystallisation der Platinmetalle. Vorgelegt von
Kohlrausch. (G.S. 24. Juli; S.B. 31. Juli.)
von Hefner- Alteneck, über Verbesserungen an der Lichteinheit
und an einfachen Photometern. (G.S. 23.0ct.; S.B)
van't Hoff, Untersuchungen über die Bildungs Verhältnisse der
oceanischen Salzablagerungen, insbesondere des Stafsfurter
Salzlagers. XXVHI. (Cl. 30. Oct.; S. B)
War bürg, über den Einflufs der Temperatur auf die Spitzenent-
ladung. (Cl. 27.Nov.;N./^.)
XI
Landolt, Untersuchungen über die Änderungen des Gesammtge-
wiclite bei cliemischen Flüssigkeitsreactionen. (Cl. ll.Dec.)
van't Hoff und Prof. W. Meyerh offer, Untersuchungen über die
Bildungsverhältnisse der oceanischen Salzablagerungen. XXIX.
(CL ll.Dec; .S.Ä)
Mineralogie und Geologie.
Sachs, Dr. A., über Anapait, ein neues Kalkeisenphosphat von
Anapa am Schwarzen Meere. Vorgelegt von Kleui. (Cl.
9. Jan.; S.B.)
Klein, optische Studien IL (C\. 13. Febr.; S.B.)
Sachs, Dr. A., Beiträge zur Kenntnifs der Krystallform des Lang-
beinits und zur Auffassung der Tetartoedrie im regulären
System. Vorgelegt von Klem. (G.S. 10. April; S.B.)
Romberg, Dr. J., .geologisch -petrographische Studien im (lebiete
von Predazzo. I. Vorgelegt von Klein. (Cl. 29. Mai; S.B.
1 2. Juni.)
Baumhauer, Prof. H., über einen neuen, flächenreichen Krystall
von Seligmannit. Vorgelegt von Klein. (G.S. 5. Juni; N. /i.)
Klein, Totalreflectometer mit Fernrohr-Mikroskop. (Cl. 1 2. Juni; N. B.)
Romberg, Dr. J., geologisch -petrographische Studien im Gebiete
von Predazzo. IL Vorgelegt von Klein. (Cl. 12. Juni; S.B.
26. Juni.)
Tornquist, Prof A., Ergebnisse einer Bereisung der Insel Sardinien,
Vorgelegt von Branco. (G.S. lO.JuU; »S. Ä.)
Sachs, Dr. A., über die Krystallform des Rothnickelkieses. Vor-
gelegt von Klein. (Cl. 17.JuU;.S.Ä)
Branco, über die neueren Ergebnisse der geologischen Erforschung
des Ries bei Nördlingen. (Cl. 3 I.Juli.)
Klein, über die am 7. Mai 1902 vom Vulcan Soufriere auf St.
Vincent ausgeworfene vulcanische Asche. (G.S. 23.0ct.; S.B.)
b*
XII
von Wolff, Di\F., Vorstudien zu einer geologisch -petrographisclieii
Untersuchung des Quarzporphyrs der Umgegend von Bozen
(Südtirol). Vorgelegt von Klein. (G.S. 6, Nov.; S.B.)
Branco, das vulcanische Vorries und seine Beziehungen zum Riese
bei Nördlingen. (G.S. IS.Dec; Äbh.)
Botanik und Zoologie.
Schulze, über die Hexactinelliden - Gattung i4pÄraea///sfes J.K.Gray.
(G.S. 16. Jan.)
Mob ins, über die Pantopoden oder Meerspinnen der Deutschen
Tiefsee -Expedition. (G.S. 20. Febr.)
Engler, über die Vegetations Verhältnisse des im Norden des Nyassa-
Sees gelegenen Gebirgslandes. (Cl. 27. Febr.; *S\ Ä)
Iloltermann, Prof. C, anatomisch-physiologische Untersuchungen in
den Tropen. Vorgelegt von Schwendener. (Cl. 12. Juni; S. B.)
Samter, Dr. M., und Dr. R. Heymons, die Variationen bei Arteinia
salina Leach. und ihre Abhängigkeit von äufseren Einflüssen.
Vorgelegt von Schulze. (Cl. 17. Juli; Ahh.)
Schw^endener, über den Öffhungsmechanismus der Makrosporan-
gien von Selaginella. (G.S. 20.Nov.; »S. /l)
Anatomie und Physiologie.
(), Ilertvvig, über eine neue Vorrichtung zum Photographiren der
Ober- und Unterseite wagerecht liegender kleiner Objecte
und über eine mit Hülfe derselben angestellte Untersuchung
von einzelnen Stadien aus der Entwickelung des Froscheies.
(G.S. 24. April; &!?.)
Munk, über den Einflufs der Sensibihtät auf die Motilität. (G.S.
5. Juni.)
Engelmann, über die Verwendung von Gittern statt Prismen bei
Mikrospectralapparaten. (Cl. 26. Juni.)
xni
Siedentopf, Dr. H., über ein Mikrospectralpliotonieter nacli Engel-
mann mit Gitterspectrum. Vorgelegt von Engelmann. (Gl.
26. Juni; ÄÄ)
Siedentopf, Dr. H., über ein Mikrospectralobjectiv nach Engel-
maim mit ausklappbarcn geradsichtigen Gittern nach Thorp
und ausklappbarem Polarisator. Vorgelegt von Engelmann.
(Gl. 26. Juni; S. B.)
Friedenthal, Dr. IL, neue Versuche zur Frage nach der Stellung
des Menschen im zoologischen System. Vorgelegt von Engel-
mann. (G.S. 10.JuH;N.ß.)
Hcnsen, das Verhalten des Resonanz -Apparates im menschlichen
Ohr. (Gl, 17. Juli; Ä B. 24. Juh.)
Krause. Prof. W., Ossa Leibnitii. Vorgelegt von Waldeyer. (G.S.
24. Juli; ^6Ä.)
Gaidukov, Dr. N., über den Einflufs farbigen Licht« auf die Fär-
bung lebender Oscillarien. Vorgelegt von Engelmann. (Gl.
31.JuH; Ahh.)
Virchow, Prof H., über Tenon'schen Raum und Tenon'sche Kapsel.
Vorgelegt von Waldeyer. (Gl. 3 I.Juli; Ahh.)
9
Kopsch, Dr. F., die Darstellung des Binnennetzes in spinalen Gan-
glienzellen und anderen Körperzellen mittels Osmiumsäure.
Vorgelegt von Waldeyer. (Gl. 31. Juli; S.B.)
Waldeyer, über den feinern Bau des menschlichen Eies. (G.S.
1 8. Dec.)
Astronomie, Geographie und Geophysik.
Helmert, Dr. Hecker's Bestimmung der Schwerkraft auf dem At-
lantischen Ocean. (Gl. 13. Febr.; S.B)
Hartmann, Prof J., spectrographische Geschwindigkeitsmessungen
an Gasnebeln. Vorgelegt von Vogel. (Gl. 27. Febr.; ^\/?.)
XIV
Furtwängler, Dr. Ph., über die Schwingungen zweier Pendel mit
annähernd gleicher Seh wingungsdauer auf gemehisamer Unter-
lage. Vorgelegt von Ilelmert, (Cl. 27.Kebr.; .S. ii.)
Vogel, über die Bewegung des Orionnebels im Visionsradius. (Cl.
A SS mann, Prof. R., über die Existenz eines wärmeren Luftstromes
in der Höhe von 10 bis 15 km. Vorgelegt von v. Bezold. (Cl.
l.Mai;.S.Ä)
von Bezold, zur Thermodynamik der Atmosphäre. VI. Mittheilung.
(Cl. 12. Juni.)
von Richthofen, geomorphologische Studien aus Ostasien. HI.
(G.S. 10.Juli;.S.Ä 31.Juh.)
Helmert, über die Reduction der auf der physischen Erdoberfläche
beobachteten Schwerebeschleunigungen auf ein gemeinsames
Niveau. Ei-ste Mittheihmg. (Cl. 17. Juh; .S.Ä)
Auwers, Ergebnisse aus Vergleich ungen der Zonencataloge der
iVstronomischen Gesellschaft unter einander und mit dem
Romberg'schen Catalog fiir 1875. (Cl. 13. Nov.)
Auwers, Ergebnisse einer Vergleichung des Toulouser Sterncatalogs
fiir die Zone -4-4® bis -f- 11® mit gleichzeitigen Bonner Beob-
achtungen. (G.S. 20. Nov.)
Vogel, eAurigae, ein spectroskopischer Doppelstem. (Cl. 27. Nov.;
.S. B.)
Vogel, der spectroskopische Doppelstern o Persei, (G.S. 18. Dec;
S. B.)
Mathematik und Mechanik.
Fuchs, über Grenzen, hiiierhalb deren gewisse bestimmte Integrale
vorgeschriebene Vorzeichen behalten. (Cl. O.Jan.; S.B)
Schur, Dr. J., über einen Satz aus der Theorie der vertauschbaren
Matrizen. Vorgelegt von Frobenius. (Cl. 13.Febr.; iS.Ä)
XV
Schlesinger, Prof. L., über das Riemann'sche Problem der Theorie
der linearen Differentialgleichungen. Vorgelegt von Fuchs.
(Cl. 27. Febr.; S.A. 13. März.)
Schwarz, Fortsetzung seiner Untersuchung, betreffend die confonne
Abbildung der Oberflächen specieller Tetraeder auf die Kugel-
fläche, welche durch mehrdeutige elliptische Functionen ver-
mittelt wird. (Cl. S.April.)
Frobenius, über Gruppen des Grades p oder />-hl. (G.S. 10. April;
S. B.)
Frobenius, über primitive Gruppen des Grades n und der Classe
n-\. (G.S. 24. April; .S.J5.)
Müller-Breslau, über den Druck sandformiger Massen auf stand-
feste Mauern. (Cl. 30.Oct.)
Schur, Dr. J., neuer Beweis eines Satzes über endliche Gruppen.
Vorgelegt von Frobenius. (Cl. 30.Oct.; S.B)
Philosophie.
Dilthey, über die Aesthetik Schleiermach er's und ihr Verhältnifs zu
den Kunstlehren der Vorgänger und der Zeitgenossen. ((^1.
30. Jan.)
Stumpf, über Abstraction und Genera lisation. (Gl. 29. Mai.)
Geschichte.
Hirschfeld, über den Grundbesitz der römischen Kaiser in den
eisten drei Jahrhunderten. (G. S. 6. März.)
Sachau, über den zweiten Chalifen Omar. (Cl. 1 3. März; Ä 2?.)
Lietzmann, Lic. H., der Psalmencommentar Theodor's von Mop-
suestia. Vorgelegt von Harnack. (Cl. 3. April; S.B.)
Dümmler, eine Streitschrift für die Priesterehe. (Cl. 17. April; S.B.)
XVI
Kos er, über eine Sammlung von Leibniz- Handschriften im Staats-
archiv zu Hannover. (Cl. 1. Mai; Ä ß. 15. Mai.)
Harnack, der Brief des Ptolemäus an die Flora. (G. S. 1 5. Mai; S. B.)
Harnack, die alten Bezeiclniungen der Christen. (CI. 26. Juni.)
Loofs, Prof. F., die Trinitätslehre MarceU's von Ancyra und ilir
Verhältnifs zur älteren Tradition. Vorgelegt von Harnack.
(Cl. 26.Juni;ÄJ5.)
Mommsen, Weihe -Inschrift für Valerius Dalmatius. (Cl. 26. Juni;
S.B. 10. Juli.)
Lenz, ein neuer Beitrag zur Kritik der Gedanken und Erinnerungen
des Fürsten Bismarck. (CL 17. Juli.)
von Wilamowitz-Moellendorff, Alexandrinische Inschriften. (Cl.
27. Nov.; S. B.)
Rechts- und Staatsvvissenschaft.
Schmoller, die historische Lohnbewegung von 1300 — 1900 und
ihre Ursachen. (Cl. 13. Febr.; S.B.)
Brunner, Todfall und Todtentheil. (CL 27. Febr.)
Schmoller, Entstehung, Wesen und Bedeutung der neueren Armen-
pflege. (Cl. 31.JuU;Ä./J.)
Stieda, Prof W., über die Quellen der Handelsstatistik im Mittel-
alter. Vorgelegt von Schmoller. (Cl. 30. Oct; Abh.)
Brunner, Capitulare Saxonicum c. 3. (Cl. ll.Dec.)
Allgemeine, deutsche und andere neuere Philologie.
Tobler, Etymologisches. (G.S. 6. Febr.; S.B.)
Schmidt, die Weiber von Weinsberg. (Cl. 12. Juni; S.B.)
Burdach, zum zweiten Reichsspruch Walther's von der Vogelweide.
(G.S. 2i.Ju\i; S.B.)
XVI 1
Tobler, vermischte Beiträge zur fran;5ösisclien Grammatik. (CL
27. Nov.; S.B.)
Classische Philologie.
Vahlen, über einige Citate in Aristoteles' Rhetorik. (Cl. 9. Jan.;
S. B. 20, Febr.)
de Boor, Prof. C, zweiter Bericht über eine Studienreise nach
Italien zum Zwecke handschrifllicher Studien über byzanti-
nische Chronisten. Vorgelegt von Diels. (Cl. 13. Febr.; S. B.)
Schubart, Dr. W., neue Bruchstücke der Sappho und des Alkaios.
Vorgelegt von v. Wilamowitz-MoellendorfF. (G.S. 20. Febr.;
S. B.)
Diels, über den Papyrus Nr. 9780 der Königlichen Museen zu
Berlin. (Cl. 3. April.)
Schöne, Dr. H., ein Palimpsestblatt des Galen aus Bobbio. Vor-
gelegt von Diels. (Cl. 3. April; S.B. 17. April.)
von Wilamowitz-Moellendorff, choriambische Dimeter, (G.S.
24.Juli;.S.Ä)
von Wilamowitz-Moellendorff, über einen Papyrus des 4. Jahr-
hunderts V. Chr., der die Perser des Timotheos enthält. (G. S.
24. Juli.)
Vahlen, über CatuU's Elegie an M'Allius. (G.S. 6. Nov.; Ä Ä)
Diels, über die auf den Namen des Demokritos gefälschten Schrif-
ten. (G.S. 4.Dec.)
Archaeologie.
Conze, über die älteste Periode der Stadtgeschichte von Pergamon.
(G.S. 10. April.)
Kekule von Stradonitz, über einen statuarischen Typus des
Hypnos. (Cl. 30.Oct.)
Conze, Kleinfunde aus Pergamon. (Cl. 13. Nov.; Ahh.)
XVIII
Orientalische Philologie.
Schäfer, Dr. H., ein Bruchstück altägyptischer Annalen. Vorge-
legt von Erman. (G. S. 6. März; Ahh.)
Erman, über die religiöse Poesie Aegyptens in der Zeit des neuen
Reiches. (G.S. 19. Juni.)
Bericht über den Erfolg der Preisausschreibungen für 1902 und
neue Preisausschreibungen.
Akademische Preisaufgabe für* 1902,
erneuert ßlr 190(i,
Nachdem die in der Leibniz- Sitzung des Jahres 1894 gestellte
akademische Preisaufgabe keinen Bewerber gefunden hatte, war
sie in der Leibniz- Sitzung des Jahres 1898 in etwas abgeänderter
Weise folgendermafsen von neuem gestellt worden:
»Sei fi{z)^ fii^)^ . . -/U-) ^i^ Fundamentalsystem von
Integralen einer linearen homogenen Differentialgleichung
mit algebraischen Coefficienten.
Es soll die Function z der Variablen — , ~
. * •
welche durch die Gleichung
'^f/i(^) + ^hf2{z) -f- . . . -f- ujn{z) = ^
definirt ist, einer eingehenden Untersuchung unterworfen
werden. Insbesondere ist für den Fall, dafs z eine end-
lichwerthige Function wird, eine Darstellung dei'selben zu
ermitteln. Hieran ist die Erörterung der Frage anzuschliefsen,
inwieweit diese besonderen Functionen fiir die Integration
der linearen Differentialgleichungen n^^ Ordnung verwerthet
werden können.«
XIX
Auch in dieser Fassung hat die Aufgabe einen Bewerber nicht
gefunden, und die Akademie wiederhoh. sie nunmehr m folgender,
weniger eingeschränkten Form:
»Die Akademie wünscht, dafs die Theorie der Func-
tionen mehrerer VeränderUchen, w^elche hneare Substitu-
tionen zulassen, in ihren wesentlichen Theilen durch be-
deutsame Fortschritte gefördert werde.«
Der ausgesetzte Preis beträgt 5000 Mark.
Die Bewerbungsschriften können in deutscher, lateinischer,
französischer, englischer oder itahänischer Sprache abgefafst sein.
Schriften, die in störender Weise unleserlich geschrieben snid, können
durch Beschlufs der zuständigen Classe von der Bewerbung aus-
geschlossen werden.
Jede Bewerbungsschrift ist mit einem Spruch wort zu bezeich-
nen, und dieses auf einem beizufügenden versiegelten, innerlich
den Namen und die Adresse des Verfassers angebenden Zettel
äufserlich zu wiederholen. Schriften, welche den Namen des Ver-
fassers nennen oder deutlich ergeben, werden von der Bewerbung
ausgeschlossen. Zurückziehung einer eingelieferten Preisschrift ist
nicht gestattet.
Die Bewerbungsschriften sind bis zum 31. December 1905 im
Bureau der Akademie, Berlin NW. 7, Universitätestr. 8, einzuliefern.
Die Verkündigung des Urtheils erfolgt in der Leilmiz- Sitzung des
Jahres 1906.
Sämmtliche bei der Akademie zum Behuf der Preisbewerbung
eingegangene Arbeiten nebst den dazu gehörigen Zetteln werden
ein Jahr lang von dem Tage der Uitheilsverkündigimg ab von der
Akademie für die Verfasser aufbewahrt. Nach Ablauf der bezeich-
neten Frist steht es der Akademie frei, die nicht abgeforderten
Schriften und Zettel zu vernichten.
c*
XX
Preisaujfjahe aus dein Cothenius sehen Legat.
In der Leibniz- Sitzung des Jahres 1899 hat die Akademie aus
der Cothenius- Stiftung wiederholt die folgende Preisaufgabe aus-
geschrieben:
»Die Königliche Akademie der Wissenschaften wünscht
eine auf eigenen Versuchen und Beobachtungen beruhende
Abhandlung über die Entstehung und das Verhalten neuer
Getreide Varietäten im Laufe der letzten 20 Jahre.«
Bewerbungsschriften, welche bis zum Sl.December 1901 er-
wartet wurden, sind auch diesmal nicht eingegangen.
Auf Vorschlag der physikalisch - mathematischen Classe stellt
indefs die Akademie die Preisfrage unverändert zum di'itten Male.
Bewerbungsschriften sind spätestens am 31. December 1904 im
Bureau der Akademie, Berlin NW. 7, Universitätsstrafse 8, ehizu-
reichen. Dieselben können in deutscher, lateinischer, französischer,
englischer oder italiänischer Sprache abgefafst sein.
Jede Bewerbungsschrift ist mit einem Spruchwort zu bezeich-
nen, welches auf einem beizufügenden versiegelten, innerlich den
Namen und die Adresse des Verfassers angebenden Zettel äufserlich
wiederholt ist. Schriften, welche den Namen des Verfassers nennen
oder dcuthch ergeben, werden von der Bewerbung ausgeschlossen.
Ebenso können Schriften, welche in störender Weise unleserlich
geschrieben sind, durch Beschlufs der Classe von der Bewerbung
ausgeschlossen werden.
Die Verkündung des Urtheils erfolgt in der Leibniz - Sitzung des
Jahres 1905.
Der ausgesetzte Preis beträgt 2000 Mark. Aufserdem über-
nimmt die Akademie, wenn der Preis ertheilt wird und der Ver-
fasser die gekrönte Preisschrift in Druck zu geben beabsichtigt,
die Drucklegung oder die Kosten derselben in der nach ihrem Er-
messen geeigneten Form.
XXI
Sämmtliche Bewerbungsschriften nebst den zugehörigen Zettehi
werden ein Jahr lang vom Tage der Urtheilsverkündung ab fiir den
Verfasser aufbewahrt, und einem jeden Verfasser, welcher sich als
solcher nach dem Urtheil des Vorsitzenden Secretars genügend legi-
timirt, die seinige gegen Empfangsbescheinigung ausgehändigt Ist
die Arbeit als preisfahig anerkannt, aber nicht prämiirt, so kann
der Verfasser innerhalb dieser Frist verlangen, dafs sein Name durch
die Schriften der Akademie zur öfFentlichen Kenntnifs gebracht
werde. Nach Ablauf der bezeichneten Frist steht es der Akademie
frei, die nicht abgefoi^derten Schriften und Zettel zu vernichten.
Akademische Preisaufgahe für 1905.
Die Akademie stellt für das Jahr 1905 folgende Preisaufgabe:
»Nach dem übereinstimmenden Ergebnifs neuerer For-
schungen betrachtet man die Kathodenstrahlen und ebenso
die Becquerel- Strahlen als Schwärme äufserst schnell be-
wegter elektrisch geladener Partikel. Es ist weiter wahr-
scheinlich gemacht worden, dafs die nämlichen Partikel
auch bei der gewöhnlichen Elektricitätsleitung in Gasen und
in Metallen, sowie auch bei der Emission und Absorption
des Lichts die Hauptrolle spielen. Gewünscht werden neue,
mit theoretischer Discussion verknüpfte Messungen, durch
welche unsere Kenntnisse von den Eigenschaften jener Par-
tikel in wesentlichen Punkten erweitert werden.«
Der ausgesetzte Preis beträgt 5000 Mark.
Die Bewerbungsschriften können in deutscher, lateinischer, fran-
zösischer, englischer oder italiänischer Sprache abgefafst sein. Schrif-
ten, die in störender Weise unleserlich geschrieben sind, können
durch Beschlufs der zuständigen Classe von der Bewerbung aus-
geschlossen werden.
XXII
Jede Bevverbungsschrifl ist mit einem Spruchwort zu bezeich-
nen, und dieses auf einem beizufügenden versiegelten, innerlich den
Namen und die Adresse des Verfassers angebenden Zettel äufser-
lich zu wiederholen. Schriften, welche den Namen des Verfassers
nennen oder deutlich ergeben, werden von der Bewerbung ausge-
schlossen.
Zurückziehung einer ehigelieferten Preisschrift ist nicht gestattet.
Die Bewerbungsschriften sind bis zum 31. December 1904 im
Bureau der Akademie, Berlin NW. 7, Universitätsstr. 8, einzuliefern.
Die Verkündigung des Urtheils erfolgt in der Leibniz- Sitzung des
Jahres 1905.
Sämmthche bei der Akademie zum Behuf der Preisbewerbung
ehigegangene Arbeiten nebst den dazu gehörigen Zetteln werden
ein Jahr lang von dem Tage der Urtheilsverkündigung ab von der
Akademie fiir die Verfasser aufbewahrt. Nach Ablauf der bezeich-
neten Frist steht es der Akademie frei, die nicht abgeforderten
Schrift;en und Zettel zu vernichten.
Verzeichnifs der im Jahre 1902 erfolgten besonderen Greldbe-
willigungen aus akademischen Mitteln zur Ausfiihrung wissen-
schaftlicher Unternehmungen.
Es w^urden im Laufe des Jahres 1902 bewilligt:
2300 Mark dem Mitgliede der Akademie Hrn. Engler zur Fort-
führung der Herausgabe des »Pflanzenreich«.
4000 » dem Mitgliede der Akademie Hrn. Di eis zur Fortfüh-
rung der Arbeiten an einem Katalog der Handschriften
der antiken Medicin.
XXIll
3300 Mark dem Mitgliede der Akademie Hm. Kirchhoff zur Fort-
fuhrung der Sammlung der griechischen Inschriften.
6000 » dem MitgUede der Akademie Hm. Koser zur Fort-
fuhrung der Herausgabe der Politisclien Con'espondenz
Friedrich's des Grofsen.
1000 » zur Förderang des Unternehmens des Thesaurus Hnguae
latinae über den etatsmäfsigen Beitrag von 5000 Mark
hinaus.
4500 » dem Mitgliede der Akademie Hrn. Landolt zur Be-
schaffung einer Präcisionsvvage zum Zweck von Unter-
suchungen über Änderungen des Gesammtgewichts
chemisch sich umsetzender Köi-per.
2000 » Demselben zu einer neuen Ausgabe seiner »Physika-
Usch-chemischen Tabellen«.
3000 » dem Mitgliede der Akademie Ihn. Conze zur Über-
arbeitung einer im Jahre 1886 von Hrn. von Diest auf-
genommenen Karte des pergamenischen Gebietes durch
Hrn. Hauptmann Beriet.
1500 » dem Mitgliede der Akademie Hrn. von Wilamowitz-
Moellendorff zur Aufnahme von Graffiti in Aegypten.
2250 » Hrn. Dr. Emil Abderhalden in Berlin zur Herausgabe
einer Bibliographie der wissenschafUichen Litteratur über
Alkohol und Alkoholismus.
1200 » Hm. Prof. Dr. Max Bauer in Marburg zur Fortführung
seiner Untersuchung des niederhessischen Basaltgebietes.
700 » Hrn. Prof. Dr. Theodor Boveri in Würzburg zur Fort-
setzung seiner Untersuchungen über die erete Entvvicke-
lung des tliierischen Eies.
1200 » Hrn. Prof. Dr. Reinhard Brauns in Giefsen zu einer
Untersuchung der zur Diabasgruppe gehörenden Cie-
steine des rheinischen Schiefergebirges.
XXIV
600 Mark Hm. Dr. Ernst Rresslau in Strafsburg zu Untersuchun-
gen über die rhabdocoelen Turbellarien und die mai'inen
Nematoden Helgolands.
700 » Hm. Privatdocenten Dr. Otto Cohnheim in Heidelberg
zur Fortsetzung seiner Untereuchungen über die Re-
sorption bei Wirbellosen.
1000 » Hrn. Prof. Dr. Arthur Dannenberg in Aachen zu einer
geologischen Untersuchung von Vulcangebieten auf der
Insel Sardinien.
700 » Hrn. Privatdocenten Dr. Karl Escherich in Strafsburg
als Zuschufs zu einer Reise nach Nordafrica zum Zweck
des Abschlusses einer Arbeit über die gesetzmäfsigen
Gesellschafter der Ameisen.
400 » Hrn. Dr. Friedrich Franz Friedmann in Berlin zu
Untersuchungen über Vererbung von Tuberculose.
2400 » Hrn. Prof Dr. Eugen Gold stein in Berlin zur Fort-
setzung sehier Untersuchungen über Kathodenstrahlun-
gen, insbesondere über Canalstrahlen.
1800 » Hrn. Prof Dr. Paul von Groth in München als Beihülfe
für die von ihm vorbereitete »Chemische Krystallo-
graphie«.
1000 » Hrn. Prof. Dr. Wilhelm Halbfafs in Neuhaldensleben
zur Fortsetzung seiner Seichesbeobachtungen am Madue-
See in Pommern.
1500 » Hrn. Prof Dr. Clemens Hartlaub auf Helgoland zu
Reisen für die Herausgabe eines Werkes über craspedote
Medusen.
300 » Hrn. Prof. Dr. Richard Hesse in Tübingen zu Unter-
suchungen über die Sehorgane der Thiere, speciell der
Retina der Wirbelthiere.
XXV
600 Mark Hrn. Prof. Dr. Karl Hiirthle in Breslau zur Fortsetzung
seiner Untersuchungen über die Structur der thätigen
Muskelfaser.
800 » Hrn. Prof. Dr. Rudolf K ober t in Rostock zu biologi-
schen Versuchen an Seethieren mit pharmakologischen
Agentien.
800 » Hrn. Privatdocenten Dr. Hans Lohmann in Kiel zur
Erforschung von oceanischen Grundproben.
1500 » Hm. Prof Dr. Willy Marckvvald in Berlin zu Unter-
suchungen über das radioactive Wismuth.
1500 » Hm. Prof Paul Matschie in Berlin zu einer Reise be-
hufs Vollendung einer Monographie der Fledermäuse.
1000 » Hrn. Dr. Wilhelm Michaelsen in Hamburg zur Heraus-
gabe eines Werkes über die geographische Verbreitung
der Oligochaeten.
1000 » Hrn. Privatdocenten Dr. Max Rothmann in Berlin zur
Untei-suchung anthropomorpher Affen hinsichtlich der
Function der Pyramidenbahn.
1500 » Hrn. Prof Dr. Adolf Schmidt in Potsdam (früher in
Gotha) zur Fortsetzung seiner Bearbeitung erdmagne-
tischer Beobachtungen.
1200 » Hrn. Prof Dr. Heinrich Simroth in Leipzig zu einer
Reise in das Alpengebiet zum Zweck des Studiums der
palaearktischen Nacktschneckenfauna.
1000 » Hrn. Prof Dr. Arnold Spuler in Erlangen zu syste-
matisch - lepidopterologischcn Studien.
1500 » Hm. Prof Dr. Alexander Tornquist in Strafsburg zu
geologischen Untersuchungen auf der Insel Sardinien.
500 » Hm. Privatdocenten Dr. Armin Tschermak in Halle
zu einer Arbeit über das Bmocularsehen der Wirbel-
thiere.
XXVI
1000 Mark Hm. Privatdocenten Dr. Theodor Weyl in Cliarlotten-
burg zu Untersuchungen über das elektrische Organ
von Torpedo auf der zoologischen Station zu Neapel.
1000 » Hm. Prof. Dr. Olof August Danielsson in Upsala zu
einer Reise nach Italien für die Zwecke des Corpus
inscriptionum etruscarum.
400 » Hm. Dr. J. Halpern in Berlin zur Herausgabe der Dia-
lektik Schleiermacher's.
500 » Hm. Privatdocenten Dr. Josef Horovitz in Berhn zur
Herausgabe der Gedichte des arabischen Dichters Kumait.
3500 » Hm. Dr. Josef Karst in Strafsburg zur Drucklegung
seiner Ausgabe des Mittelarmenischen Rechtsbuches.
3000 » Hrn. Bibliothekar Dr. Oskar Mann in Berlin als zweite
Rate fiir seine Reise nach Vorderasien zum Studium der
kurdisch - neupersischen Dialekte.
17322 » Hrn. Dr. Jos. Marquart in Leiden zur Vollendung sei-
nes Werkes »Ostasiatische und osteuropäische Streif-
züge « .
1200 » Hrn. Prof. Dr. Eduard Scheer in Saarbrücken zu einer
Reise nach Italien und Frankreich behufs Ergänzung
der Vorarbeiten zu seiner Ausgabe der SchoUen zu
Lykophron's Alexandra.
1500 » Hrn. Museumsdirector Dr. Karl Schuchhardt in Han-
nover zu einer Reise nach England zum Zwecke näherer
Erforschung und Aufnahme sächsischer Befestigungen.
800 » Hm. Prof Dr. Ferdinand Tönnies in Eutin zur Aus-
fuhrung moralstatistischer Untersuchungen.
600 » Hm. PfarrerW.Tümpel in Unten'enthendorf zur Heraus-
gabe des I.Bandes eines Werkes »Das deutsche evan-
gelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts«.
XXVII
Verzeichnifs der im Jahre 1902 erschienenen im Auftrage
oder mit Unterstützung der Akademie hearheiteten oder
herausgegehenen Werke.
Das Pflanzenreich. Regni vegetabilis conspectus. Im Auftrage der
Königl.Preufs. Akademie der Wissenschaften hrsg. von A. Eng-
ler. Heft 8-1 L Leipzig 1902.
Das Tierreich. Eine Zusammenstellung und Kennzeichnung der
rezenten Tierforraen. In Verbindung mit der Deutschen Zoo-
logischen Gesellschaft hrsg. von der Könighch Preufsischen
Akademie der Wissenschaften zu Berün. Lief. 16. 17. Ber-
lin 1902.
Weierstrafs, KarL Mathematische Werke. Hrsg. unter Mitwir-
kung einer von der Königlich Preufsischen Akademie der
Wissenschaften eingesetzten Commission. Bd. 4. Vorlesungen
über die Theorie der Abelschen Transcendenten. Bearb. von
G. Ilettner und J. Knoblauch. Berlin 1902. 4.
Acta Borussica. Denkmäler der Preufsischen Staatsverwaltung im
18. Jahrhundert. Hrsg. von der Königlichen Akademie der
Wissenschaften. Die einzelnen Gebiete der Verwaltung.
Münzwesen. Beschreibender Theil. Heft 1. Berlin 1902. 4.
Commentaria in Aristotelem graeca edita consiUo et auctoritate
Academiae Litterarum Regiae Borussicae. Vol. 5. Pars 4.
Themistii in libros Aristotelis de caelo paraphrasis hebraice
et latine ed. Samuel Landauer. — Vol. 6. Pars 1. Syriani
in metaphysica commentaria ed. Guilelmus Kroll. — Vol. 12.
Pars 1. Olympiodori prolegomena et in categorias commen-
tarium ed. Adolf us Busse. Berolini 1902.
Corpus inscriptionum graecarum Peloponnesi et insularum vicinarum
consilio et auctoritate Academiae Litterarum Regiae Borussica^^
XXVIIl
editum. Vol. 1. • Inscriptiones graecae Aeginae Pityonesi Ce-
cryphaliae Argolidis ed. Maximilianus Fraenkel. Berolini
1902. 2.
Corpus inscriptionuni latinarum consilio et auctoritate Academiae
Litterarum Regiae Borussicae editum. Vols. 3 Suppl. In-
scriptionum Orientis et Illyrici latinarum supplementum ed.
Theodorus Mommsen Otto Hirschfeld Alfredus Do-
maszewski. Pars 2. — Vol. 6. Inscriptiones urbis Romae
latinae. Pars 4. Fase. 2. Additamenta coli, et ed. Christianus
Huelsen. Berolini 1902. 2.
Politische Correspondcnz Friedrich's des Grofsen. Bd. 27. Berlin 1902.
Kant's gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preufsischen
Akademie der Wissenschaften. Bd.l. Abth. 1 : Werke. Bd. 1.
Bd. 1 2. Abt. 2 : Briefwechsel. Bd. 3. Berlin 1902.
Thesaurus Knguae latinae editus auctoritate et consiho Academia-
rum quinque Germanicarum BeroUnensis Gottingensis Lip-
siensis Monacensis Vindobonensis. Vol. 1. Fase. 4. 5. Vol. 2.
Fase. 3. Lipsiae 1902. 4.
Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahr-
hunderte hrsg. von der Ku'chenväter-Commission der Königl.
Preufsischen Akademie der Wissenschaften. Eusebius Werke.
Bd.l. Hrsg. von Ivar A. Heikel. — Die Oracula Sibyllina
bearb. von Joh. Geffcken. Leipzig 1902.
Engler, A. Vegetationsansichten aus Deutschostafrika nach 64 von
Walther Goetze auf der Nyassa-See- und Kinga-Gebirgs-
Expedition der Hermann und Elise geb. Heckmann Wentzel-
Stiftung hergestellten photographischen Aufnahmen zur Er-
läuterung der ostafrikanischen Vegetationsformationen zu-
sammengestellt und besprochen. Leipzig 1902.
Fülleborn, Friedrich. Beiträge zur physischen Anthropologie der
Nord-Nyassaländer. Anthropologische Ergebnisse der Nyassa-
XXIX
und Kingagebirgs- Expedition der Hermann und Elise geb.
Heckmann Wentzel- Stiftung. Berlin 1902. 2.
Ahlwardt, W. Sammlungen alter arabischer Dichter. I. Elacmaijjät
nebst einigen Sprachqagiden. Berlin 1902.
Ascherson, Paul, und Graebner, Paul. Synopsis der mittel-
europäischen Flora. Lief. 14— 21. Leipzig 1901. 02.
Ibrahim Ibn Muhammad al-Baihaqi, Kitäb al-Mahäsin val-Masävi
hrsg. von Friedrich Schwally. Giefsen 1902.
Corpus inscriptionum etruscarum. ed. Carolus Pauli, Fase. 1 0. Lip-
siae 1902. 4.
Kraenzlin, Fritz. Orchidacearum genera et species. Voll. Berlin
1901.
Philonis Alexandrini opera quae supersunt ed. Leopoldus Cohn et
Paulus Wendland. Vol. 4. Berolini 1902.
Reichenow, Anton. Die Vögel Afrikas. Atlas. Neudamm 1902.
Schäfer, Ernst. Beiträge zur Geschichte des spanischen Protestan-
tismus und der Inquisition im 16. Jahrhundert. Bd. 1—3.
Gütersloh 1902.
Schiemann, Theodor. Die Ermordung Pauls und die Thron-
besteigung Nikolaus I. Neue Materialien. Berlin 1902.
Schweinfurth, Georg. Aufnahmen in der östlichen Wüste von
Aegypten. Blatt 6. 10 a. 106. Berlin.
Taschen berg, 0. Bibliotheca zoologica II. Verzeichnifs der Schrif-
ten über Zoologie, welche in den periodischen Werken ent-
halten und vom Jahre 1861—1880 selbständig erschienen
sind. Lief 16. Leipzig 1902.
Zettersteen, K.V. Beiträge zur Kenntnis der religiösen Dichtung
Balai's. Leipzig 1902. 4.
XXX
Veränderungen im Fersonalstande der Akademie im Laufe des
Jahres 1902.
Es wurden gewählt:
zu ordentlichen Mitgliedern der philosophisch -historischen Classe:
Hr. Heinrich Zimmer, bestätigt durch K. Cahinetsordre vom 13. Ja-
nuar 1902,
» Heinrich Dressel, bestätigt durch K. Cahinetsordre vom 9. Mai
1902,
» Konrad Burdach, bestätigt durch K. Cahinetsordre vom 9. Mai
1902,
» Richard Pischel, bestätigt durch K. Cahinetsordre vom 13. Juli
1902;
zum auswärtigen Mitgliede der philosophisch -historischen Classe:
Hr. Leopold Delisle in Paris, bisher correspondirendes Mitglied,
bestätigt durch K. Cahinetsordre vom 16. November 1902;
zum correspondirenden Mitgliede der philosophisch-historischen
Classe:
Hr. Eugen Bormann in Wien am 24. JuH 1902.
Gestorben sind:
die ordentlichen Mitglieder der physikalisch -mathematischen
Classe:
Hr. Lazarus Fuchs am 26. April 1902,
» Rudolf Virchow am 5. September 1902;
XXXI
die ordentlichen Mitglieder der plülosophisch-historischen Classe:
Hr. Paul Scheffer-Boichorst am 17. Januar 1902;
» Ernst Dümmler am 11. September 1902;
das Ehren -Mitglied:
Hr. Gustav von Gofsler in Danzig am 29. September 1902;
die con'espondirenden Mitglieder der physikalisch -mathema-
tischen Classe:
Ilr. Heinrich Wild in Zürich am 5. September 1902,
» Alfonso Cossa in Turin am 23. October 1902,
» Johannes Wislicenus in Leipzig am 5. December 1902,
» Karl von Kupffer in München am 16. December 1902;
die correspondirenden Mitglieder der philosophisch -historischen
Classe:
Hr. Sigismund Wilhelm Kölle in London am 18. Februar 1902,
» Karl Zangemeister in Heidelberg am 8. Juni 1902,
» Julius Ficker Ritter von Feldhaus in Innsbruck am 10. Juli
1902,
» Konrad von Maurer in München am 16. September 1902.
XXXII
Verzeichnifs der Mitglieder der Akademie am Schlüsse
des Jahres 1902.
L Beständige Secretare.
Gewählt von der '''^^^^''
Hr. Auwers phys.-math. Classe 1878 April 10.
- ValJen phil.-hist. - 1893 April 5.
- Diek phil.-hist. - 1895 Nov. 27.
- Waldeyer phy8.-math. - 1896 Jan. 20.
II. Ordentliche Mitglieder
der phyrikaliMh-makhemaliacben Clasae der philoeophiMh-biatorieehen CIamc Datam^toj^K uniglichen
Hr. Tlieodor Motninsen .... 1858 April 27.
. Adolf KircIJioff 1860 März 7.
Hr. Arthur Auwers 1866 Aug. 18.
- Jolumnes Vahlen 1874 Dec. 16.
- Eberluxrd Schröder .... 1875 Juni 14.
- Alexander Conze .... 1877 April 23.
- Simon Schwendener 1879 Juli 13.
- Hermann Munk 1880 März 10.
- Adolf Tobler 1881 Aug. 15.
- Hermann Diels 1881 Aug. 15.
- Hans LandoÜ 1881 Aug. 15.
. Wüliehn Waldeyer 1884 Febr. 18.
- Heinrich Brunner .... 1884 April 9.
- Franz Eil/usrd Schulze 1884 Juni 21.
- Otto Hirschfeld 1885 März 9.
Wilhelm von Bezold 1886 April 5.
- Eduard Sachau 1887 Jan. 24.
- Gusiao SchmoU^r .... 1887 Jan. 24.
- WWwim imhey 1887 Jan. 24.
xxxin
d«r physikAliMli.aiakhcauUiMhen CImm d«r phttoMphiMh-hiitoriMilm CImm ^^^'u^Unnc^''''^"
Bcstltigung
^>m
Hr. Karl Klein 1887 April 6.
- Karl Möbius 1888 April 30.
Hr. Ulrich Kohler 1888 Dec. 19.
- Ado^ Engler 1890 Jan. 29.
- Adolf Hamaek 1890 Febr. 10.
- Hermann Karl Vogel 1892 März 30.
- Hermann Amandus Sc/twarz 1892 Dec 19.
- Georg Frobenius 1893 Jan. 14.
- EmU Bseher 1893 Febr. 6.
- Oskar Hertwig 1893 April 17.
- Max flüwdfc 1894 Juni 11.
- Karl Stumpf 1895 Febr. 18.
. Eridt Sdamdt 1895 Febr. 18.
- Adolf Erman 1895 Febr. 18.
- Vriedridi Kohlrausch 1895 Aug. 13.
- Emil Warburg 1895 Aug. 13.
- Jakob Heinric/i vant Hoff 1896 Febr. 26.
■ Reinhold Koter 1896 Juli 12.
- Max Lenz 1896 Dec. 14.
- Theodor Wilhelm Engelmann 1898 Febr. 14.
- Reinhard Kekule von Stradonitz 1898 Juni 9.
Ferdinand Frhr. von Richthofen 1899 Mai 3.
- Ulrich von WHamowitz-
MoeUendotff 1899 Aug. 2.
Hr. Wilhdm Branco 1899 Dec. 18.
- Robert Hehnert 1900 Jan. 31.
- Friedrich von Ilefner-AUeneck 1901 Jan. 14.
- Heinrich Müller-Breslau 1901 Jan. 14.
- Heinrich Zimmer .... 1902 Jan. 13.
- //«wricÄ Dressel .... 1902 Mai 9.
- Konrad Burdach .... 1902 Mai 9.
■ Richard Pisehd 1902 Juli 13.
XXXIV
ni. Auswärtige Mitglieder
der physikalisch •maihenuUiaobai Classe
der philoBophiseh-historisohen Classe
Datum der Königlichen
Bestfttigaag
1892 März 16.
1895 Jan. 14.
1899 Mai 22.
Hr. Oito von Böhtlingk in Leipzig 1885 Nov. 30.
Hr. AWeri von Koeliiker in Würz-
burg
- Eduard Zeüer in Stuttgart
Sir George Gabriel Stokes in Cambridge
Hr. nieodorNöldekeinütrvihhvirg
- Friedrich Imhoof-Blumer in
Winterthur
- Theodor von Sickel in Meran
Gaston Paris in Paris . .
- Pasquale Villari in Florenz .
- Franz BOcheler in Bonn. .
Hr. WU/iehn Hittorf in Münster i.W
Lord Kelvin in Netherhall, Largs
Hr. Marcelin Berthelot in Paris
- Eduard Suess in Wien
- Karl Gegenbaur in Heidelberg
- Eduard Pßüger in Bonn
Rochus Frhr. von Liliencron in
Schleswig
Hr. Liopold Delisle in Paris . .
1900 März 5.
1901 Jan. 14.
1902 Nov. 16.
^ * Datum der Königlichen
Bestitigung
Eari of Crawford and Balcarres in Haigh Hall, Wigan .... 1883
Hr. Max Lehmami in Göttingen 1887
- Ludwig BoUzmann in Wien 1888
Se. Majestät Oskar IL, König von Schweden und Norwegen . . 1897
Hugo Graf von und zu Lerchenfeld in Beriin 1900
Hr. Friedrich Althoff in Beriin 1900
- Richard SchGne in Beriin 1900
Frau Elise Wentzel geb. Hechnann in Beriin 1900
Hr. Konrad Siudt in Beriin 1900
- Andrew Dickson White in Ithaca, N. Y 1900
Juli
30.
Jan.
24.
Juni
29.
Sept.
14.
März
5.
März
5.
März
5.
März
5.
März
17.
Dec.
12.
XXXV
V. Correspondirende Mitglieder.
Physikalisch -mathematische Classe.
Datum der Wahl
Hr. Ernst Abbe in Jena 1896 Oct. 29.
- Alexander Agassiz in Cambridge, Mass 1895 Juli 18.
- Adolf von Baeyer in München 1884 Jan. 17.
- Friedrich Beilstein in St. Petersburg 1888 Dec. 6.
- Ernst Wilhelm Benecke in Strafsburg 1900 Febr. 8.
- Educard van Beneden in T^üttich 1887 Nov. 3.
. Oskar Brefeld in Breslau 1899 Jan. 19.
- Otto BütsclJi in Heidelberg 1897 März 11.
Sir John Burdon- Sanderson in Oxford 1900 Febr. 22.
Hr. Stanislao Cannizzaro in Rom 1888 Dec. 6.
- Karl Chun in Leipzig 1900 Jan. 18.
* lAugi Cremona in Rom . 1886 Juli 15.
- Gasion Darboux in Paris 1897 Febr. 11.
- Riduxrd Dedekind in Braunschvveig 1880 März 11.
- Nils Christof er Duner in Upsala 1900 Febr. 22.
. Ernst Ehlers in Göttingen 1897 Jan. 21.
- Rudolf Fitiig in Strafsburg 1896 Oct. 29.
Walter fUmming in Kiel 1893 Juni 1.
- Max FOrbringer in Heidelbei^ 1900 Febr. 22.
- Albert Gaudry in Paris 1900 Febr. 8.
Sir Archibald Geikie in London 1889 Febr. 21.
Hr. Josiah Willard Gibbs in New Haven, Conn 1900 Febr. 22.
- Wokott Gibbs in Newport, R. 1 1885 Jan. 29.
Sir Damd GiU, Königl. Sternwarte am Cap der Guten Hoffnung. 1890 Juni 5.
Hr. Rnd Gordan in Eriangen .1900 Febr. 22.
- Ludwig von Graff in Graz 1900 Febr. 8.
- GotOeb Haberlandt in Graz 1899 Juni 8.
- Julius Hann in Wien 1889 Febr. 21.
- Victor Hensen in Kiel 1898 Febr. 24.
. Richard Hertwig in München 1898 April 28.
- WUfiehn His in Leipzig 1893 Juni 1.
Sir Joseph Dalton Hooker in Sunningdale 1854 Juni 1.
William Huggins in London 1895 Dec. 12.
Hr. Leo Koenigsberger in Heidelbei^ 1893 Mai 4.
- Michel Livy in Paris 1898 Juli 28.
- Franz von Leydig in Rothenburg o. d. T 1887 Jan. 20.
e*
1
XXXVl
Datum der Walil
^
^>m
Hr. Gabriel Lippmann in Paris 1900 Febr. 22.
- Rudolf LipsckUz in Bonn 1872 April 18.
- Moritz Loewy in Paris 1895 Dec. 12.
- Hubert Ludwig in Bonn 1898 Juli 14.
- Eleutkere Mascart in Paris 1895 Juli 18.
- Thnitrij Mendelejew in St. Petersburg 1900 Febr. 8.
- Franz Mertens m yfien 1900 Febr. 22.
- Henrik Mohn in Christiania 1900 Febr. 22.
- Alfred Gabriel NaChorst in Stockholm 1900 Febr. 8.
- Karl Neumann in Leipzig 1893 Mai 4.
- Georg von Neumager in Hambui^ 1896 Febr. 27.
- Simon Newcowb in Washington 1883 Juni 7.
- Mas Noet/ier in Erlangen 1896 Jan. 30.
. WU/uilm Pfeffer in Leipzig 1889 Dec. 19.
- Ernst Pßtzer in Heidelberg 1899 Jan. 19.
- Emüe Bcard in Paris 1898 Febr. 24.
- Henri Poincari in Paris 1896 Jan. 30.
- Georg Quincke in Heidelberg 1879 März 13.
. LuAvig Badlko/er in München 1900 Febr. 8.
- William Ramsag in London 1896 Oct. 29.
Lord Rayleigh in Witham, Essex 1896 Oct. 29.
Hr. Friedrich von Recklinghausen in Strafsburg 1885 Febr. 26.
- Gustaf Retzius in Stockholm 1893 Juni 1.
- Wilhelm Konrad Röntgen in München 1896 März 12.
- ' Heinridi Rosenbusch in Heidelberg 1887 Oct. 20.
- George Salmon in Dublin 1873 Juni 12.
- Georg Ossian Sars in Christiania 1898 Febr. 24.
- Giovanni Virginio Schiaparelli in Mailand 1879 Oct. 23.
- IViedrich Schmidt in St FeteTshnrg 1900 Febr. 8.
. Friedrich Sciiottkg in Berlin 1900 Febr. 22.
Hermann Graf zu Sohns -Laubach in Strafsburg 1899 Juni 8.
Hr. Johann Wilhelm Spengel in Giefsen 1900 Jan. 18.
- Eduard Strasburger in Bonn 1889 Dec. 19.
- Johannes Strüoer in Rom 1900 Febr. 8.
- Otto von Struve in Karlsruhe 1868 April 2.
- Julius Thomsen in Kopenhagen 1900 Febr. 8.
- August Toepler in Dresden 1879 März 13.
- Melchior Treub in Buitenzorg 1900 Febr. 8.
- Gustav Tscliermak in Wien 1881 März 3.
Sir WiUiam Turner in Edinburg 1898 März 10.
Hr. Woldemar Voigt in Göttiugen 1900 März 8.
XXXVII
Datum der Wahl
Hr. Karl von Voü in München 1898 Febr. 24.
- Johannes Diderik van der Waah in Amsterdam 1900 Febr. 22.
- Eftgenius Warming in Kopenhagen 1899 Jan. 19.
. Heinrich Weber in Strafsburg 1896 Jan. 30.
- August Weismann in Freiburg i. B 1897 März 11.
- Julius Wiesner in Wien 1899 Juni 8.
- Alexander WiUiam WUliamson in High Pitfold, Haslemere . . 1875 Nov. 18.
. Clemens Winkler in Dresden 1900 Febr. 8.
- Adolf WüUner in Aachen 1889 März 7.
. Ferdinand Zirkel in Leipzig 1887 Oct. 20.
- Karl Alfred von 2üUel in München 1895 Juni 13.
Philosophisch -historische C lasse.
Hr. WiUufhn Ahlwardi in Greifswald 1888 Febr. 2.
- Karl von Amira in München 1900 Jan. 18.
- Graziadio Isaia AscoU in Mailand 1887 März 10.
- Theodor Aufrecht in Bonn 1864 Febr. 11.
- Ernst Immanuel Bekker in Heidelberg 1897 Juli 29.
. Otto Benndorf in Wien 1893 Nov. 30.
- Friedrieh Bloss in HaUe a. kS 1900 Jan. 18.
Eugen Bormann in Wien 1902 Juli 24.
Ingram Bywater in Oxford 1887 Nov. 17.
- AfUonio Maria Ceriani in Mailand 1869 Nov. 4.
- Karl Adolf von Cornelius in München 1897 Oct. 28.
' Edward ByUs CoweU in Cambridge 1893 April 20.
. Heinrich Deni/le in Rom 1890 Dec. 18.
- Wilhelm Dittenberger in Halle a. 8 1882 Juni 15.
- Louis Duc/iesne in Rom 1893 Juli 20.
- Kuno Fischer in Heidelberg 1885 Jan. 29.
. Poid Foucart in Paris 1884 Juli 17.
- Ludwig Friedländer in Strafsburg 1900 Jan. 18.
Theodor Gomperz in Wien 1893 Oct. 19.
Francis Llewelh/n GriffUh in Ashton under Lyne 1900 Jan. 18.
- Gustav Gröber in Strafsburg 1900 Jan. 18.
- WUluslm von Hartel in Wien 1893 Oct. 19.
Georgios N. Hatzidakis in Athen 1900 Jan. 18.
- Albert HaitAck in Leipzig 1900 Jan. 18.
- Johan Ludvig Heiberg in Kopenhagen 1896 März 12.
Max Heime in Leipzig 1900 Jan. 18.
- Ridiard Heimel in Wien 1900 Jan. 18.
XXXVIII
Datum der Wahl
^>a
Hr. Afitaine Hiron de ViUefosse in Paris 1893 Febr. 2.
- Lion Heuzey in Paris 1900 Jan. 18.
- Hermann von Holst in Chicago 1889 Juli 25.
. ThiophUe HofnoUe in Athen 1887 Nov. 17.
- Vairoslav Jagii in Wien 1880 Dec. 16.
• WiUiam James in Cambridge, Mass 1900 Jan. 18.
- Karl Tlieodor von Inamü" Stemegg in Wien 1900 Jan. 18.
- Ferdinand Justi in Marburg 1898 Juli 14.
• Karl Justi in Bonn 1893 Nov. 30.
. Panagiotis Kabbadias in Athen 1887 Nov. 17.
- Frederic George Kenyon in London 1900 Jan. 18.
- Franz Kielhorn in Göttingen 1880 Dec. 16.
- Georg Friedridi Knapp in Strafsburg 1893 Dec. 14.
- BaM Latyscliew in St. Petersburg 1891 Juni 4.
« August Leskien in Leipzig 1900 Jan. 18.
- Emile Levasseur in Paris 1900 Jan. 18.
- Giacomo Lumbroso in Frascati 1874 Nov. 12.
- John PenOand Mahaffy in Dublin 1900 Jan. 18.
• Frederic William Maitland in Cambridge 1900 Jan. 18.
- Gaston Maspero in Paris 1897 Juli 15.
- Adolf Michaelis in Strafsburg 1888 Juni 21.
- Alexander Stuart Murray in London 1900 Jan. 18.
. Adolf Mussafia in Wien 1900 Jan. 18.
- Heinrich Nissen in Bonn 1900 Jan. 18.
- Julius Oppert in Paris 1862 März 13.
- Georges Perrot in Paris 1884 Juli 17.
- Wilhelm Radioff in St. Petersburg 1895 Jan. 10.
- Victor Baron Rosen in St. Petersburg 1900 Jan. 18.
- Richard Sdiroeder in Heidelberg 1900 Jan. 18.
- Emü Schürer in Göttingen 1893 Juli 20.
- Emile Senart in Paris 1900 Jan. 18.
- Eduard Sievers in Leipzig 1900 Jan. 18.
- Christoph von Sigwart in Tübingen 1885 Jan. 29.
. Albert Sorel in Paris 1900 Jan. 18.
- Friedrich von Spiegel in München 1862 März 13.
- Henry Sweet in Oxford 1901 Juni 6.
Sir Edward Maunde Thompson in London 1895 Mai 2.
Hr. Vilhdm Thomsen in Kopenhagen 1900 Jan. 18.
- Hermann Usener in Bonn 1891 Juni 4.
- Girolamo ViteUi in Florenz 1897 Juli 15.
- Kurt Wachsmuth in Leipzig 1891 Juni 4.
Datttin d«r Wahl
^^
Hr. Heinrich WeU in Paris 1896 März 12.
- Jidius WeU/iausen in Göttingen 1900 Jan. 18.
- Ltidoig Wimmer in Kopenhagen 1891 Juni 4.
. WUlielm Wundi in Leipzig 1900 Jan. 18.
Beamte der Akademie.
Bibliothekar und Archivar: Dr. Köhnke.
Wissenschaftliche Beamte: Dr. Dessau^ Prof. — Dr. Ristenpart. — Dr. Harms. —
Dr. Czesciüca Edler von Maehrenthal^ Prof. — Dr. von Fritze. — Dr. Karl Schmidt.
Gedächtnisrede auf Paul Scheffer- Boichorst
Von
H^ E. DÜMMLER.
OedOchtni/sreden. 1902. I.
Gehalten in der öffentlichen Sitzung am 3. Juli 1902
[Sitzungsberichte St. XXXIV. S. 799].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 9. Juli 1902.
Der 3. Juli, der Tag von Königgrätz, der einst alle preuTsischen Herzen
höher schlagen liefs, bildet einen passenden Hintergrund zu dem Gedächt-
niSs eines Mannes, zu dessen wärmsten Empfindungen die Vaterlandsliebe
gehörte, wie er denn seine ganze Kraft der Erforschung der vaterländischen
Geschichte gewidmet hat.
Paul Scheffer-Boichorst wurde am 25. Mai 1843 ^ Elberfeld als
Spröisling einer hochangesehenen, einst auch sehr begüterten, Münster-
schen Familie geboren. Durch den Bankerott des Vaters, Bernhard
Scheffer-Boichorst, der eine Knopffabrik besafs und nunmehr als Hand-
lungsreisender sein Brot sauer verdienen mufste, wurde das Familienleben
früh zerstört, zumal da die Mutter in jungen Jahren gestorben war. Eine
Tante, Frau Zumloh, des Vaters Schwester, nahm den Knaben zu sich;
später unterstützte ihn besonders ein Vetter des Vaters, Anton Scheffer-
Boichorst, ein wohlhabender Gutsbesitzer, und bestritt reichlich die
Kosten des Universitätsstudiums. Diese Verwandten lebten in dem Städt-
chen Warendorf an der Ems, das gegen 5000 Einwohner zählte. So
wurde ein Ort mit reizender, idyllisch ländlicher Umgebung, die den Natur-
sinn zu wecken wohl geeignet war, die wahre Heimat unseres Freundes.
Hier besuchte er seit 1853 das Gymnasium, schüchtern und kränklich,
nicht eben hervorragend in seinen Leistungen, doch befriedigend, mit Aus-
nahme der Mathematik und Physik, die seiner Geistesrichtung allzufern
lagen. Noch ahnte man den künftigen Historiker in ihm nicht, hielt den
Abgehenden vielmehr für einen Philologen. Auch zeichnete die gute
philologische Vorbildung seine Arbeiten später sehr vortheilhaft aus, wenn
er gleich gelegentlieh über die Buchstabenphilologen spottete.
Scheffer war in einem streng katholischen Kreise aufgewachsen —
die evangelische Mutter hatte er kaum gekannt — , doch schon als Abiturient
1*
4 £. Dümmler:
fing er an von diesem Glauben abzuweichen, und mit Schmerz erblickten
seine Verwandten in ihm einen Freigeist. Es war sein unbestechlicher
Wahrheitssinn, die stärkste Regung seiner Seele, die ihn früh mit der
überlieferten Kirche in Widerstreit brachte. Nicht als ob er damals oder
später nach einer anderen Seite, nach der evangelischen oder etwa altka-
tholischen geneigt hätte: der ersteren zumal stand er schroff ablehnend
gegenüber. Er begnügte sich mit seinem katholischen Taufschein und einer
pietätvollen Erinnerung an die Kirche seiner Jugend, anscheinend ohne ein
tieferes religiöses Bedürfiüfs zu fiihlen. Die Freiheit von allen Familien-
banden in seinem späteren Leben mochte ihn hierin bestärken, und dem
Forscher kam zu gute, was der Mensch entbehrte.
Seine Studien begann Scheffer im Herbst 1862 auf der Innsbrucker
Hochschule, wo Julius Ficker, nicht nur sein Landsmann aus dem Münster-
lande, sondern auch entfernt mit ihm verwandt, sein Leitstern wurde. Da-
neben der liebenswürdige und rastlose Stumpf-Brentano. Die Spuren
dieser Lehrer, zumal des ersteren, als eines imserer gröfsten rechtsgeschicht-
lichen Forscher, sind in Scheffer's ganzer weiterer Thätigkeit sichtbar,
wenn er auch nicht ihre kirchlichen und politischen Ansichten theilte.
Die Vorliebe fär die staufische Zeit geht auf F ick er zurück, der uner-
müdliche Spüreifer nach ungedruckten Urkunden, zumal in den späteren
Jahren, erinnert an Stumpf, und so ist der Schlufs gerechtfertigt, dafs
er, wie er denn eine durchaus klare und zielbewufste Natur war, die be-
stimmende Richtung für das Leben schon in jenen ersten Innsbrucker
Semestern erhalten hat. Jedenfalls übten die beiden folgenden Univer-
sitäten, die er alsdann noch besuchte, Göttingen und Berlin, einen viel
geringeren Einflufs auf ihn aus, der so früh fertig war. In dem gefeierten
Seminar von Waitz trat er wenig hervor und betrachtete sich nie eigentlich
als dessen Schüler. In Berlin hörte er (zugleich mit dem ihm befreundeten
Th. Lindner), wiewohl nicht sehr eifrig, Ranke, Köpke und Jaffe, und
knüpfte besonders mit dem Letzteren persönliche Beziehungen an.
Kurze Zeit nach Abschlufs seiner Studienjahre trat Scheffer 1866
mit seiner ersten gröfseren litterarischen Leistung hervor, die er seinem
Meister Ficker zueignete. Unter dem Titel »Friedrich's I. letzter Streit
mit der Kurie « behandelte sie die Beziehungen Rothbarts zu den Päpsten
nach dem Frieden von Venedig, mit welchem Abschlufs sonst wohl das
Interesse an diesem gewaltigen Drama zu erlöschen pflegt. Dieses Buch
Gedächtnifsrede auf Paaid Scheffer-Bokhorst. 5
zeugt von voller Beherrschung des Quellenstoffes, der mit durchaus selb-
ständiger Kritik geprüft wird und von ungewöhnlicher Reife der Auffiissung.
Die Beilagen beschäftigen sich mit einzelnen wichtigen Fragen, wie über
die Schenkung der gro&en Gräfin Mathilde an den Papst, auf welche er
später noch öfter zurückkam, und über das Spolien- und Regalienrecht
unserer Kaiser. Es ist bezeichnend für den jugendlichen Verfasser, dafe
er seine Forschungen gerade mit einem Kampfe gegen die Curie eröffnete,
und zwar vom ghibellinischen, deutsch • patriotischen Standpimkte aus, der
ihm vollkommen selbstverständlich erschien, denn, wie er später einmal
sagt , Jeder, der einen offenen Kopf und ein empfängliches Herz hat, mufste
durch tieferes Eindringen in die staufisehe Zeit in der ghibellinischen Auf-
fassung nur befestigt werden. Wie in allen seinen späteren Arbeiten , so ist
auch schon in dieser die Sprache mit Sorgfalt und Geschmack gehandhabt.
Als Lehmann ihm in der Rezension einer anderen Schrift einmal vorwarf,
dass sein Stil etwas Manierirtes habe und den Periodeubau vermeide, nahm
Scheffer sich zwar seine sachlichen Einwendungen wenig zu Herzen, wohl
aber diesen Tadel seines Stils, den er verbessern zu wollen erklärte. War
er doch ein grofser Verehrer Groethe's und auch Verse entströmten bis-
weilen seiner Feder. Gleichsam als eine Ergänzung jenes Buches erschien im
8. Bande der Forschungen zur deutschen Geschichte (1868) die schon auf
der Universität begonnene, ursprünglich zur Dissertation bestimmte Arbeit
» Deutschland und Philipp II. August von Frankreich in den Jahren 1 1 80
bis 1224«, nicht minder von dem patriotischen Gesichtspunkte beherrscht.
Dafs der noch ganz unbekannte Verfasser für sein erstes Buch einen
angesehenen Verleger fand, hatte er der Empfehlung Ficker's, der ihm
eine bei Anfängern ungewöhnliche Gründlichkeit und Sauberkeit der Arbeit
nachrühmte, zu verdanken. Durch ihn kam er zu dem in seinen Studien
ihm nahestehenden Dr. Töche-Mittler, bald seinem Freunde. Doch noch
auf andere Weise sorgte Ficker als väterlicher Freund für ihn und bethä-
tigte ihm sein Vertrauen gerade in dem Augenblick, als jener Onkel ge-
nöthigt war, ihm seine Unterstützung zu entziehen und er sich deshalb zum
Oberlehrerexamen entschlossen hatte. Ficker bot ihm aus dem von ihm ver-
walteten Nachlasse Böhm er 's die neue Bearbeitung der Kaiserregesten von
Lothar bis auf Heinrich VI. (11 25 — 1197) an, die, indem sie nach einem er-
weiterten Plane mit den Auszügen aus den Urkunden Nachrichten aus den
Chroniken verbanden , ein vollständiges Gerippe der Geschichte dieser Zeit
a E. Dümmler:
geben sollten. Inzwischen fehlte unserem Freunde doch noch die för sein
weiteres Fortkommen unerläisliche Doctorwürde. Aufgemuntert von Georg
Voigt, der sein Buch als ein musterhaftes bezeichnete, meldete er sieh
in Leipzig auf Grund desselben statt einer Dissertation zur Prüfung und
wurde nach befriedigendem, aber nicht glänzendem Examen am i. Juni 1867
ohne alle Förmlichkeit promovirt.
Betraut mit den Regesten, die ihm ein mäfsiges, far seine geringen
materiellen, Bedürfnisse ausreichendes Jahresgehalt (von 400 Thalem) ein-
trugen, siedelte Scheffer nunmehr auf Ficker's Wunsch nach München
über mit der unausgeföhrt gebliebenen Absicht, sich dort nebenher zu
habilitiren, denn mit Freuden liefs er den Gedanken an die Schulmeisterei,
auf die er schon angefangen hatte sich vorzubereiten, als eine traurige
Noth wendigkeit fiihren. Nach einer harten Jugend, tausend Sorgen und
Nöthen, umgab ihn jetzt zum ersten Male ein gewisses Behagen des Da-
seins. Er fand, dafe er bisher zu sehr zur Kopf hängerei geneigt, zu viel
Ernst in's Leben hineingetragen habe: München erschien ihm ganz als der
Ort zu einem angenehmen und thätigen Leben mit nicht Übeln Leuten. Von
den dortigen Gelehrten trat ihm besonders auch Wilhelm Giesebrecht
näher, dessen liebenswürdiges Entgegenkommen er dankbar empfand, ohne
sich an seinen kleinen Schwächen zu stofeen.
Die trockenen, etwas einförmigen Regesten aber, denen er die Hälfte
seiner Arbeitszeit widmen sollte , vermochten sein wissenschaftliches Interesse
bei Weitem nicht auszufüllen. Er liebte es, Abstecher zu machen und seinem,
wie er ihn selbst nennt, unseligen Hange folgend, bald hier bald dort
herum zu bummeln. Gerade das Vorbild Giesebrecht's, der einst durch
seine gelungene Herstellung der verlorenen Altaicher Annalen grofsen Ruhm
geerntet, bewog ihn. Ähnliches für seine, an älteren geschichtlichen Über-
lieferungen arme, westfillische Heimat zu versuchen, denn er hielt far noth-
wendig, dafe die mittelalterliche Quellenforschung sich nicht mehr damit
begnüge, das Vorhandene an sich zu prüfen, vielmehr müsse sie sich be-
mühen, durch das Vorhandene zum Verlorenen zu gelangen, um dieses
nach Umfang und Werth zu bestimmen. So entstand sein glänzender Ver-
such einer Herstellung der Paderborner Annalen von 794 — 11 90 mit aus-
fuhrlicher Begründung und Mittheilung des Textes , soweit er sich aus den
Ableitungen gewinnen läfet. Gegenstand mancher Angriffe, auch von Waitz,
und in einzelnen Punkten nochmals gegen dieselben vertheidigt und ergänzt.
Gedächtnißrede auf Paul ScAeffer-Boichorst 7
hat dieser kühne Wurf, der mit dem grö&ten Scharfsinn durchgeführt war,
sich im Wesentlichen vollständig behauptet und die Erkenn tnifs der Reich s-
wie der westfälischen Geschichte in hohem Mafse gefördert. Dafs diese
streng gelehrte Arbeit (im Jahre 1870) gedruckt werden konnte, war aber-
mals das Verdienst Ficker 's, der aus dem Nachlais Böhmer's die Mittel
dazu gewährte.
Noch bevor die Paderborner Annalen vom Stapel gelassen waren,
wendete Scheffer sich einem völlig anderen Gebiete zu, das für ihn be-
sonders folgenreich werden sollte, der Geschichte von Florenz. Kurz vor-
her, im Jahre 1868, hatte ein Berliner Gelehrter, Wilhelm Bernhard!,
durch eine scharfsinnige Untersuchung Aufsehen erregt, welche den bald
allgemein anerkannten Beweis führte, dafs der angeblich älteste Geschicht-
schreiber in italienischer Sprache, der vermeintliche Zeitgenosse Manfred's
und Konradin's, Matteo di Giovenazzo, eine moderne Fälschung sei, ob-
gleich seine sogenannten Diumali leider sogar in die Monumenta Germaniae
Aufnahme gefunden hatten. Diesem Beispiele folgte Scheffer und zeigte
in ebenso unbestreitbarer Weise , dafs die florentinischen Geschichtschreiber
Ricordano und sein Neffe Giacotto Malespini, weit davon entfernt Quellen
des Giovanni Villani gewesen zu sein, wofür sie sich ausgaben, diesen
vielmehr nur ausgeschrieben hatten und im Interesse gewisser florentiniseher
Familien, namentlich der Bonaguisi, gefälscht seien. Auch hier wie bei
Bernhard! 's Abhandlung verstummte rasch der anfängliche Widerspruch,
selbst auf italienischer Seite, und nur einzelne Ergänzungen folgten nach.
Die zu grofse Fülle geistiger Anstrengung vielleicht warf Scheffer nach
diesen zum Theil mit Dampfkraft betriebenen Arbeiten aufs Krankenlager,
und gerade während des Krieges im Herbste 1870 machte er in der Heimat
ein so schweres Nervenfieber durch , dafs er schon völlig aufgegeben war.
In seiner Jugend war er von schwankender Gesundheit, so dafs die Ärzte
ihm ein frühes Ende prophezeiten, und schon als Student auf den Gebrauch
nur Eines Auges angewiesen. Als ein spindeldürres Männchen von schlotte-
riger Haltung, so schildert er sich damals selbst. Kaum wiedergenesen
von jener langwierigen Ejrankheit, veröffentlichte er Untersuchungen über
Nienburger und Halberstädter Annalen, die mit Paderborn zusammenhingen,
namentlich aber auch über die Pisaner Annalistik bis in's 14. Jahrhundert,
da er aus lauter Bummellust, wie er sich ausdrückte, eines Tages unter
die Afrikaner gegangen war.
8 E. Düvmler:
Veranlafet durch seinen Freund Laub mann kehrte Scheffer zunächst
wieder nach Westfalen zurück: mit der von Jenem besorgten Ausgabe eines
lateinischen Gedichtes, in welchem der Schulmeister Justinus den Herrn
Bernhard zur Lippe (1140 — 1224) verherrlichte, sollte eine Darstellung
seines Lebens nach den sehr lückenhaften Quellen verbunden werden. Es
war ein Mann von sehr wechselnden Schicksalen, dem hier ein Denkmal
gesetzt wurde: zuerst als Krieger und Ritter begründete er eine grofse Fa-
milie, um sodann Mönch, endlich sogar Bischof im fernen Liefland zu wer-
den, wohin sein Thatendrang ihn mit den Ejreuz&hrem geföhrt hatte. Wenn
Scheffer mit Bezug auf ihn sagt, dais die Söhne der rothen Erde rauhe
Männer waren , die sich auf Manches verstehen mochten , nur nicht auf Frie-
den, so trifft das Letztere wenigstens einigermafsen auf ihn, den echten
Westfäilen, zu, da er stets eine streitlustige Feder ftlhrte, seine Ansichten
gern im Gegensatz zu denen Anderer entwickelte. Auf die heimatliche Ge-
schichte ist er später, um dies hier vorweg zu nehmen, nur einmal noch zu-
rückgekommen, indem er das Leben des Bischofs Benno von Osnabrück aus
der Zeit Heinrich's IV. gegen Philippi's Angriff als im Wesentlichen echt
und zuverlässig in Schutz nahm. Hier gerade ging er in der Vertheidigung
etwas zu weit und bestätigte durch sein eigenes Beispiel die Richtigkeit
des von ihm ausgesprochenen Satzes, daiä es immer viel leichter sei, die
Unechtheit eines Aktenstückes darzuthun, als zwingende Beweise für die
Echtheit zu erbringen.
Inzwischen hatte sein Schicksal eine neue Wendimg genommen. In
den behaglichen Münchener Aufenthalt fiel im November des Jahres 1871
die durch Wilhelm Arndt übermittelte Aufforderung von Pertz, als Mit-
arbeiter in den Dienst der Monumenta Germaniae zu treten. Die Entscheidung
blieb nicht lange zweifelhaft, und da auch Ficker zustimmte, trat Scheffer
zu Neujahr 1872 in das neue Verhältnifs ein, die 600 Thaler Gehalt, erst
später auf 1000 gesteigert, aber doch ungenügend befunden, brachten ihm
eine kleine Verbesserung, ungleich wichtiger und grofsartiger erschien
ihm die Thätigkeit an den Monumenten, als seine bisherige; Berlin als
eine Stätte ernster Arbeit — »der Eine spornt den Andern«, so schildert
er es selbst — lockte im Gegensatze zu dem etwas läfslicheren München.
So ging er in den neuen Lohndienst über, die Menschen von ganzem
Herzen beneidend, denen die Wissenschaft keine milchgebende Kuh zu
sein brauchte.
Gedächtnifsrede auf Paul Scheffer-Boichorst. 9
Während sich Scheffer in Berlin zu Arndt niemals recht hingezogen
fühlte, verband ihn dagegen bald innige Freundschaft mit dem anderen Mit*
arbeiter, Ludwig Weiland. Der Zufall fügte es, dals seine Thätigkeit
dem letzten Bande, den Pertz selbst noch 1874 herausgab, dem 23. der
Scriptores, gelten sollte und dafs er mit der höchst umfangreichen, aus zaJil-
reichen Quellen zusammengesetzten, niederländisch-französischen Weltchronik
des Albrich von Trois-Fontaines (bis 1 241) — sie füllte über 300 Folioseiten —
gerade den Beschluß dieses Bandes bildete. Mit Befriedigung blickte er auf
diese mühsame Arbeit zurück, und in der in Rödelheim, dem Landsitze
Stumpfs, am i. August 1873 geschriebenen Vorrede erkannte er mit warmen
Worten die hohen Verdienste an, die sich Pertz um die Quellenforschung
erworben. In Wirklichkeit freilich erschien er ihm als eine Mumie , die bald
zusammenfallen muiste , und die Monumentisten als eine in Anarchie lebende
hirtenlose Schaar. Schon bereitete sich die neue Ordnung der Dinge vor, die
durch die Berliner Akademie undWaitz begründet wxu-de. In diese aber ging
von den letzten drei Mitarbeitern der alten Zeit für kurze Frist nur Weiland
noch über. Arndt zog sich zurück, und Scheffer folgte Ostern 1875 einem
Rufe nach Giefeen, der ihm wie eine Erlösung kam, obgleich er nur aufser-
ordentlicher Professor mit bescheidenem Gehalte wurde ; aber er war ja auch
niemals Privatdocent gewesen. Zur Mitwirkung an den Moniunenten ist
Scheffer weder damals zurückgekehrt, obgleich Waitz mit ihm ernstlich
über eine Ausgabe der italienischen Chroniken des 13. Jahrhunderts ver-
handelte, mit denen er innig vertraut war, noch auch später, als die Central-
direction in Berlin ihn 1891 zu ihrem Mitgliede gewählt hatte. Wir können
ihm aber nicht zustimmen, wenn er gelegentlich das Textemachen fiir eine
wissenschaftliche Handlangerei erklärte.
Der Berliner Aufenthalt hatte indessen nicht blofs der Chronik Albrich's
gegolten , auch nicht so sehr den Kaiserregesten , welche damals geruht zu
haben scheinen , sondern vor Allem der Fortsetzung der so verheilsungsvoll
eröffneten »Florentiner Studien« (Leipzig 1874), obgleich ihnen nur die Mufse-
stunden gewidmet wurden. Die Monumente selbst führten ihn zu einer Unter-
suchung über eine verlorene Urgeschichte von Florenz , Gesta Florentinorum,
deren Spuren bei späteren Benutzem hervortreten. Auf dem mit den Malespini
betretenen Wege fortschreitend, gelangte er sodann zu einem höchst über-
raschenden Ergebnifs. Wie ihn nämlich die Beobachtung, dafs diese von
Villani abhängen, nicht umgekehrt, zur Entdeckung ihrer Unechtheit ge-
GedäcMmfsreden, 1902, L 2
10 E. Dümmler:
fährt hatte, so glaubte er, eine ähnliche Beobachtung, nämlich Benutzung
Villani's, bei Dino Compagni, dem Zeitgenossen Dante's, den man wohl
den Florentiner Thukydides oder Sallust genannt hat, anstellen zu können.
Er entdeckte in dieser nach Sprache und Darstellung för wahrhaft classisch
gehaltenen Zeitgeschichte so viele Fehler, Unkenntnifs und Auslassungen
bei Ereignissen, an denen der Verfasser als hochstehender Staatsmann
selbst mitgewirkt hatte oder die er als Zeitgenosse genau kennen mufste,
dafs er sich berechtigt glaubte , ihn als Fälschung mit Malespini auf Eine
Stufe zu stellen. Er äufserte die kühne Zuversicht, daCs Dino's Name
aus der historischen Litteratur gestrichen, dais sein Werk zum Kehricht
geworfen werden müsse. Während einige italienische Gelehrte auf seine
Seite traten, zürnten andere begreiflicherweise dem kecken Ausländer,
der gleichsam einen Nationalheiligen zu erniedrigen strebte. In Deutsch-
land überwog zunächst die Zustimmung. Einen vermittelnden Rettungs-
versuch Hegel's (1875), obwohl er im Einzelnen manches Gute bot, er-
achtete Scheffer keiner ernsten Widerlegung werth, er liefs ihn im All-
gemeinen kalt. Derselbe wurde bald in den Schatten gestellt durch das
gewaltige Aufgebot von Material, welches Isidoro del Lungo 1879 bis
1880 zur Rettung Dino's in einem dreibändigen Commentare zu Tage
förderte. Nach einigen weiteren Erörterungen gelang es ihm, Scheffer
endlich das Greständnifs abzunOthigen, dafs ein in seinem Kerne echtes,
allerdings von unberufenen Händen überarbeitetes Werk Dino's unter
seinem Namen auf uns gelangt sei. Sein Irrthum aber, den er so mit
der ihm eigenen Ehrlichkeit vollkommen zugestand, hatte sich zu seinem
Tröste in hohem Grade förderlich ftlr die historische Erkenntnifs er-
wiesen, indem er zu einem sehr vertieften Studium der Zeiten Dante's
hinführte.
Wie die Beschäftigung mit der Geschichte von Florenz mit der Lieb-
haberei für Dante zusammenhing, so brachte sie als nachreifende Frucht
noch ein Buch hervor, das unter dem Titel »Aus Dante's Verbanmmg«
(Strasburg 1882) in anmuthig erzählender Form eine Reihe von mehr
positiven Aufsätzen über diesen grofsen Dichter zusammenfafste : seine
Familienverhältnisse, sein Aufenthalt in Ravenna, die Abfassungszeit der
Schrift über die Monarchie, die Echtheit seiner Briefe an Cangrande von
Verona und an Guido von Polenta, Kritik von Boceaccio's Dantebiographie
werden hier eingehend erörtert, ohne doch für diese vielfach streitigen
Gedächtnifsrede auf Paul Scheffer-Boicharst 11
Fragen» welche in auffallend consenratirem Sinne behandelt werden, die
Zustimmung der Danteforscher durchweg zu erringen.
Bevor wir unsem Freund auf seinem Lebenswege weiter begleiten,
muls jedoch hier hervorgehoben werden» dals namentlich seit dem Mün-
chener Aufenthalte neben seinen eigenen Arbeiten eine Reihe von Rezen-
sionen einherläuft, die durchaus zu den eigenthümlichen und werthvoUen
Blüthen seines Geistes gehören. Indem er nicht leicht die Grenzen des
ihm genauer vertrauten Gebietes überschritt, rezensirte er innerhalb des-»
selben gern und scharf und mit genauester Sachkenntnüs , niemals boshaft,
doch oft sehr witzig. Durch einzelne selbstftndige AusfiUirungen belehrte
er stets — ich erinnere an seine Besprechungen von Schum, Winkel-
mann, Dove, Enöpfler, Hug — ; doch erntete er mit dieser Bemühung
selten Dank. Bei diesem Anlais berief er sich wohl in beherzigenswerther
Weise »auf den berechtigten Anspruch des Kritikers, dals man ihm sein
Lob auf's Wort glauben solle, wenn er den Tadel begründet hat, denn
es sei das Recht der Kritik, das Lob im Allgemeinen auszusprechen, den
Tadel müsse sie im Einzelnen begründen«.
Nachdem die akademische Wirksamkeit in dem kleinen GieCsen gerade
nur ein Jahr gedauert hatte, folgte ihr ein viel glänzenderer Wirkungs-
kreis an der verjüngten Strafsburger Universität, woselbst durch Weiz-
säcker's Fortgang nach Göttingen das Mittelalter frei geworden war. Dals
die Lehrthätigkeit Scheffer's auf dieses sich beschränken durfte, weil
die neuere Geschichte in Baumgarten's bewährten Händen lag, entsprach
ebenso sehr seiner Neigung wie dem vorwaltenden Bedürfiiife. Diesen
Rahmen aber suchte er möglichst vollständig auszuftUlen, und so las er
als grö&ere vierstündige Vorlesungen die politische und die Verfassungs-
geschichte der germanischen und romanischen Völker im Mittelalter, die
deutsche Geschichte von ihren Anföngen bis zur Reformation, geschieden
durch das Interregnum, Geschichte der deutschen Cultur im Mittelalter und
endlich noch als kleinere Vorlesung Verfall der Hierarchie und Anfänge
der modernen Staaten. Unter der Culturgeschichte verstand er die Ge-
schichte der geistigen und moralischen Ent Wickelung, nicht, im modernen
Sinne , die durch das Wirthschaftsleben bedingte seelenlose materielle Cultur.
Diese blieb bei ihm ganz im Hintergrunde, wie er auch gegen Lamp-
recht's deutsche Geschichte sich durchaus ablehnend verhielt. Seine
Culturstudien hat er übrigens litterarisch nicht verwerthet mit Aus-
2*
12 E. Dümmler:
nähme des Einen filr die Handelsgeschichte wichtigen Aufsatzes Über die
Syrer im Abendlande (1885), der die merkwürdige der der Juden verwandte
Rolle beleuchtet, die dies Volk im früheren Mittelalter gespielt hat.
In Strafsburg zuerst, dann seit 1890 abermals als Weizsäcker's (gest.
1889) Nachfolger in Berlin, wo der gleiche Kreis der Vorlesungen fest-
gehalten wurde, entwickelte Scheffer eine neue, sehr hervorragende
Seite seines Wesens, eine ungemeine Lehrgabe. Waren seine Vorlesungen
durchweg sehr sorgfaltig ausgearbeitet, streng gegliedert und äuDserst be-
lehrend, wenn auch ohne rednerischen Schwung vorgetragen und ohne
Phrasen, die er halste, so bildeten doch unzweifelhaft die Übungen oder
das Seminar den bei Weitem wichtigeren Theil seines Wirkens. Auf dieses
wandte er seine ganze geistige Kraft, hier gab er sein Bestes, indem er
mit seinen Zuhörern gemeinsam arbeitete, nicht nur als ihr Lehrer, sondern
gleichsam als ihr Erzieher. Er las in der Regel keine zusammenhängenden
Quellen, wie er es vielleicht in Giefsen versucht hatte, auch behandelte
er seltener einheitliche Themata, wie etwa die Papstwahlen des Mittelalters,
die Entwickelung des Kurfurstenthums , die deutsch - französischen Beziehun-
gen im 13. Jahrhundert, vielmehr liebte er es, streitige, wo möglich im
Augenblicke viel umstrittene Fragen vorzunehmen, die etwa höchstens je drei
Sitzungen in Anspruch nahmen, um dann durch andere abgelöst zu werden.
Die Mehrzahl der ausgezeichneten Abhandlungen, die von ihm seit
1876 veröffentlicht wurden — ein Recensent nennt sie nicht übel edle
Steine in köstlicher Fassung, er selbst nannte sie »Abf&Ue aus den Semi-
narübungen«, — sind von ihm zuerst im Seminare behandelt worden, und
hier wurden alle Seiten der historischen Aufgabe durchgenommen und mit
dramatischer Lebendigkeit erörtert, die dabei in Frage kommen konnten,
wie Echtheit oder Unechtheit, Abfassungszeit, Entstehungsort, Autor,
Quellenverhältnisse , Glaubwürdigkeit u. s. w. Mit Vorliebe und stets mit
eigenthümlicher Auffassung kehrte Scheffer immer wieder zu dem Gegen-
satze zurück, dem sein erstes Buch gegolten hatte, dem Gegensatze von
Staat und Kirche. Dahin gehören seine Untersuchungen über die Schen-
kung Constantin's und ihren Zweck, über die Schenkungsversprechungen
Pippin's und Karl's des Grofsen an den Papst, über das Wahldecret des
Papstes Nicolaus II. und seine Verfillschung, über die pragmatische Sanc-
tion Ludwig's des Heiligen, nicht ohne Bedauern, dafs er durch Nachweis
ihrer Unechtheit dem von ihm hochgescliätzten Gallieanismus diese Stütze
Gedächtnißrede auf Paul Scheffer-Boichorst. Vi
entziehen mufste. Diesem Kreise verwandt sind femer die Arbeiten über
die vermeintliche Schenkung Sachsens an den Papst und die Zinspflicht
Galliens an denselben, über die beabsichtigte Übertragung Irlands an Eng-
land durch Hadrian IV., über die Frage, ob Gregor Vn. Mönch gewesen
u. s. w. Unzweifelhaft berühren gerade Fragen dieser Art das Interesse
der Gegenwart am stärksten, weil es sich hier keineswegs um abgethane
Dinge handelt, sondern um mittelalterliche Ansprüche, die noch unmittel-
bar fortwirken. Wie unklug wäre es daher, wollten wir, das Studium des
Mittelalters vemachlftssigend , es denen allein überlassen, die es vornehm-
lich als eine Rüstkanuner unverjährbarer klerikaler Rechte betrachten.
Nach vielen Unterbrechungen tauchten inzwischen stets wieder die
Regesten auf, die wie eine alte Schuld auf Sehe ff er drückten, da er
sie ja niemals ganz vollendet, aber auch nie ganz aufgegeben hatte, ob-
gleich sein Herz ihnen nicht mehr gehörte. Schon 1881, sodann 1887
glaubte er den Druck des ersten Heftes (d. h. Lothar 's) demnächst beginnen
zu können, aber er begann ihn nicht, zog vielmehr einige Jahre später
noch eine Hülfskrait heran, um endlich zum Abschlufs zu gelangen. Auf seine
Beschäftigungen aber übte jene imgelöste Aufgabe insofern einen starken
Einflufs, als sie ihn veranlafste, zur Vervollständigung des Materials auf
die Jagd nach ungedruckten staufischen Urkunden zu gehen, wobei er sich
freilieh keineswegs auf das 12. Jahrhundert beschränkte, denn f&r die Neu-
bearbeitung nur aus Büchern zu schöpfen, hatte er als einen der Unter-
suchung sehr schädlichen Mangel empfunden. Die entlegensten Werke der
überaus fruchtbaren italienischen Localforschung, von denen sich kaum ein
Exemplar nach Deutschland verirrt hatte, stöberte er durch und verfolgte
diese Spuren in den zahllosen italienischen Archiven, denn er hegte früh
die bei den Deutschen so häufige Vorliebe für Italien, der er später auf
seinen alljährlich unternommenen Reisen über die Alpen nachleben konnte.
Diese Funde liefei-ten alsdann zu den fruchtbarsten Untersuchungen Stoff, die
wieder vor Allem dem Seminare zu Statten kamen.
Wenn Scheffer einmal bemerkt, dafs er »kein Diplomatiker« sei,
»weder von Erziehung noch durch Neigung« und sich ein andermal von
den »Diplomatikern strengster Observanz« unterscheidet, so wollte er damit
vor Allem andeuten, dafs er die Sickel'sche Schule mit ihrem Studium
vorzugsweise der äufseren Merkmale nicht durchgemacht habe, wenn er
sie auch wohl zu würdigen wufste. Die Hauptsache war ihm der rechts-
14 E. Dükmler:
geschichtliche Inhalt, auf Ghnind der inneren Merkmale traute er sich auch
meist ein Urtheil über die Echtheit zu, denn, so meinte er, in der Diplo*
matik gilt erst recht nicht die Unfehlbarkeit des Einzelnen. Ein TheU
dieser Arbeiten wurde in dem Buche »Zur. Geschichte des 12. und 13. Jahr-
hunderts« zusammengefaßt, das er 1897 der Universität Stralsburg zur
2 5 jährigen Feier ihrer Wiedergeburt widmete. Zu mancherlei höchst scharf-
sinnigen Forschungen gaben diese Urkundenfunde Anlaß , über Fälschungen,
wie sie besonders auch in Italien häufig waren, und ihre Beweggründe.
Sehr wichtig war die Darlegung, dais Friedrich 11. als König von Sicilien
bei seinem Regierungsantritt eine allgemeine Bestätigung aller Privilegien
seines Reiches gefordert habe, femer der Nachweis des Reichenauer Ursprungs
der gefischten Constitution Karl's des Grofsen über die Heerfahrt nach
Italien u. s.w. Dals Scheffer in seinem Seminare, das nicht auf Anftmger
berechnet war, eine Reihe vortrefflicher Schüler ausbildet«, von denen
einige bereits Lehrstühle an den Universitäten rühmlich inne haben, wird
man hiemach verstehen. Der propädeutische Werth, der vor Allem das
Mittelalter zur Einfuhrung in das Quellenstudium haben kann, gelangte
durch ihn, wie früher durch Waitz, zur vollen Geltung. Obgleich er mit
Recht hohe Ansprüche stellte, war der Andrang ein groiser, in Berlin zum
Nachtheil der Sache nur allzu grolser. Minder lobenswerth muls ich es
nennen, dafe er in Stralsburg die Sitte einführte, Dissertationen von dem
Umfange eines Buches zu fordern und zu fördern. Er spottete wohl gelegent-
lich über die Dissertatiönchen und entwarf ein scherzhaftes Recept, wie
dieselben zu Stande zu bringen seien; allein jene von ihm begünstigte
Gewohnheit hat den groisen Nachtheil, daCs das Promoviren dadurch leicht
zu einem Privilegium der Wohlhabenden wird, denn Ärmere können weder
ihrer Gesammtausbildung die Zeit entziehen, die zur Herstellung eines
Buches gehört, noch ein solches auf ihre Kosten drucken lassen.
Scheffer selbst aber schrieb keine dicken Bücher, höchstens veran-
staltete er Sammlungen einzelner Aufsätze. An diesen, die, stets auf das
sorgfaltigste gefeilt in streng logischem Aufbau , bisweilen geradezu spannend
und fesselnd wirken, bethätigte er sein Talent und seine Liebe för die
sprachliche Form, Darstellungen in weiterem Umfange dagegen versuchte
er nicht, theils weil er schon früh erkannt hatte, dafs er für die alleinige
Kritik weit mehr Geschick besitze als Ar die Darstellung, theils aber hegte
sein kritischer Sinn auch ein gewisses Miistrauen dagegen, denn es scheint
Gedächtnißrede auf Paul Schefer-Boichorst 15
mir, so sagt er einmal, wichtiger zu sein, sich der Unkenntnis über be-
deutende Ereignisse oder Zusammenhänge recht bewufist zu werden, als
nur die zufällige Überlieferung vorzutragen, diese daför dann in ihrem
ganzen Umfange und mit behaglicher Breite. Ich weifs nicht, ob er mit
diesen Worten auf Gieseb recht etwa anspielt, jedenfalls drücken sie
deutlich den inneren Gegensatz der Anlagen aus, welche erst vereint den
wahren Historiker ausmachen.
Scheffer's ehrliche und feste, echt westfälische Art gewann ihm
überall, wo er wirkte, das gröfste Zutrauen. Zu seiner kritischen Anlage
gehörte ein gewisser sarkastischer Humor, den er nicht selten auch gegen
sich selbst kehrte. So rühmte er einst in seiner Vorlesung über Cultur-
geschichte das Buch von Fick über die ehemalige Spracheinheit der Indo-
germanen Europas; er findet, dafs derselbe ihnen die geheimsten Gedanken
und Gefühle abgelauscht habe und fährt fort: »Es ist so, als ob der Ver-
fasser, ein alter Indogermane — nebenbei bemerkt: ein etwas sentimental
angehauchter — , vor vielen locxxx) Jahren in einen tiefen Schlaf ver-
sunken imd nun als Professor der vergleichenden Sprachwissenschaften in
Göttingen daraus erwacht wäre«. An einem anderen Orte spricht er da-
von, dafs man in der Urzeit ein heute sehr beliebtes Zugthier, den Esel,
noch nicht gezähmt habe. »Er ist,« so meint er, »erst viel später in dcis
Culturleben hineingezogen, — vielleicht ein Grund, dafs er noch heute
in der Bildung so weit zurück ist,« wie denn auch Homer des Esels nur
an einer Stelle gedenke. Von seiner 40 Seiten langen Vorrede zum Albrieh
bemerkt er im Scherze, sie sei in einem Latein von so edler Urbanität
verfafst, dafs Cicero's Sprache daneben nur noch als Bauemlatein gelten
könne.
Scheffer ging einsam durch das Leben und wiu-de deshalb allmählich
etwas Sonderling. Er wollte nur der Wissenschaft leben und hielt sich trotz
seiner warmen patriotischen Empfindung von der Tagespolitik fem. Nach
einer durch widrige Familienverhältnisse getrübten Jugend — sogar von
der einzigen Schwester blieb er stets getrennt — hatte er lange zu ringen,
bevor er endlich als ein Dreifsiger zu Strafsburg in eine äufserlich sorgen-
freie Lage kam. Für geselligen Umgang war er durchaus empfänglich,
auch mit Frauen, deren mütterliche Fürsorge er oft dankbar empfand,
wissenschaftliche Interessen füllten ihn niemals allein aus und auf seinen
Reisen z.B. verkehrte er lieber mit anderen Menschen als mit Zunftgelehrten,
16 E. DOmmler:
dennoch blieb er Junggeselle und er gehörte ako wohl offenbar, wie einst
nach Goethe's Zeugnifs sein Vorgänger Schöpflin in Straisburg, zu den
nicht frauenhaft Gesinnten. Wenn er selbst einmal darüber scherzend in
einem Briefe ausspricht, dafs er seit der Obersecunda alle Liebesfähigkeit
verloren und wohl einen leidlichen Verstand, aber gar kein Herz habe,
so werden wir dies freilich in keiner Weise unterschreiben dürfen. Sein
Herz besassen neben einzelnen Freunden vor Allem seine Schüler, mit
denen er auch aufserhalb des Seminars, in der Kneipe wie auf Spazier-
gängen und Ausflügen , einen traulichen Verkehr pflog. Sie , unter denen
er wohl noch seine besonderen Lieblinge hatte, waren hier wie in Stralsburg
seine Familie, der er als väterlicher Freund mit Rath und That zu helfen
bereit gegenüberstand, ihnen zeigte er sein liebebedürftiges Gemüth. Aber
die Treue, die er gab, fand er auch bei ihnen: an jedem Weihnachtsfeste
wiu-de ihm von unbekannter Hand ein Christbaum gestiftet; sein letztes,
ziemlich langwieriges Krankenlager umgaben die Schüler mit der zartesten
Sorge und Pflege. Dem Tode schon länger durch ein unheilbares Leber-
leiden geweiht, dem wiederholtes Bjränkeln vorausgegangen war, lebte er
dessen unbewufet noch mit dem Geiste ganz in seinen Arbeiten , bis ihn am
17. Januar ein sanftes Ende erlöste. »Kein Geistlicher hat ihn begleitet«,
konnte es von seinem Begräbnils wie einst von dem Werther's heifsen, aber
die Wissenschaft hat reiche Kränze an seinem Sarge niedergelegt.
Gedächtnifsrede auf Karl Weinhold.
Von
H* ERICH SCHMIDT.
Gedächtni/sreden. 1902. IL
Gehalten in der ofTentlichen Sitzung am 3. Juli 1902
[Sitzungsberichte St. XXXIV. S. 799].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 17. Juli 1902.
Xleute vor einundfänfzig Jahren hat hier Jacob Grimm seine berühmte
Rede auf Karl Lachmann gehalten und die Art des zum Herausgeber ge-
bomen Freundes mit seiner eigenen vergleichend beide Hemisphären der
Philologie , die formale imd die reale , die doch kein rechter IHiilolog trennen
mag, umschrieben. Aus dieser Heroenzeit der deutschen Alterthumskunde ragte
der verehrungs würdige Mann, der damals bereits an der vierten Hochschule
lehrte und dem jetzt zwischen zwei soviel jünger abberufenen Akademikern
ein Valet erschallen soll, in unsre Gegenwart. Schon der Gedanke daran,
dafs ihm Lachmann persönlich in der Vollkraft den Sinn geschärft, dafs
ihm Jacob Grimm, sein mit nie geschwächter Pietät gepriesener Meister,
weite Bahnen erschlossen und langhin freundschaftlichen Zuruf gespendet
hatte, hob Karl Weinhold vor den Nachfahren empor. Die reiche Ge-
lehrsamkeit, die so extensive wie intensive Arbeit diu-ch zwei Menschen-
alter, die Wahrung einer fast die gesammte deutsche Philologie umfassenden
Totalität von dem groJ&en Erblasser her in die Diadochenzeit hinein, das
tiefe vaterländisch -religiöse Wesen seiner ganzen Studien, die wirksame
Energie endlich , mit der er seiner Jugendliebe zur Volkskunde durch eigenes,
aus vie\jälirigem Sammeleifer strömendes Schaffen und von ihm gestiftete
und beseelte Organe diente — das imd viel mehr gab ihm gerad auf der
letzten Wegstrecke ein hohes Ansehen.
Den so grofsen und mannigfachen Ertrag dieses langen rüstigen Ge-
lehrtenlebens (26. October 1823 bis 15. August 1901) hier zu entrollen und
nach altgermanischem Brauch dem Todten seine Waffen andächtig in*s letzte
Bett zu legen, verbietet mir, abgesehn von den viel engeren Schranken
meines Urtheils, die karg bemessene Frist. Nur ein unbehauenes Steinmal
kann ich rasch errichten, in treuer Dankbarkeit gegen den um dreifsig Jahre
älteren Nachbar, den ich doch schon als steirischen CoUegen und Freund
meines Vaters im ersten Safte geschaut habe.
4 E. Schmidt:
•
Als der halbwüchsige Pastorsohn, ein Schlesier wie die Germanisten
Jacobi , Sommer, Frey tag , Zacher, von der Schulbank zur Universität hin-
überblickte , die dem Mittellosen ein theologisches Brotstudium anwies , brach
er in den Ruf aus »Wie schön war' es zu studiren, um zu studiren!«, imd
Jacob Grimm's Name trat ihm sogleich auf die Lippen. Er hat sich diesen
Weg erobert. Das deutsche Studium ward und blieb ihm »eine firomme
Lust«. Es begann in Jahren der vollen Ernten, der fruchtbaren Aussaat,
da gar manche der uns jetzt selbstverständlichen Hilfsmittel fehlten, aber
der Reiz, Neuland zu besetzen und zu pflügen, desto gröfser war. »Die
Nachwelt,« so bekennt Lachmann's inhaltschwere Vorrede zum Iwein 1843,
»die unser mühselig Gewonnenes schon fertig überliefert empfängt, wird,
weil sie imsere Dürftigkeit nicht begreift, unseren FleiHs und imsere gei-
stige Anstrengung nicht genug ehren : dafür haben wir die herzliche Lust
des ersten Erwerbes voraus gehabt.« Noch konnte Lachmann seine bün-
digen Worte vom wahren Verstehn an den greisen Mitarbeiter Benecke rich-
ten und gleichzeitig den »Walther« auf neue Fahrt entsenden, nachdem
er kurz vorher Lessing's Werke mit bahnbrechender Sorgfalt hingestellt
und Gervinus, unmuthig zwar, seine imposante Litteraturgeschichte beendet
hatte. Moriz Haupt's auf sicherste Herrschaft über Stil und Metrik gegrün-
dete mittelhochdeutsche Texte erschienen in rascher Folge. Die neue Zeit-
schrift für deutsches Alterthum stand auch den frisch antretenden Jüngern
offen. Seit 1840 lebten die Brüder Grimm in Berlin, wo sie Lachmann,
Bopp im besten Mannesalter fanden. Jacob sann Lieblingsgedanken und
Lieblingsirrthümem zur Sprach- und Culturgeschichte und zur germanischen
Ethnologie nach, der eben damals, durch Kaspar Zeufs angeregt, der junge
MüUenhoff seine zähe Kraft verlobte. Die nordischen Studien empfingen
auch in Deutschland Vorschub, zugleich Ausbreitung im Unterricht durch
ein zweckmäfsiges Lesebuch, Philologen, Historiker, Juristen schlössen als
»Germanisten« einen Bund. Die Rechtswissenschaft, in der Jacob Grimm
den Goldfaden des Volksmäfsigen gesponnen, durfte auf Wilda's »Strafrecht
der Germanen« stolz sein. Jacob's zweite Auflage der »Mythologie« (1844)
rief eine ungeheure sinnige und unsinnige Nacheiferung hervor; strengere
Forscher mochten auch an Ludwig Uhland , den Biographen skandinavischer
Götter, anknüpfen und wiederum in dieser Zeit, wo die Sammlimgen zu jeg-
licher Volkskunde so üppig in's Kraut schössen, sich dadurch angespornt
fühlen, dafs Uhland — Dichter und Forscher in einer wätj swie doch die
Gedächtnifsrede auf Karl Weinhold. 5
namen zwMe smt — eben damals ein wissenschaftliches Gebinde alter deut-
scher Volkslieder als reife Frucht darbrachte. Den deutschen Mundarten
war gleichzeitig mit dem Ende der Grimmischen Grammatik, über deren
Wege und Ziele schon Einzelne vielverheifsend hinausstrebten, durch Jo-
hann Andreas Schmeller's Bairisches Wörterbuch ein bis heut unüber*
troffenes Werk beschert und darin, bei unbequemer Anordnung und äulser-
licher politischer Abgrenzung, die volle Meisterschaft über das Wort mit
lebendigster Beherrschung der Sachen vermählt worden.
Fragen wir nun dieser flüchtig angedeuteten Constellation gegenüber,
welche Leitsterne Weinhold's niemals excentrische Bahn bestimmt haben,
so hat er 1854 ™ Lebensabrifs für die Wiener Akademie sich selbst zu
denen gezählt , die nach Jacob Grimmas Antithese die Worte um der Sachen
willen treiben; mit dem ausdrücklichen Beisatz: dafs er die Worte nicht
zurückstelle, möchten seine Arbeiten beweisen. Sie thun es reichlich, zu-
mal im grammatischen Felde. Doch wird Niemand sagen. Weinhold sei
zum Herausgeber geboren gewesen: denn so fest er auf Lachmann's Me-
thode eingeschworen blieb, so emsig er in den saubersten Zügen Manu-
scripte copirte, so hingebend er aufser Anderem später die althochdeutschen
Bruchstücke des Isidor, auf mittelhochdeutschem Gebiete die trockenen
geistlichen Dichtungen Lamprecht's von Regensburg edirte und auf mo-
dernem für göttingische und rheinische Poeten thätig war — die philo-
logische Schärfe der Recension und Interpretation, die sichere Erkenntnifs
eines Verfassers oder der Schichten in einem gröfeeren Werk, die unbeirr-
bare Entscheidung zwischen strittigen Hypothesen war nicht sein eigent-
liches Element. Er hatte geringen Trieb zur höheren Kritik, stellte als
Lehrer die Ansichten lieber neben einander und sah selbst dem bösen
Kampf um der Nibelunge Hort, der unsre deutsche Philologie auf Jahr-
zehende in feindliche Heerlager spaltete, mit verschränkten Armen zu; auch
darin, wie etwa in der schwachen Lust an metrischen Untersuchungen,
Jacob Grimm ähnlich.
Man wird daher, trotz allem Gewinn und bedeutenden Leistungen,
Weinhold nicht der engeren Schule Lachmann's beigesellen , sondern mufs,
wie er zum Uberflufs mehrmals selbst bekräftigt, in Grimm und Schmeller
seine vornehmsten Führer erblicken. Gleich das treffliche SpicUegium for-
mularum ex antiquissimis Germanorum carminäms (1847) gab durch die bei-
gefugten Thesen des angehenden Docenten in Halle ein Programm: die
6 E. Schmidt:
höfische Poesie hat keinen Lebenssaft, wir wollen drum altnordische Mytho-
logie und Dichtung pflegen und im Studium der Mundarten auch unsern
verdorbenen Stil heilen. Sechs Jahre danach legte der Grazer Professor
ein erschöpfendes Bekenntnifs ab über die deutsche Philologie als »Er-
forschung und Darstellung der geschichtlichen OflFenbarung des deutschen
Geistes«, worin er zwar Lachmann 's Kritik mit allem Nachdruck vertrat
und auch für die modernen Denkmäler wirksam sehn wollte, germanisches
Recht einbezog , seinen grammatischen Eifer aussprach , besonders liebreich
aber der Mythologie, der Sage, den Privatalterthümem als wahrem Deutschen-
spiegel das Wort redete und schwungvoll die Lehre vom deutschen Leben
als hehrste, keineswegs der Zunft überlassene Nationalsache pries. Ein
lauter Nachhall noch aus der romantischen Frühe, aus Arnim's Botschaft:
wir wollen Allen Alles wiedergeben . . .
Diese edle schwärmerische Andacht stand aber auf festem wissenschaft-
lichem Grunde. Der Jugendplan einer populären deutschen Edda — Wein-
hold hat in Graz die schöne isländische Saga von Gunnlaug Schlangen-
zunge stilgerecht nacherzählt und mich als Knaben damit entzückt — , dieser
Jugendplan war sehr bald Studien über die so schwierige Vgluspa ge-
wichen. Auf Uhland's Spur suchte er sogleich dem proteischen Gott Loki
die Räthsel seines Werdens und Wandels zu entringen, ohne die Möglich-
keit sicherer Ergebnisse. Diese Arbeit ist noch heut in Ehren, sowie
»Die Riesen des germanischen Mythus« für eine musterhafte Monographie
gelten und Weinhold fortan bis zur letzten Lebenszeit mit Einzelunter-
suchungen über »Zwölfgötter« und »Vanenkrieg«, mit stark in's Religiöse
greifenden Studien zu der Jahrtheilung und den Monatnamen oder speciell
durch schlesische Streifzüge ein sehr kundiger und vorsichtiger Forscher
geblieben ist. Die wilde Jagd, die, nachdem Jacob Grimm's Genialitat
den niedern Volksüberlieferungen bis in die Gegenwart ihre heidnischen
Reste abgefragt, so viele Liebhaber fortrifs, das hitzige Fieber, von dem
unter Müllenhoffs Zucht ein Wilhelm Mannhardt zu grofsem Gewinn fiir alle
Mythenforschung langsam genas, hat Weinhold niemals angesteckt; auch da
nicht, wo er seinem zum Schmäher der Lokasenna entarteten Elementargott
bis in's Kinder- und Weihnachtspiel nachspürte. Von Anfang an war er
sich des schlüpfrigen Nebelpfades bewufst und ablehnend gegen J.W. Wolf 's
Mummenschanz oder Simrock's principielle und einzelne Fehlgriffe. Immer
rechnete er damit, dafs die vielen göttlichen Wesen nicht zugleich und
Gedächini/srede auf Karl Weinhold. 7
fertig entstanden seien» da£s kein altgermanisches Religionssystem bestehe,
dafs unser so spärliches Wissen von den deutschen Göttern keine trüge-
rischen Anleihen in Skandinavien machen dürfe, dafs es auf eine streng
abw&gende Prüfung der Stammesculte ankomme , kurz , dais dem Mythologen
mehr als die Einbildungskraft besonnenes Urtheil fruchte. Bei den fipüher
oft so verwegen ausgeprefsten Märchen vergafs auch er dann nicht, was
Benfey's freilich zu einseitige Herleitung der abendländischen vom indischen
Herde den Deutern einschärfte. Wir haben ja in der Akademie erfahren,
wie sicher Weinhold die vergleichende Methode ai^ dem Märchen vom Esel-
menschen übte; wir haben gern gelauscht, wenn der langerprobte, mit
allen Heerstrafsen und Pfadchen vertraute Führer, sei es durch die weite
Welt hin, sei es mehr den Deutschen und ihren Nachbarn zugewandt, uns
die Nacktheit in heidnischen Riten, die Mystik der Neunzahl, die Heilig-
keit der Quellen, die Macht der Verwünsch ungsworte, den Zauber der
Hasel erschlofs oder an Tiroler Gemälde vom Glücksrad, Bild und Wort
vereinigend, symbolisch -typische Betrachtungen knüpfte. Alle Fäden der
Volkskunde , dieser leutseligen Sammelwissenschaft , die bei ihm durch Ver-
bindung mit den Alterthümem ihre feste Unter- und Grundlage bekam,
liefen in seiner Hand zusammen.
1847, nachdem für die schlesischen Volkslieder schon vor längerer
Zeit durch Hoffinann von Fallersleben gut gesorgt worden war, ging Wein-
hold daran, die Sagen seiner Heimat zu bergen. Wiederum ein aus der
romantischen Wiege Heidelbergs fortgeerbtes Streben, dem damals, als
sollte Görres' Wort von den die zerstobenen Schwärme der Volkspoesie
noch rechtzeitig einfangenden Bienenvätern sich erneuen, aufser mancherlei
Auffrischung alter Habe durch Simrock auch strenge Fachgelehrte huldigten.
Eben erst der darüber jäh hingestorbene Emil Sommer in Thüringen; ein
Jahr früher, 1845, hatte MüllenhoflF sein herrlich eingeleitetes Buch »Sagen,
Märchen und Lieder aus Schleswig- Holstein und Lauenburg« beschert. Der
grofse Krakauer Brand vernichtete 1850 mit manchen andern Vorarbeiten
Weinhold's auch seine schlesischen Sagen; doch in Graz, drei Jahre danach,
erschienen die »Weihnacht -Lieder und Spiele aus Süddeutschland und
Schlesien«, worin nicht blofs die Überlieferungen eines Edelpöck, Hans
Sachs, Enaust zur Fülle des ländlichen Besitzes traten, sondern der Blick
auf die altgermanische Feier der Wintersonnenwende, das nordische Julfest
zurückgelenkt ward. Das schöne Buch hat bald Ährenleser und Schnitter
8 E. Schmidt:
aufgefordert und nach Hartmann's bairischen Ernten endlich in Friedrich
Vogt's schlesischen Texten und Forschungen die beste Nachfolge gefunden,
zur Herzensfreude Weinhold's. Er selbst unternahm von hier aus eine der
empirischen Poetik willkommene Beschreibung der Komik im altdeutschen
Schauspiel. Und hatten an jenen Krippen Steirer den Schlesiern mit
rauheren Lauten geantwortet, so setzte Weinhold von Graz aus seine um-
fassende Beobachtung der Volkspoesie fort. Im Ai)ril 1858 erliefs der dor-
tige Historische Verein einen von ihm verfafsten Aufruf zur Sammlung
weltlicher und geistlicher Volkslieder, Reime und »Gspiele«, auch der
Sprüche bei Festen und auf Geräthen als Stammbuchblätter des Volkes;
Zartes und Reines sollte doch die derbe Sinnlichkeit und den Schmutz
nicht ausschliefsen. Weinhold ist in den letzten fünfziger Jahren manchmal
auf schönen Thal- und Bergpfaden durch die Steiermark gewandert, süd-
wärts in's windische Gebiet hinein und nordwärts bis nach Mariazell. Noch
kurz vor seinem Tode schrieb er dem alten Begleiter Hwof Worte frischer
Erinnerung an die Felsen, wo ein Hirtenbub glanzäugig betheuert hatte,
die weiJ&en seligen Frauen einmal leibhaft gesehn zu haben. Zum er-
schließenden Verkehr mit dem Landvolk, wie er selbst als Jüngling be-
tont, wenig geschaflFen, fühlte Weinhold doch immer, in Schlesien und in
Steiermark, minder in Schleswig -Holstein, wo ihn dafür die freie Selb-
ständigkeit der Menschen stark anmuthete, endlich als dankbar erquickter
Feriengast Salzburgs und Tirols den aufimuntemden Reiz, vom Studirtisch
in die frische Natur, unter schlichte conservative Leute zu gehn. Den
Genufs bei winterlicher Pflege solcher Sommerernten hat er einmal beredt
geschildert (Grenzboten 1857 Nr. 9): »Hinter den Worten tauchen freund-
liche Landschaften, hübsche Köpfe, derbe Gesichter auf und grüTsen den
fröhlichen Arbeiter. Denn ein Mundartensammler ist kein grämlicher ver-
trockneter Geselle; aus der heiteren Kraft der Volksrede dringt ihm un-
vermerkt Tropfen auf Tropfen in die Adern und macht das dicke gelehrte
Blut lustig.«
Diese Worte stehn in einem belehrenden und unterhaltenden Aufsatze,
der gleich anderen seinen Ursprxmg einem artigen Zuruf Gustav Freytag's
verdankt (24. October 1856). Dieser bat Weinhold zu thun, was er selbst
meisterhaft begann, nämlich die aristokratische deutsche Philologie zu popu-
larisiren durch eine Reihe von Bildern aus der Vorzeit. Er appellirte an
Weinhold's in culturgeschichtliclien Werken erwiesene Begabung. Denn
Gedächtnißrede auf Karl Weinhold, 9
während der Grazer Germanist vor dem Eintritt des trefflichen Erforschers
fir&nkischen ehelichen Güterrechts Sandhaas auch deutsche Reichs- und Rechts-
geschichte las und sich nicht blols dadurch auf die spätere Ehrenpromotion
rüstete, während er der Steiermark historische Specialstudien über Hugo
von Montfort und die Stadecker gab oder einen Gräberfund erläuterte » ge-
diehen ihm au&er jenen »Weihnachtspielen« andre gewichtige und im besten
Sinn populäre culturhistorische Gaben. Ein Brief an den lauteren Freund
und Fachgenossen Zacher vom März 1852 meldet: »Ich bin jetzt über den
Quellenforschungen zu einer Greschichte des deutschen Kriegswesens und der
Heerverfassung«, vorläufig bis zu den Karolingern; »das Werk wird sich
an meine deutschen Frauen als ein andrer Theil meiner Vorarbeiten zu
einer deutschen Culturgeschichte anreihen, die ich mir als Hauptaufgabe
des Lebens gestellt habe«. Ob er dann von Peucker's Absicht hörte? 1851
erschien, lang vorbereitet und den Krakauer Flammen allein entrissen, das
Werk »Die deutschen Frauen in dem Mittelalter. Ein Beitrag zu den Haus-
alterthümem der Germanen«, mit einem starken Einschnitt beim Vordringen
ritterlicher Geselligkeit, sonst der Innern Gruppirung zu Lieb* ohne genaue
Schranken nach Zeit und Landschaft. Alles darin ist aus den Quellen ge-
schöpft ; wir besalsen noch nichts dergleichen. Die Schatten wurden keines-
wegs vertuscht, doch sollte diese dann soviel, redlich und unredlich, aus-
geschriebene Darstellung, die von den Namen und von den Göttinnen ausging
und keine Seite des Frauenlebens versäumte, in trüben Jahren Deutschlands
dienen »zur Erkenntnifs der Vergangenheit, zum Trost der Gegenwart, zur
Hoffnung für die Zukunft«. Sie übertrug mit priesterlichen Scheltworten
und keuschen Superlativen der Geschichte nicht blofe ein objectiv berich^
tendes, sondern auch ein pädagogisch mahnendes Amt. Und so hoffte
Weinhold 1856 durch die gedrungnere Schilderung des »Altnordischen
Lebens« im Haus und in der Volksgemeinde, ohne Eingehen auf Recht
imd Staat, zugleich ein Heilmittel für faule moderne Zustände zu bieten.
Man belächle diesen Übereifer nicht , der den klargegliederten , auf reichster
Leetüre wohlfundirten , auch die Ausgrabungen thunlichst berücksichtigen-
den Capiteln keinen tendenziösen Abbruch gethan hat, wenn auch heute die
idealisirende Neigung stärkeren Zweifeln begegnen mag. Es war Weinhold
vergöimt, sein Frauenbuch nach einem Menschenalter auf Grund ununter-
brochener Studien durchweg zu bessern und zu bereichern. Sein »Altnoi>
disehes Leben« dagegen hat ihn zwar zu dem vorzüglichen ^o&en Aufsatz
Gedächtni/sreden, 1902. IL 2
10 E. Schmidt:
über heidnische Todtenbestattung gefuhrt und das prüfende Auge den fabehi-
den Erzählern bis in die Polargegenden folgen lassen, es blieb jedoch die
einzige Schrift, die nicht im Handexemplar fort und fort ergänzt und revidirt
wurde. Der Stofif schwoll zu gewaltig an; die Atifgabe, nach dem ersten
preiswerthen Wurf poetische und historische Zeugnisse der Privatalterthümer
behutsam abzuwägen, Zustände Islands und der grofsen andern skandina-
vischen Gebiete local und zeitlich zu sichten , bedeutende Fände mit eigenen
Augen zu prüfen, diese Aufgabe forderte den ganzen Mann. Weinhold hatte
als Student Jacob Grimm 's Rath zu einer mehrjährigen Nordreise natürlich
nicht befolgen können imd ist in reifen Jahren, wie ihm südwärts hloik
ein Stück Oberitaliens sich erschloß , nur flüchtig in Kopenhagen eingekehrt.
Grofse Arbeiten zur deutschen Grammatik haben sowohl seine nor*
dischen Studien als die umfassende Culturgeschichte zurückgedrängt. »Der
Erdgeruch des Bodens, auf dem man geboren, Vkkt die Forschung am
besten gedeihen«, sagt die akademische Antrittsrede. So setzte der Gram-
matiker Weinhold früh zu schönstem Vollgewinn in der Heimat ein. Die
»Aufforderung zimi Stoffsammeln für eine Bearbeitung der deutsch -schle-
sischen Mundart« ward 1848 zwar durch politische Stürme verweht, aber
von Jacob Grimm sofort rühmlich gebucht und eine Grundlage filr die aus-
gezeichnete Schrift »Über deutsche Dialektforschung«, worin Weinhold 1853
Laut- und Wortbildung und Formen des Schlesischen im beständigen Hin-
blick auf das Mittelhochdeutsche — das eigentlich Mitteldeutsche , Wilhelm
Grimm's und Pfeiffer's Revier, erschien ihm noch nicht sattsam aufgeklärt —
als historisch -philologischer Kenner behandelte. Auch polnische Einschläge
wurden in Kuhn's Zeitschrift untersucht, einigen Wörtern jedoch dann ihr
deutscher Heimatschein zurückgegeben. Musterhafte »Beiträge zu einem
schlesischen Wörterbuch« folgten 1855 und bewährten die Unlösbarkeit
von Nennen und Kennen, Wort und Sache. Sie schöpften aus allen irgend
zugänglichen Quellen der Umgangssprache des Gebirges und des Flachlandes,
der Urkunden, der gebundenen und ungebundenen Litteratur vom Mittel-
alter bis zu Opitz, von Gryphius bis zu Freund Holtei, dem Weinhold
durch ein Glossar bald denselben Dienst erweisen konnte wie Müllenhoff
seinem Klaus Groth. Als Quick- und Jungbom ftir die kränkelnde Schriftr
sprache pries er 1853 wie 1893, der Meinung Jacob Grimm's vom Verfall
treu, die Mundart und zog gleich dem Meister alterthümliche Stempel der
neuen Münze vor. Es gehört zu seiner Charakteristik, dafs er so hart-
Gedächtnißrede auf Karl Weinhold, 11
nackig stunde nicht stände wie er in Graz mit Holtei und einem alten
GoUegen sdbdritt bei der ursprünglichen, obsoleten Form Graz gegenüber
der bfturischer Aussprache entsprungenen , nunmehr allgemein giltigen ver-
blieb, ja dafs nach seinen Reformvorschligen f&r die Rechtschreibung in
Österreich (1852), die Werth volles zur Geschichte boten, unsre im sieb-
zehnten und achtzehnten Jahrhundert geeinte neuhochdeutsche Schriftsprache
mittelalterliche Normen rückläufig befolgen sollte: man habe nicht blols
sintßxU und eräugnen, sondern auch liecht^ schepfer^ lewe^ wirdig^ wirken zu
schreiben, also natürlich auch zu sprechen. Wo war ein Halt auf dieser
schiefen Ebene pseudohistorischer Gebote? Mich hat freilich noch, als ich
in Wiirzburg zu wirken versuchte, die Zeitschrift für deutsches Alterthum
zu den Formen Wirzburg und uriirken gezwungen. Weinhold selbst lenkte
bald ein. Er betrieb, während sein treufleiüsiger Schüler Matthias Lexer
sich ganz ausschlielslich der Lexikographie widmete , Sammlungen zu einem
steirischen Wörterbuch, die nun nach Graz heimgewandert sind wie die
viel bedeutenderen zum schlesischen nach Breslau. Immer wieder ist Wein-
hold bis in die allerletzte Zeit, wo er Temporalpartikeln selbst bei den
heutigen Dialektdichtern mit philologischer Akribie beobachtete , mit klei-
neren und gröfseren Beiträgen der Herkunft, den Urkunden, den Sitten,
den Märchen , den Ortsnamen , dem Wortschatz und Sprachgebrauch seiner
lieben Schlesier nachgegangen, deren Art und ein bischen Unart er als
junger Forscher und an Holtei's achtzigstem Geburtstage so klar gezeichnet
hat, wie es nur ein unbefangener Landsmann vermag und darf.
Aus dem ersten Studium der schlesischen Mundart erwuchs allgemach
der Plan einer grammatischen Darstellung der grolsen Volksstämme Deutsch-
lands. Weinliold brachte die Alemannische Grammatik beinah fertig nach
Kiel mit und widmete sie Jacob Grimm in dessen Todesjahr; die Bairische,
dem Andenken Schmeller's zugeeignet, erschien vier Jahre später. Für
diese gab es, obwohl Schmeller ja Osterreich ausgeschlossen hatte, reiche
Vorarbeit; jene mulste fast ganz aus dem Rohen herausgeholt werden.
Auch unterlag die Scheidung der ältesten alemannischen von den bairischen
Denkmälern grolsen, nicht auf den ersten Anhieb zu besiegenden Schwierig-
keiten, deren Weinhold ' sich sehr wohl bewufst war. In ein überkommenes
Fachwerk ordnete sein eherner, entsagungsvoller Fleifs die weitschichtigen
Materialien zum Ausbau der Grimmischen Grammatik und gab uns unent-
behrliche Handbücher, ohne doch die Mainlinie zu überschreiten. Daran
2*
12 E. Schmidt:
ist nicht blofs der zunächst geringe äufsere Erfolg schuld gewesen. Wein-
hold*s Aufsatz »Uher den Beilaut «, ein kleiner Vorläufer der Alemannischen
Grammatik, scheidet 1860 zwei Richtungen des grammatischen Betriebes:
eine geht auf Bearbeitung des ganzen grofsen Sprachstamms, der andern
hilft die Vergleichung nur für die Etymologie der Aste; dazu das un-
zweideutige Geständnifs: »Ich neige mich entschieden der letzten zu. Jene
ist kühner imd vielleicht genialer, diese nüchterner, aber sicherer«. So
hatte sein Lehrer und Freund Theodor Jacobi doch nicht gedacht, als er
1843 ^^ Ansicht und Methode, wie er ganz offen in dem Zukunft ath-
menden Vorwort der »Beiträge zur deutschen Grammatik« erklärte, von
Grimm und Bopp abwich , um zum Historischen und Allgemeinen zu streben,
statt einer history of the dedine and the fall of german language ein ge-
treues Bild allmählicher Entfaltung, die för alle formalen Verluste reichen
Ersatz schafft, zu bieten, in die historische Grammatik Physiologie mid
Philosophie hineinzutragen, »dem märchenhaften Es war einmal Grenzen
zu setzen, und was äuiserlich geschieht aus dem geistigen Proceis, der
es hervorruft, oder aus der Beschaffenheit der menschlichen Organe zu
erklären«. Weinhold hat Jacobi's Theorie des Ablauts verbreiten helfen,
aber auch in den pietätvollen Gedenkblättem von 1874 keine principielle
Auseinandersetzung versucht.
Ich kann nur mit Einem Wort andeuten , welche Gährung lange nach
Jacobi's halbvergessenen Wegweisern oder einzelnen späteren Thaten gleich
Westphal's Entdeckung des gothischen Auslautgesetzes namentlich durch
Wilhelm Scherer's »kühnes und geniales« Jugendwerk entstand, wie die
germanische Grammatik den innigen Zusammenhang mit der allgemeinen
Sprachwissenschaft und der Lautphysiologie empfing, was dann für die
fränkischen Dialekte und die Geschichte der Schriftsprache erforscht wurde.
Weinhold blieb bei seiner Art als einer, der »noch bei Jacob Grimm und
Bopp gelernt« habe. Die neue Bewegung war ihm fremd, unbehaglich,
ja zuwider. Im letzten Jahrzeh end legte er grofses Gewicht auf die von
Grimm mit dem einfachen Satz abgebrochene Syntax und auf lexikalische
Studien: beide thun, so sagt der Berliner Rector 1 893 imum wunden, »uns
jetzt weit mehr noth, als die phonetischen, die sicherer dem Naturforscher
und seinen Instrumenten überlassen bleiben, und als die problematischen
Constructionen einer vorgeschichtlichen Sprache«. Derselbe Revolutionär
Scherer jedoch rief (Kl. Schriften i, 562; 1866), als er di.e energische Frage
Gedächtnißrede auf Karl Weinhold. 13
nach den letzten Gründen des Lautwandels aufwarf: »Wer von allen
Dialektforschem reicht in diese Tiefe? Unter den Lebenden darf sich
keiner rühmen, so viel für die Grammatik der. Mundarten gethan zu
haben wie Weinhold. Aber niemals ist er in einseitige Beschränkung
gefallen « .
Von den Mühen am Torso der deutschen Dialekte ^ dem nach den
oberdeutschen kein mitteldeutscher, kein niederdeutscher, aber eine zu-
sammenfassende mittelhoclideutsche Grammatik gefolgt ist, erholte Wein-
hold sich durch mancherlei, auch den Kielern besonders dargebrachte
Nebenarbeiten, durch die lexikalische Gabe zum Jubiläum seines Vaters,
die Vulfila's Wortschatz im Dienste des Christenthums zeigte, besonders
durch eifrige Versenkung in neuere Litteratur. Er empfing werthvoUes
Material zu einem Buch über Boie, den Begründer des Almanachs und
des Deutschen Museiuns. Der wunderliche Schönborn trat in neue helle
Beleuchtung. Ein Anreiz des Gegensatzes, den D. F. StrauXs als Biograph
einmal offen bekennt, war vielleicht im Spiele, wenn zuchtlose Stürmer
und Dr&nger, Sprickmann, der Maler Müller, Ellinger, Lenz, neben zarten
vornehmen Naturen wie F. H. Jacobi, neben Goethe's gebändigter Geniekraft
Weinhold zu eindringlichem, fruchtbarem Studium anzogen. Lenzens wirren
dramatischen Nachlafs und seine schlacken-, doch auch goldreiche Lyrik
hat er aufs sorgfaltigste herausgegeben und erläutert, die Vita freilich im
Gedränge nimmermüder anderer Altersarbeit nicht ausfuhren können , aber
den ihm vertrauensvoll geschenkten, beständig gemehrten Stoffmassen eine
sichere Stätte mit derselben fürsorglichen Liberalität angewiesen, die seinen
aufopfernden Eifer für die Volkskunde über's Grab hinaus erstreckt. Ge-
lassen übte Weinhold, Vieles aufarbeitend, ein paar Haupttheile seiner
handschriftlichen Schätze der Zukunft widmend. Anderes vernichtend, eine
testamentarische Thätigkeit.
Im Abendscliein ist Karl Weinhold unsrer Akademie beigetreten und
hat ihr elf Jahre lang gedient, ohne jemals auszuspannen oder vom guten
Altersrecht auf Erleichterung der Pflichten den geringsten Gebrauch zu
machen. Sein Schritt blieb rasch und elastisch, die schlanke Gestalt imd
das edel geschnittene Antlitz frei von greisenhaftem Verfall. »Beschäftigung,
die nie ermattet,« hielt ihn aufrecht. Wenn ihm gleich andern Veteranen,
besonders in der Kieler und der Breslauer Epoche, so manches an den
jüngeren Greschlechtem von Germanisten triftig oder untriftig mifsfiel, wenn
14 £. Schmidt:
er als Festredner die neue Zeit schalt, wie er doch schon die frühere ge-
scholten: Untriuwe ist in der sdze, so verschlofs er sich keineswegs gegen
die Lichtseiten. Anwandlungen von Bitterkeit wichen nun, die seinen besten
Mannesjahren im Concordatland , unter dem Dannebrog, durch die sehr
lange Isolirung an der Peripherie des deutschen Gelehrtenreiches sowie im
stillen Gegensatze zu f&hrenden Mächten der Wissenschaft nicht erspart ge-
blieben waren. Dieser Markwart sah seine Hoffiiung auf ein einiges Deutsch-
land erfüllt, und die weite Bahn von Halle über Breslau an die Jagellonen-
universität, von der Weichsel an die Mur, aus Graz nach Schleswig- Holstein
mitten in den ihn tief ergreifenden Entscheidungskampf hinein und wieder
gen Schlesien führte Weinhold endlich hierher. Auch ihm ward das Alter,
wie Jacob Grimm sagt, »die Zeit einer im vorausgegangenen Leben nicht so
dagewesenen Ruhe und Befriedigung«. Was ihn anfocht, das überwand
er mit schweigsamer Kraft. Er war kein aufgeknöpfter, redseliger Schlesier,
sondern meist sehr zurückhaltend, ohne Bedürfiiils und Neigung, sich über
eigene oder fremde Arbeiten, über sein Thun und Lassen, über Freuden
und Leiden im Austausch zu äu&em. Seine Schriften föhren geringe po-
lemische Elemente; sein Briefwechsel mit Fachgenossen geht selten auf
die Studien näher ein. Aber diese spröde Abschliefsung, diese herben
Mienen konnten nur bei flüchtiger Berührung täuschen und ihn unnahbar
erscheinen lassen. Sie vertrugen sich mit einer tiefen Heiterkeit, der wohl-
thätigsten Güte, der herzlichsten Treue, denn er war Vielen in Nord und
Süd, Ost und West ein holder wine. Seine geistigen und gemüthlichen
Interessen reichten gleichfalls noch weiter, als die Äui^erung erwies, und
der Poesie hat Weinhold, Graf Strachwitzens Jugendfreund, nicht nur for-
schend und geniefsend oder in hübschen Gelegenheitsgaben gehuldigt, ohne
sich auf dem Markte zu nennen.
Unbedingt zuverlässig, keines Wankelwortes fähig, trotz starken Anti-
pathien nie kleinlich grollend und imgerecht nachtragend, stolz ohne Dünkel,
conservativ ohne reactionäre Befangenheit, genau ohne Pedanterie, pflicht-
streng ohne Härte , erwarb er allenthalben Vertrauen und ist von den CoUegen
der höchsten Auszeichnung gewürdigt worden, weil man sicher sein durfte,
dafe Ehrgefühl der Nerv seines Wesens sei. Ohne sich einen Augenblick
zu bedenken, blieb der junge Professor auf lange Jahre hin an einer ent-
legenen, ihrer jetzigen Blüthe noch ganz fernen Rumpfuniversität und schrieb
der ihm persönlich wohlwollenden Regierung, die ihm den ersten Lehr-
Gedächtmfsrede auf Karl Weinhold. 1 5
stuhl in der Hauptstadt anbot: »Ich kann mich nicht herbeilassen, auf
einer Universität zu wirken, welche mich als Akatholiken för unfähig zu
ihren Würden erklärt und im eigentlichen Sinne rechtlos macht. Meine
Freudigkeit des Wirkens in diesem Staate ist dahin«. Ein Mann, ein Wort.
Weinhold's Leben hätte sonst seit 1851 sich ganz anders gestaltet, zu-
nächst viel günstiger. Er hat endlich darüber gescherzt, dafs er nun schon
lang als pensionirter Hofrath und Ritter von Deutschlieb auf dem Alten-
theil sitzen würde.
Wie wohl fühlte er sich hier an der Seite des Jugendfreundes Albrecht
Weber unter alten und jüngeren Genossen; wie aufmerksam und mitthätig
saCs er unter uns; wie gern spendete er aus den vollen Schätzen seiner
Gelehrsamkeit und liefs immer auch den Schlag des warmen deutschen
Herzens spüren! Unsre Akademie wird dem Treuen die Treue bewahren.
Feminis lagere honesium e^tj viris memmisse.
Gedächtnifsrede auf Johannes Schmidt.
Von
H™ HEINRICH ZIMMER.
GedävlUnißredm. 1902. IIL
Gehalten in der öffentlichen Sitzung am 3. Juli 1902
[Sitzungsberichte St. XXXIV. S. 799].
Zum Druck eingereicht am 4. December, ausgegeben am 24. December 1902.
xVm 4. Juli 1901 wurde Johannes Schmidt aus unserer Mitte gerissen.
Seit Jahren war er von schwerem Leiden heimgesucht, und doch trat der
plötzliche Tod för Angehörige und Freunde , auch für den Dahingeschie*
denen selbst , unerwartet ein. £s schien das Leiden in der letzten Zeit zum
Stillstand gekommen zu sein. Schmidt glaubte es und hatte sich, wie er
es noch wenige Tage vor seinem Ende aussprach, mit der Krankheit ab-
gefunden: er hatte sich endlich darein ergeben, dafs ihm die alte Arbeits-
kraft zum Theil genommen war, hoffte aber bei unverminderter Arbeitslust
mit der gebliebenen geistigen Frische und Schärfe noch eine Reihe von Jahren
mitarbeiten zu können am Ausbau der Wissenschaft, in der ihm durch ein
Vierteljahrhundert eine Führerrolle zugefallen war. Das Problem des indo-
germanischen Accentes war es , zu dessen Lösung er in verschiedenen seiner
Arbeiten werth volle Beiträge geliefert hat, das er sich für sein » letztes gröiäeres
Werk«, wie er sich äu&erte, zum Vorwurf gewählt hatte. Ein schwerer Ver-
lust für die indogermanische Sprachwissenschaft, dafs Schmidt nicht dazu
gekommen ist, neben «Vocalismus« und »Pluralbildungen« den »Accent«
als Abschlufs seiner Lebensarbeit zu stellen; aber es war doch wohl ein
gutiges Greschick, das ihn so plötzlich aus dem Vollbesitz seiner geistigen
Kraft dahinraffte, weil es ihm neben langem körperlichem Siechthum auch
das för eine Natur wie die seine unerträgliche Gef&hl des Hinschwindens
der Geisteskräfte ersparte.
Die Lehrjahre Johannes Schmidt 's und die Anfange seiner über viert-
halb Decennien sich erstreckenden wissenschaftlichen Thätigkeit fallen in die
sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Es war eine Zeit , in der die indo-
germanische Sprachwissenschaft es anscheinend herrlich weit gebracht, hatte.
Die wichtigsten Probleme schienen alle nach ihrer principiellen Seite erledigt ;
4 H. Zim3ikr:
es gab so viele feststehende Ergebnisse der Sprachwissenschaft wie seitdem
nie mehr, und so feststehend, dafs man sie für weitere Kreise glaubte aus-
schroten zu dürfen. Als eine feststehende Thatsache galt, »dafs sammtliclie
in den indogermanischen Sprachen erscheinenden Vocale und Diphthonge
aus den ursprünglichen drei Kürzen a, i, w und deren Steigerungen ä, ai^ au
hervorgehen«, und dafs jeder Vocal »sich nur in seiner Reihe bewegen kann«.
Es war die Adaptation einer von indischen Grammatikern för das Sanski'it
aufgestellten Theorie, die dort schon nicht mit allen Thatsachen ungezwungen
harmonirte und noch weniger für den weiten Kreis der indogermanischen
Sprachen überall zutraf. Namentlich machte die Frage des Übertritts von
Wurzeln aus einer Ablautsreihe in die andere in den verscliiedensten indo«
germanischen Sprachen grofse Schwierigkeiten. Schmidt's erstes Haupt-
werk »Zur Geschichte des indogermanischen Vocalismus« sucht eine allseitige
Lösung dieses wichtigen Problems durch Prüfung sämmtlicher einschlägigen
Thatsachen zu geben. Der 1871 erschienene erste Band behandelt die durch
Schwund von Nasalen in den Einzelsprachen hervorgerufenen Störungen, und
der viel umfangreichere , vier Jahre später folgende zweite Band erörtert die
Einflüsse der Liquida. Das Werk hatte einen unmittelbar durchschlagenden
Erfolg, rückte Schmidt in die vorderste Linie der Forscher auf dem Gebiet
vergleichender Grammatik und trug dem noch nicht Dreiunddreifeigjährigen
im Sommer 1876 die Berufung auf den verwaisten Lehrstuhl des Begründers
der indogermanischen Sprachwissenschaft ein. Wenn gleichwohl diese Arbeit
als Gesammtleistung rasch in den Hintergrund trat, so liegt der Grund nicht
in einer veränderten Werth Schätzung des Geleisteten, sondern darin, dafs
die die Voraussetzung des Werkes bildenden principiellen Anschauungen
über den indogermanischen Vocalismus wenige Jahre nach seinem Erscheinen
über den Haufen geworfen wurden, und zwar unter Schmidt's thätiger Mit-
wirkung in mehr als einer Hinsicht.
In den siebziger Jahren nämlich begann sich in der indogermanischen
Sprachwissenschaft ein Procefs zu vollziehen, der, mehr oder weniger heftig,
in der Entwickelung jeder jungen Wissenschaft eintritt. Neue Wissensgebiete
werden von ihren Entdeckern gewöhnlich in raschen Zügen nach allen Rich-
tungen durchquert, wodurch nur zu leiclit das Geföhl der vollständigen Be-
sitznahme hervorgerufen wird. Der Rückschlag bleibt nicht aus; er blieb
auch der von Bopp begründeten Wissenschaft nicht erspart. Es trat eine
ftip viele, anscheinend sichere Ergebnisse der jungen Wissenschaft vemich-
Gedächtnißrede auf Johannes Schmidt. 5
tende Nach- luid Neuprüfung ein. Eingeleitet wurde der Revisionsprocefs
von Schmidt selbst durch seine 1872 zwischen dem ersten und zweiten
Bande des »Vocalismus« erschienene Schrift »Die Verwandtschaftsverhältnisse
der indogermanischen Sprachen«. Als feststehende Wahrheit galt damals
— auch für Schmidt noch im ersten Bande des »Vocalismus« — dafs wir
uns die Verwandtechaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen zu ein-
ander und zur Muttersprache unter dem Bilde eines Stammbaumes vorzu-
stellen und die Ausbreitung über das weite Gebiet durch Loslösung ein-
zelner Theile vom Ganzen, die sich auf die Wanderung begaben und wieder
trennten, zu erklären haben. Joliaunes Schmidt weist die Haltlosigkeit
dieser Theorie in seiner Schrift nach, nicht durch theoretische Erörterungen,
sondern — was charakteristisch fiir seine Forschung ist — indem er zeigt,
dafe sie nirgends mit den sprachlichen Thatsachen vereinbar ist, und sucht
dann aus den vorgebrachten Thatsachen ein Bild zu gewinnen, wie die
Verhältnisse der einzelnen indogermanischen Sprachen zu einander aufzu-
fassen sind. Weitaus origineller als das grofse Werk und mit Ergebnissen,
die in der Folgezeit die Grundlage wurden für jede weitere Forschung über
das wichtige Problem, fand die Schrift zuerst fast allseitigen, hartnäckigen
Widerstand, so dafs Schmidt noch verschiedentlich — auch im zweiten
Bande des Vocalismus — für sie in die Schranken treten mufste. Sehr zu
Statten kam ihm, dafs die sich im weiteren Verlaufe des Revisionsprocesses
anbahnende neue Anschauung über den indogermanischen Vocalismus dem
hartnäckigsten Vertheidiger der Stammbaumtheorie die festeste Stütze für
die angebliche europäische Untereinheit entzog.
Diese veränderte Anschauung über den Vocalbestand der indogermani-
schen Ursprache geht dahin , dafs der bunte Vocalismus der europäischen
Sprachen, speciell des Altgriechischen, der ursprüngliche ist und nicht der
einfarbige, monotone des Sanskrit mit den drei Kürzen a, i, u und deren
Steigerungen. Damit fiel das ganze bisherige Vocalsystem und noch viel
mehr; auch die vergleichende Formenlehre wurde theil weise in den Fall mit-
hineingezogen. Wie es bei in der Luft liegenden neuen Entdeckungen oft der
Fall zu sein pflegt, fanden verschiedene Forscher unabhängig von einander
die entscheidenden Beweisstücke. Unter ihnen war auch Schmidt. GemäJs
seiner Art, die Dinge ausreifen zu lassen, kam er nicht dazu, die Ent-
deckimg als Erster zu publiciren, aber seine gründliche Abhandlung »Zwei
arische a- Laute und die Palatalen« hat mehr als eine andere Publication
f
6 H. Zimmer:
dazu beigetragen, der neuen Anschauung bald allseitig zum Sieg zu ver-
helfen. Es galt ftir die vergleichende Grammatik nunmehr die Consequenzen
zu ziehen und durch umfangreiche Detailforschung die neue Erkenntnifs
auszubauen. Hieran betheiligte sich Schmidt durch eine lange Reihe von
Aufsätzen in der »Zeitschrift fiir vergleichende Sprachforschung«, deren Re-
daction er unter dem Begründer A. Kuhn seit 1875 angehörte und die er
nach dessen Tode in Gemeinschaft mit dem Sohne bis zu seinem eigenen
Ende führte. Sind auch verschiedene dieser Abhandlungen Problemen der
indogermanischen Formenlehre gewidmet, so ist doch keine unter ihnen,
bei der nicht wichtige Ergebnisse fÄr die Lautlehre abfielen.
Während dieser Zeit reifte ein neues grofses selbständiges Werk heran:
»Die Pluralbildungen der indogermanischen Neutra«, das 1889 erschien. Es
stellt als Ganzes den Höhepunkt von Schmidt 's litterarischer Thätigkeit
dar. Aus einer Reihe allseitig bekannter Thatsachen der classischen Sprachen,
die auch in anderen indogermanischen Sprachen Entsprechungen haben, wird
in der Einleitung der Schlufs gezogen, dafs die Plurale der Neutra in den
indogermanischen Sprachen ursprü/i glich Feminina Singularis mit GoUectiv-
bedeutung waren. Dem Beweise dieses Satzes ist das umfangreiche Werk
in einer Art gewidmet, dafs es für die Forschung auf dem Gebiet der ver-
gleichenden Grammatik noch lange als ein bis jetzt noch nicht übertroffenes
Muster dastehen wird.
Zwei selbständig erschienene Arbeiten Schmidt 's sind diesem Werke
noch in der ersten Hälfte des letzten Decenniums gefolgt, die weder gleich
noch bis heute die allseitige Zustimmung sich erworben haben, die der
»Vooalismus« und die »Pluralbildungen« alsbald fanden und die »Verwandt-
schaftsverhältnisse« in verhältnifsmäfsig kurzer Zeit sich errangen. Es sind
diefs die 1 890 erschienene Abhandlung über »die Urheimat der Indogermanen
und das europäische Zahlensystem« und die Schrift »Kritik der Sonanten-
theorie« aus dem Jahre 1895. In der »Urheimat« tritt der Mann, der 1872
mit den »Verwandtschaftsverhältnissen« die Revolution in der indogermani-
schen Sprachforschung einläutete und seitdem in der ersten Linie der Re-
former als Bannerträger marschirte, als energischer Vertheidiger der alten
Anschauung über die Ursitze der Indogermanen auf. Gleich treffend ist die
vernichtende Kritik , die er sowohl an den bis dahin vorgebrachten Gründen
für die asiatische Urheimat wie an den angeblichen Beweisen der Gegner
für ursprüngliche Sitze in Europa übt. Selbst der, welcher den von Jo-
Gedächtnißrede auf Johannes Schmidt. 7
hanne« Schmidt aus Erscheinungen des Zahlensystems der europäischen
Indogennanen gezogenen Schlüssen für eine asiatische Urheimat nicht eine
entscheidende Beweiskraft zutraut, wird dankbar anerkennen, dats ein inter-
essantes Problem der indogermanischen Sprachwissenschaft zuerst richtig
gefaist und aufgestellt ist. Auch in der »Kritik der Sonantentheorie« nimmt
Schmidt Stellung gegen eine Hypothese der Reformbewegung, indem er
den Beweis zu fuhren sucht, daCs diese Theorie, selbst jedes Beweises ent-
behrend, »mit einer Reihe von Thatsachen in unversöhnlichem Widerspruche
stehe« . Es kommt bei der Ausfuhrung des Themas so viel Wichtiges und
Neues zu Tage, das auiserhalb seiner Verwendung im Beweis Geltung hat,
dals dem Werkchen ein dauernder Werth in der sprachwissenschaftlichen
Forschung gesichert ist.
Die Umwälzung in der indogermanischen Sprachforschung hatte unter
den verschiedenen Folgeerscheinungen auch die, dafs ein Band gelöst wurde,
das seit Beginn der jungen Wissenschaft bestand : die besonders enge Ver-
knüpfung von Sanskrit und Sprachwissenschaft. Vom Sanskrit war die
indogermanische Sprachwissenschaft ausgegangen ; Sanskrit galt durcli Jahr-
zehnte als der Schlüssel, der alle Geheimnisse erschlielse; »toigours partir
du Sanscrit« stellte noch in den sechziger Jahren ein Forscher romanischer
Zunge als Grundsatz auf. Sanskrit und Sprachwissenschaft waren fast
aUenthalben an unseren Hochschulen durch Personalunion verknüpft. Und
diese Sprache stellte sich nach den Ergebnissen der neueren Forschung in
Bezug auf den Vocalismus als die unursprünglichste aller indogermanischen
Sprachen heraus. Sie verlor die leitende Stellung, in welche in der noth-
wendigerweise im Vordergrund stehenden Vocalforschung das Altgriechischc
einruckte, das mit der erhaltenen Fülle von Dialekten aus alter Zeit aufser-
dem viel geeigneter ist, ein Bild sprachlichen Lebens zu geben, als das
grammatisch zugestutzte Sanskrit oder ein anderer indogermanischer Sprach-
zweig. Wie scharf bei Johannes Schmidt diese Wendung zum Ausdruck
kam, ergibt sich schon daraus, dafs bei den Schülern aus der zweiten
Hälft« seiner Lehrthfttigkeit fast überall der Schwerpunkt der sprachwissen-
schaftlichen Forschung im Altgriechischen liegt. Seine eigenen kleineren
Arbeiten zeigen dasselbe. Verrathen zahlreiche Zeitschriftenbeiträge aus
dem ersten Decennium der wissenschaftlichen Beschäftigung eine imbestreit-
bare Vorliebe för die nordeuropäischen Sprachen — Slavisch, Litauisch,
Germanisch — die auch noch in dem »Vocalismus «^ deutlich erkennbar
8 H. Zimmer:
ist, so sind die Arbeiten des letzten Decenniums — beginnend mit der
aus dem Jahre 1891 stammenden Abhandlung »Assimilation benachbarter,
einander nicht berührender Vocale im Griechischen« und endigend mit der
am 18. April 1901 gelesenen, nun unter dem Titel »Zur Geschichte der
Langdiphthonge im Griechischen« vorliegenden Studie — fast ausschliefslich
dem Altgriechischen gewidmet. Zwar sind sie in Folge der durch die
Krankheit geschwächten Arbeitskraft nicht so zahlreich als im vorangegan-
genen Decennium, sie lassen aber die Johannes Schmidt in besonders
hohem Grade eigenthümliche Fähigkeit, die in den Dingen liegenden Ge-
setze zu sehen und aus den sprachlichen Thatsachen die Regel ungezwungen
abzulesen, klarer hervortreten, als die meisten älteren Arbeiten.
Wie aus diesem flüchtigen Umrifs von Schmidt's Antheilnahme an
der Entwickelung der indogermanischen Sprachwissenschaft in den letzten
Decennien des 19. Jahrhunderts erhellt, war er der Mann der Unter-
suchung bis zu einer seltenen Ausschliefslichkeit; mit Codificirung dessen,
was die Wissenschaft gefunden, in Handbuch und Grammatik, liat er sich
nicht abgegeben. Arbeiten der reinen Forschung haben bis zu gewissem
Grade einen etwas ephemeren Charakter: entweder finden ihre Ergebnisse
allseitig Beifall und werden dann so Gemeingut und so selbstverständlich,
dals eine jüngere Generation kaum noch das Werk einsieht, dem sie ent-
stammen: oder sie werden von der Mitforschung verworfen, und dann
findet Übergang zur Tagesordnung statt; Charakteristisch für Johannes
Schmidt*s Forschung ist, dafs seine gröfseren Arbeiten alle, mögen sie
Beifall oder Widerspruch gefunden haben, diesen ephemeren Charakter
nicht tragen. Woher? Wohl keiner von Johannes Schmidt's Mitfor-
schern auf dem Gebiete der vergleichenden Grammatik ist in so hohem
Malse der Horazischen Regel : "^nonum prematur in annurri nachgekommen
wie er. Der Plan zu dem 1875 erschienenen »Vocalismus« wurde im
Winter 1864/65 gefafst und an seiner Ausfuhrung ununterbrochen gear-
beitet; der Grundgedanke der »Pluralbildungen der Neutra« wurde in einer
Vorlesung des ersten Semesters der Berliner Lehrthätigkeit 1876/77, die
betitelt war »Geschichte der indogermanischen Sprachen«, vorgetragen, die
Ausfuhrungen einzelner Seiten seit 1884 hier in den Akademiesitzungen
vorgelegt, 1889 erschien das Werk; die 1895 veröffentlichte »Kritik der
Sonantentheorie« ist die Ausfuhrung eines schon 1877 erhobenen Wider-
spruchs. Nicht Furcht vor Druckerschwärze oder Mifstrauen in die Richtig-
GedädUmfsrede auf Johannes Sehmidi. 9
keit des Erkannten waren die Ursache dieser Zurückhaltung. Es kam Jo-
hannes Schmidt, wie er selbst gelegentlich bemerkt, nicht darauf an,
durch Beibringen einer Anzahl von Beispielen eine Thatsache im allge-
meinen festzustellen und formell ein Prioritätsrecht zu registriren ; er stellte
höhere Ansprüche an sich und die eigene Arbeit. Richtschnur war ihm
die Forderung seines Lehrers Schleicher, »dafs die Sprachentwickelung
auf feste, unverbrüchliche Gesetze zurückgeführt werden müsse«, und dazu
war vor allem nöthig, die einem gefundenen Gesetze widersprechenden
Fälle sämmtlich zusammenzubringen und zu erklaren. Freilich um Sprach-
erscheinungen in dem Umfange vollständig darzustellen, wie es von Schmidt
in seinen Arbeiten geschah, war noch ein weiteres erforderlich: jene über
Grammatik und Lexikon hinaus bis zur philologischen Beherrschung ge-
hende Kenntnifs Schmidt 's von sämmtlichen indogermanischen Einzel-
sprachen, die es ihm ermöglichte, auch in Fragen, wo das Material nicht
durch eine systematische Sammlung zusammengebracht werden konnte,
durch jahrelang anhaltende Beobachtung selbst auf den entlegensten Ge-
bieten denkbar gröfste Vollständigkeit zu erreichen. So schuf er Werke
der reinen Forschung, die durch die Gediegenheit der Ausfulirung des
Themas und der eng damit zusammenhängenden Nebenuntersuchungen
einen länger bleibenden Werth haben aufserhalb der Frage, wie man sich
zum Thema und seinem Beweis selbst verhält. Die hohen Forderungen,
die Johannes Schmidt an seine eigene Arbeit stellte, machte er auch
zum MaTsstab für die Arbeiten der Mitforscher; manche Stunde tiefer Er-
regung und Bitterkeit ist ihm hieraus erwachsen, da er andersgeartetes
Temperament schwer zu verstehen vermochte und in erster Linie die Ge-
fahren sah, die der Forschung aus dem Hinwerfen nicht ausgereifter, wenn
auch wesentlich richtiger, neuer Gedanken erwachsen konnten.
Ein zukünftiger Geschichtschreiber der indogermanischen Sprachwissen-
schaft im ersten Jahrhundert ihres Bestehens würde der Bedeutung Jo-
hannes Schmidt's für sein Fach nur sehr unvollkommen gerecht werden,
wenn er ihn einzig messen wollte an dem, was er Neues gefunden hat, was aus
seiner Forschung Gemeingut der Wissenschaft und Ausgangspunkt för weitere
Forschung geworden ist. In der Krisis , die über die indogermanische Sprach-
wissenschaft im Beginn des abgelaufenen Vierteljahrhunderts hereinbrach,
wurden von der bisherigen Forschung erriclitete feste Schranken nieder-
gerissen, ohne dafs zunächst etwas an ihre Stelle trat; unbeschränkte Sub-
Gedächtm/sreden. 1902. III, 2
10 H. Z I M M E E : Gedächtnifsrede auf Johannes Schmidt
jectivität fieng mancher Orten an sich breit zu machen, so dafs die Be-
fürchtung nicht ungerechtfertigt erscheinen mochte, die vergleichende Gram-
matik steuere wieder auf den von Voltaire dahin charakterisirten Zustand
zu, dafs die Etymologie eine Wissenschaft sei, in der die Vocale nichts und
die Consonanten sehr wenig bedeuten. Es wxirde hierdurch weiterhin die
ernste Gefahr heraufbeschworen, dafs die Philologen, die nicht zum min-
desten durch G. Curtius' Verdienst mit der vergleichenden Grammatik sich
befreundet hatten, ihre Theilnahme zurückzogen; mufsten sie doch schon
durch die Form vieler sprachwissenschaftlicher Untersuchungen, die in der
Entfernung von den in den Sprachen wirklich vorliegenden Formen den Ein-
druck mathematischer Abhandlungen hervorriefen, abgeschreckt werden.
Mit klarem Blick erkannte Johannes Schmidt diese Gefahren für die
Sprachwissenschaft, und die Rolle, die er in dieser kritischen Zeit gespielt
hat, weist ihm seine Stelle in der Entwicklung der Sprachwissenschaft
an. Er war der Führer in der Reformbewegung, dessen durch Besonnen-
heit der Forschung und Tiefe des Wissens ausgezeichnete Schriften in
erster Linie dazu beitrugen, in weiten Kreisen der Philologen das in's
Schwanken gerathene Vertrauen zur vergleichenden Grammatik wieder zu
befestigen und die indogermanische Sprachforschung selbst der Wissen-
schaft zu erhalten.
PHYSIKALISCHE
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
AUS DEM JAHRE
1902.
MIT 1 TAFEL.
BERLIN 1902.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
OBDROCKT IN DER RBICHSDRUCKKRKI.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Inhalt.
Branco: Das vulcanische Vorries und seine Beziehungen zum vul-
canischen Riese bei Nordlingen. (Mit 1 Tafel) Abli. I. S. 1—132.
Das vulcanische Vorries und seine Beziehungen zum
vuicanischen Riese bei Nördlingen.
Von
H"" W. BRANCO.
]^ys.Ahh. 1902. I. 1
Gelesen in der Gesammtsitzung am 18. December 1902
[Sitzungsberichte St. LIII. S. 1111].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 25. Februar 1903.
VJTemeinsame Untersuchungen mit meinem Freunde, Hm. E. Fraas, liegen
der folgenden Arbeit zu Grunde. Sie bezieht sich wesentlich auf das Vor-
ries; indem aber die von uns im Vorriese gewonnene Überzeugung, dafs
hier eine grofse Explosion stattgefunden haben müsse, nothwendig auch
auf unsere Vorstellungen dem Riese gegenüber sich ausdehnen mufste, wird
auch dieses wieder in den Bereich der Arbeit mit hineingezogen werden.
Um die Centra der Explosion im Vorriese festzustellen, hat Hr. Dr. von
Knebel freundlichst die Aufgabe übernommen, eine kartographische Dar-
stellung der verschiedenen Intensitätsgrade der durch die Explosion hervor-
gerufenen Zertrümmerung (Vergriesung) des WeÜs- Jura -Kalkes zu geben
(Taf. I) ; auch die Vornahme von Schürfungen , behufs Feststellung zweifel-
hafter Lagerungsverhältnisse, hat der Genannte freundlichst auf sich ge-
nommen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen wird Hr. Dr. von Knebel
in der untenstehenden Zeitschrift* veröffentlichen; in vorliegender Arbeit
werden wir dieselben nur kurz mit anfahren.
Hr. Prof. Haufsmann hat femer die Liebenswürdigkeit gehabt, die
von ihm früher auf württembergischem Gebiete ausgeführte Untersuchung
der magnetischen Störungen^ nun auch auf das ganze Ries und Vorries aus-
zudehnen und so ein kartographisches Bild herzustellen, welches den Zu-
sammenhang der magnetischen Störungen über ein weiteres Gebiet und
wohl ihre Abhängigkeit von einer eisenreichen Eruptivmasse, dem Laccolith,
in der Tiefe erkennen läfst. In der Hoffnung, dafs Hrn. Haufsmann's
Arbeit in den Sitzungsberichten dieser Akademie för 1903 wird erscheinen
können, wollen wir hier nur kurz auf dieselbe Bezug nehmen.
^ 2ieitschr. d. Deutschen Geolog. Ges. 190a. Bd. 54, Heft 4.
' Das vulcanische Ries. S.54, Fig. 2.
4 B R A N c o :
In unserer Arbeit über das Ries haben wir bereits die Litteratur über
dasselbe besprochen. Wir müssen jedoch noch den Namen eines Mannes
Iiinzufögen, der um die Erforschung des Rieses sich hochverdient gemacht
hat, A. von Ammon. Er ist es, welcher vor langen Jahren die schwie-
rige geologische Kartirung des bayerischen, d. h. des überwiegend gröfsten
Theils des Rieses ausführte. Wenn auch sein Name auf dieser Karte und
in ihrer Beschreibung keinen Platz gefunden hat — jede Arbeit, die sich
mit dem Riese beschäfligt, ist dem Namen A. von Ammon einen solchen
schuldig. Auch des verdienstvollen ersten Versuches einer geologischen
Karte des Rieses* aus dem Jahre 1849 von Frickhinger und Schnizlein
«
sei hier nochmals gedacht, indem nun bereits die dritte Auflage der Karte
bez. des botanischen Werkes, in dem sie sich befindet, erscliienen ist.
Die neue Litteratur über das Ries folgt hier unten.^
* Das vulcanische Ries. S. 9, Anm. a.
' W. Branco und E. Fr aas, Das vulcanische Ries bei Nördlingen in seiner Be-
deutung für Fragen der allgemeinen Geologie. Abhandl. d. Könlgl. Preufs. Akad. d. Wiss. 1901.
S.i— 169, Taf. I, II.
W. Branco und £. Fraas, Beweis für die Richtigkeit unserer Erklftrung des vul-
canischen Ries bei Nördlingen. Sitzungsber. d. Könlgl. Preufs. Akad. d, Wiss. 1901. Bd. XXII,
S. 501— 524.
E. Koken, Gletscherspuren im Bereich der Schwäbischen Alb. Bericht über die Ver-
sammlung des Oberrheinischen Vereins. 31. Versammlung. 1898.
£. Koken, Geologische Studien im fränkischen Ries. I. N. Jahrb. f. Min., Oeol., Pal.
1898. Beilage-Band XII, 8.477 — 534> und IL, Beilage -Band XV, S. 422 — 472.
E. Koken, Beiträge zur Kenntuifs des schwäbischen Diluviums. N. Jahrb. 1900.
Beilage - Band , S. 1 20.
E. Koken, Die SchliiTflächen und das geologische Problem im Ries. N. Jahrb. 1901.
II. S. 67 — 88. Derselbe, Eine Nachschrift zu dem Aufsatz »Die Schliffflächen und das
geologische Problem im Ries«. N. Jahrb. 1901. II. S. 128.
von Knebel, Beiträge zur Kenntnifs der Überschielbungen am vulcanischen Ries von
Nördlingen. Inaug.-Diss. Berlin 1902. Zeitschr. d. Deutschen Geolog. Ges. 1902.
von Knebel, Weitere Beobachtungen der Überschiebungen am vulcanischen Ries
bei Nördlingen. Zeitschr. d. Deutschen Geolog. Ges., Bd. 55, 1903. Heft i.
Das vulcanische Vorries.
L Anzeichen einer grofsen vnlcanischen Gontaet -Explosion,
welche als mitwirkende Ursache der Breccien (Gries)- Bil-
dungen und der Üherschiebungen anzusehen ist.
Unterschiede zwischen den yulcanisehen Gebieten des Rieses und
von Urach. Mit der Erkenntnifs, dafs nicht die Kraft des Eises, sondern
diejenige des Vulcanismus es gewesen sein mufs, welche die räthselhaften
Überschiebungen und Breccienbildungen am Riese hervorrief, war die Frage
jenes Herganges natürlich noch nicht gelöst. Es war vielmehr an Stelle
des einen Räthsels zunächst nur ein neues getreten; denn Überschiebungen,
hervorgerufen durch vulcanische Kräfte, kannte man bisher noch nicht. Die
Art und Weise eines solchen Vorganges blieb daher zu erklären.
Der nächstliegende Gedanke für mich war der gewesen , dafs die Ries-
bildung eine Wirkung gleicher vulcanischer Explosionen sei, wie in dem
benachbarten vnlcanischen Gebiete von Urach.* So erklärt es sich, dafs
in der unten citirten Arbeit über dieses Gebiet von Urach ganz kurz auch
des Riesgebietes, auf Grund von von Gümbel's Auffassung, als einer
Maarbildung gedacht wurde.
Als wir dann beide gemeinsam uns mit dem Studium des Rieses be-
fafsten, ergab sich uns jedoch die Unmöglichkeit, die Ries -Phänomene auf
dieselbe Weise, also mit Hülfe derselben vnlcanischen Explosionen zu er-
klären, wie die Phänomene des Gebietes von Urach. Erwiesen sich doch
die vnlcanischen Erscheinungen hier wie dort als hochgradig verschieden,
obgleich sie sich in einem und demselben geologischen Körper, der Schwäbi-
schen Alb, vollzogen hatten. Wie hätte so Verschiedenartiges hier und
dort durch einen gleich werthigen Procefs entstanden sein können? Ein
kurzer Vergleich wird diese Unterschiede vor Augen fuhren.
Wir haben in der Schwäbischen Alb, bei Urach wie im Riese, ganz
dieselbe angenähert horizontale Lagerung des Schichtensystems, ganz die-
selbe Reihenfolge durch die Jura- und Keuperformation hindurch bis hinab
auf deren Unterlage, das altkrystalline Granit- und GneLGsgebirge. Wir
* W. Branco, Schwabens Vulcan - Embryonen. Jahreshefte d. Ver. f. vaterlSnd. Na-
turkunde in Wfirttemberg. 1894 und 1895. Stuttgart 1894 bei Schweizerbart.
6 Branco:
haben weiter bei Urach wie im Riese ganz dieselbe leichte und ephemere
Form des Vulcanismus : einfache Spratz- und Explosionserscheinungen , durch
welche lediglich eine Zerstiebung des Schmelzflusses zu Asche oder Schlacken
sowie eine Zerschmetterung der durchbrochenen Gesteine erfolgte, ohne dafs
es zum Ausflusse von Lavaströmen gekommen wäre.
Aber wir haben bei Urach, wenn auch an sehr viel zahlreicheren
Stellen als dort, nur diese Erscheinungen allein. Beim Riese hingegen
nicht nur diese, sondern aufserdem auch noch vier weitere, zudem viel
starker sich in den Vordergrund drängende Erscheinimgen , welche zu er-
klären waren : Einmal die ganz absonderlichen Überschiebungen mächtiger
zusammenhängender, geschichteter Schollen, und zwar theils älterer Schich-
ten auf jüngere hinauf, theils jüngerer Schichten , nämlich solcher des Oberen
Weifs-Jura, auf ältere hinab, nämlich auf das durch Erosion bereits von
der ehemaligen Bedeckung mit Weifs-Jura befreit gewesene Gebiet des
Unteren und Mittleren Braun -Jura bez. gar des Lias. Sodann zweitens
die Aufpressung des grofsen, 25^ Durchmesser besitzenden Riesgebietes
um einen Betrag von mehreren hundert Metern. Drittens den später er-
folgten Wiedereinsturz dieses erst aufgeprefst gewesenen Riesgebietes.
Viertens die massenhaften Breccienbildungen (Vergriesung) des Weife -Jura.
Es ergaben sich also trotz der ursprünglich völlig gleichartig gewe-
senen Lagerungs- und Gesteinsverhältnisse beider Gebiete doch überaus
verschiedenartige Wirkungen des Vulcanismus hier wie dort. Zwar die ein-
zelnen vulcanischen Ausbruchsstellen im Riese und im Vorriese verriethen
durch ihre Tuffe und Schlacken zweifellos die gleichartige Entstehungsweise
mit denen bei Urach durch vulcanische Explosionen, welche den Schmelz-
flufs und das anstehende Gestein zerschmettert hatten.*
Aber von jenen vier genannten, dem Riese au&erdem noch besonders
eigenen Erscheinungen konnte zunächst einmal die langsame Aufpressung
des Riesgebietes unmöglich als das Werk einer Eruption oder Explosion
angesehen werden ; sie konnte nur das Werk allmählich aufwärts gedrängten
Schmelzflusses sein.
Ein Einsturz sodann konnte zwar an sich wohl das Werk einer ge-
waltigen Explosion, also ein Maar, sein; aber in solchem Falle hätte man
erstens einen unge^r kreisförmigen , nicht aber den dem Rieskessel eigenen
^ Nur mit dem Unterschiede, dafs im Riese wohl bereits vorher vorhanden gewesene
Spal&n diese Ausbrüche erleichtert habeu; denn die Aufpressung mufste solche Spalten schafTen.
Das vuloanische Vorries. 7
polygonalen Umrifs erwarten können, und zweitens würde der Granit im
Riese, der dort noch heute ein etwa 200" höheres Niveau einnimmt, als
ihm zukommt, doch sicher diurch eine Explosion nur momentan, nicht
aber dauernd in diese Höhenlage versetzt worden sein; er wäre nach der
Explosion wieder zurückgesunken. So konnte also dieser Einsturz des Rieses
doch nicht das Werk einer Explosion sein, so lange man die Aufpressung
des Granites dort gelten lässt.
Die Überschiebung der grofsen Schollen konnte man ebenfalls nicht
auf Rechnung jener vulcanischen Eruptionen setzen; denn man sah ja im Ge-
biete von Urach, da& diese vulcanischen Explosionen lediglich ein Trümmer-
werk von Blöcken und kleinen Stücken zu erzeugen im Stande gewesen
waren. Ein solches Trümmer werk also hätte sich dann auch am Riese
finden müssen, nicht aber überschobene , gro&e, geschichtete Schollen.
Niir die Breccienbildung hätte man sofort auf Explosionen zurückge-
führt haben können. Dem stand aber im Wege, dafs bei Urach die Ex-
plosionen absolut nicht im Stande gewesen waren, solche Breccienbildungen
(noch auch jene Überschiebungen) hervorzurufen. Bei der überaus grofsen
Ähnlichkeit dagegen, welche diese Griesbreccien mit derjenigen Zerpressung
der Gesteine besitzen, die vieler Orten durch Gebirgsdruck entstanden ist,
erschien es uns einheitlicher, sie wesentlich ebenfalls auf einen Druck zu-
rückzufahren, welcher hier durch die Aufpressung des Riesgebietes erzeugt
wurde bez. durch den diese AuQ)ressung bewirkenden Schmelzflufs ; nebenbei
vielleicht auch noch auf Erdbeben und andere Ursachen.
Durch diese Aufpressung ergaben sich uns dann aber auiser der Breccien-
bildung als weitere Folgewirkung auch noch die Überschiebungen; denn
wenn ein Berg mit geneigter Schichtenstellung gewaltsam emporgedrängt
wird, dessen untere Schichten aus mächtigen Thonen , dessen obere Schich-
ten aus harten, aber durch die Emporpressung zerbrochenen Kalken be-
stehen, so waren, lediglich in Folge der Schwere, umfangreiche Abrut-
schungen und Bergstürze die noth wendige Folge einer solchen Bildung;
ganz abgesehen von denjenigen Überschiebungen , welche sich als Folge des
durch das Emporpressen hervorgerufenen Seitendruckes ergeben mufsten.
Abgleitang als Ursache von Überschiebungen. Dieser Gedanke, wel-
chen wir in unseren bisherigen Arbeiten auszufiihren suchten, ist an sich
ein durchaus statthafter. Jeder Bergsturz bewirkt eine derartige Über-
schiebung, sei es einer wüsten Trümmermasse, sei es mehr zusammen-
'
8 Brakco:
hängender SclioUen; in dem kleinen Gebiete der Schweiz allein sollen nicht
weniger als 150 katastrophenartige Bergstürze zu verzeichnen sein^ welche
sich jetzt noch erkennen lassen. Aber auch ungemein viel grofsartigere und
in ihrem Charakter als solche ganz sichergestellte Überschiebungen hat man
von verschiedener Seite lediglich zurückzuführen versucht auf ein Abgleiten
riesiger Gebirgsmassen von höher aufgeprefsten Stellen des Gebirges aus auf
die niedriger liegenden, also auf denselben Vorgang , den wir im Auge haben:
Ganz allgemein sucht auf solche Weise bekanntlich Reyer's Faltungs-
hypothese* die Entstehung von Kettengebirgen auf Abgleiten als möglich
zurückzufuhren, xmd derartige Vorgänge würden natürlich mit Überschie-
bungen verknüpft sein müssen.
Speciell hat Gosselet* gewisse Faltungen in den französischen Alpen
und in den Ardennen in solcher Weise erläutert und sehr anschaulich ge-
zeigt , wie bei Bourg d'Oisans der Lias auf der Höhe in horizontalen Schichten
liegt, während die am Abhänge abgerissenen und abgeglittenen Schichten
im Thale sich zu Falten zusammengestaut haben.
Neuerdings sucht auch Schardt* durch ein einfaches Abgleiten die
Thatsache zu erklären, dafs überall in den schweizerischen Voralpen die
geologisch alten Schichten der Trias , des Perm und Garbon auf den jugend-
lichen Bildungen des Flysch liegen. Zu Beginn der oligocänen Zeit seien
die centralen Gebiete der Alpen mit ihrer damaligen sedimentären Decke
hoch aufgeprefst worden. An dem steilen Nordabhange sei ein 300^ breites
Band dieser Sedimente in 's Gleiten gekommen imd nun langsam, lediglich
durch die eigene Schwere, 60 — 80^ weit nach N. auf den Flysch hinauf
geglitten. In den heutigen dortigen »Klippen« sähen wir die Erosions-
reste dieser abgerutschten Decke, welche natürlich Reibungsbreccien er-
zeugte und aus dem krystaUinen Gebiete die »Findlingsblöcke« gen N.
schob.
In ganz derselben Weise wendet Taramelli* diese Art zu sehen auf
analoge Lagerungsverhältnisse der Lombardischen und Venetischen Alpen
* Neues Jahrbuch f. Min., GeoL, Pal. 1877. S. 916.
^ Theoretische Geologie. Stuttgai*! 1888. S. 480 — 484.
■ Bulletin soc. geologique de France. 3* ser. Bd. IX. 1880 — 1881. p. 690.
^ Eclog. Geol. Helvet V. 1898. p. 233 — 250. Bulletin soc. vaud. des sc. nat. 34. 1898.
p. 114 — 219.
^ Rendiconti Reale Istituto Lombardo sc. e lettere (2). Bd. XXXI. 1898. p. 1368
bis 1375.
Das tmlcanische Vorries. 9
an und giebt zu erwägen » ob nicht auch im Appennin manche Überschie-
bungen auf dieses einfache Abrutschen zurückzufahren seien.
Auch Brögger, wie ich einer fi^undlichen mündlichen Mittheilung des
verehrten Herrn CoUegen entnehmen darf\ fuhrt bedeutende Überschie-
bungen in Norwegen zurück lediglich auf ein Abgleiten der Massen von
höher gelegener Stelle her.
Man sieht, unsere Vorstellung, dafe die Überschiebungen am Riese
durch einfaches Abgleiten von dem durch Aufpressung vorübergehend ge-
bildeten Riesberge entstanden sein möchten, ist wahrlich keine allzu kühne;
denn in ganz unvergleichlich stärkerem Grade wird solche Vorstellung von
verschiedenen anderen Autoren angewendet.
Beispiele localer Aiif^ressungen. Ganz ebenso ist aber auch die andere
Vorstellung, welche wir uns am Riese gebildet hatten, heute eine durchaus
nicht fremd klingende: dafs nämlich durch Empordrängen bez. -gedrängt-
werden von SchmelzfluXs über dieser Stelle ein Berg emporsteigen könne ;
denn eine solche, die Decke emporhebende Kraft wird von vielen Autoren
den Laccolithen zugestanden. Wir haben bereits früher Gründe und An-
schauungen Anderer* sowie Beispiele angeführt, welche för das Vorhanden-
sein derartiger localer Hebungen, veranlaTst durch aufwärts drängenden
Schmelzflufs, sprechen. Es sei dem hier noch Weiteres angefugt.
In seinen Studien am Adamello hat Salomon nachgewiesen^, daCs
die im Minimum 4860 Milliarden schwere Tonalit- Magmamasse bei ihrer
Intrusion wenigstens 5250™ hochgehoben worden sein mufs. »Und das ist
eine Thatsache, keine Hypothese!« Im gleichen Mafse wurden natürlicli
die den Tonalit überlagernden Sedimente, einen Berg bildend, empor-
geprefst. Ergiebt das nicht ein vollkommenes Analogon, sogar sehr
viel gröfseren Mafsstabes, mit dem Bilde, welches wir uns vom Riese
machten?
In ähnlicher Weise erklärt auch Hinterlechner ein allerdings wohl
kleineres Vorkommen in Ostböhmen.* Über dem Kunititzer Eruptiv- Magma
hat einst der Plänerkalk eine Decke gebildet. Letztere ist dann von dem
* Gedruckt findet sich das Gesagte in einer mir leider nicht zugänglichen Schrift:
Norge i det 19^' iarhundered. Geologie.
* Das vulcanische Ries. S. 20 — 24.
» Sitzungsber. d. König). Preuss. Akad. d. Wiss. Bd. XXXI. 1901. S. 746.
* Jahrbuch k. k. Geolog. Reichsanstalt. Jahrg. 1900. Bd. 50. Wien 190 1. S. 476, Fig. 1.
Phf/s.Abh. 1902. I. 2
10 Branco:
Magma in die Höhe geprefst worden, wobei zufällig eine grofse Scholle in
höherem Niveau bis heute auf dem Eruptivgesteine liegen blieb.
Dathe^ that soeben dar, dafs der Porphyrstock des Hochwaldes bei
Waidenburg in Niederschlesien die ihn ehemals überlagernden Walden-
burger, Weifssteiner und Schatzlarer Schichten — wesentlich Conglomerate
imd Sandsteine — bei seiner Emporpressung allseitig hochgehoben habe.
An der SO.- Seite des Porphyrstockes entsendet derselbe eine Apophyse,
i^-^™ lang, 0^4 breit, in diese Schichten hinein, welche dieselben gleich-
falls im "Contacte ein wenig gehoben hat. Unmöglich wird man annehmen
können, dals in diesen Conglomeraten und Sandsteinen durch den Gebirgs-
druck eine vorhergehende Aufblätterung, also Hohlraumbildung, erfolgt sei,
so dafs der Porphyr nur in den präexistirenden Hohlraum eingetreten wäre,
nicht aber selbst sich denselben gebildet habe. Eine solche riesige Höhle
wäre wohl im selben Mafse eingestürzt, in dem sie sich gebildet hätte.
Gegenüber leicht blätternden Schiefergesteinen könnte man vielleicht eine
solche Vorstellung sich bilden; hier, gegenüber brüchigen Sandsteinen und
Conglomeraten, kaum.
In gleicher Weise hat sodann Hr. Beushausen, wie ich einer freund-
liehen Mittheilung entnehmen darf, die Überzeugung gewonnen, dafe im
Harze der Granit des Brockenmassivs nicht passiv in einen vorher vorhan-
denen Hohlraum eingedrungen sei, sondern bei der Aufwölbung der ihn
überlagernden Schichten selbst eine active Rolle gespielt habe.
In seiner »Geologie des Tatragebirges «^ kommt Uhlig ebenfalls zu dem
Schlüsse, dafs hier, unabhängig von dem Seitendrucke, welcher Faltungen
und Überschiebungen der Schichtgesteine bewirkte , noch ein verticales Auf-
steigen quadratischer oder rechteckiger Massen des Urgebirges speciell Gra-
nites stattgefimden zu haben scheint. Es ergiebt sich sogar, dafs diese
verschiedenen Granitmassen bis zu sehr verschiedener Höhe senkrecht em-
por gehoben worden sein dürften; so erweist sich die Woloszyn-Masse viel
stärker gehoben, als die ihr östlich benachbarte Granitpartie. Wenn man
demgegenüber vielleicht meinen wollte , diese verticalen Hebungen im Tatra-
gebirge könnten doch etwa nur eine Folgeerscheinxmg des Seitendruckes
^ Zeitschrift der Deutschen Geolog. Ges. 1902. Heft 4. Ref. s. Ztschr. f. prakt. Geo-
logie. 1902. S. 505 — 510, speciell 509.
* Denkschriften der math.-naturw. Cl. der k. Akad. d. Wiss. Wien. Bd. LXFV. 1897.
S. 113.
Das vukanische Vorries. 11
bez. der Faltung sein, so ergiebt sich eine solche Lösung hier als unmög-
lich ; denn diese Granitkeme zeigen keinerlei Spuren eines etwaigen Seiten-
druckes. So sehr vorsichtig sich Uhlig auch in dieser Beziehung ausdrückt,
und so sehr er namentlich über die Ursache des Aufsteigens keinerlei Ver-
muthungen ausspricht — man wird doch, wie er hervorhebt, die bemerkens-
werthe, durch senkrechte Hebung am ehesten erklärliche Thatsache nicht
übersehen dürfen , dafs auch in anderen Gebirgen Granitmassen häufig die
höchsten Erhebungen des Gebirges bilden. So eröffnet er den Ausblick auf
locale Aufpressungen altkrystalliner Gesteine als eine allgemeine Erscheinung.
Wenn nun aber Seitendruck^ als Ursache hier, speciell in
der Tatra, ausgeschlossen ist, dann bleibt als Ursache solcher
localen Aufpressungen wohl keine andere Erklärung übrig, als
diejenige, welche wir zur Erklärung der Aufpressung des Ries-
gebietes angewendet haben: Aufwärts drängender, bez. ge-
drängter Schmelzflufs.
Es liegt nahe, an dieser Stelle gerade auch auf das Verhalten vieler
vulcanischer Inseln hinzuweisen, bei denen sich deutliche Anzeichen von
negativen Strand Verschiebungen , bez. also von Hebungen, erkennen lassen.
Erklärlicherweise werden aber derartige Beispiele nur dann als beweisend
för eine solche locale Hebung, wie wir sie hier im Auge haben, angesehen
werden können, wenn in einem und demselben Meere bez. Meerestheile
die verschiedenen Inseln regellos gleichzeitig hier gehoben, dort gesunken,
da unveränderten Niveaus erscheinen; denn nur in solchem Falle müssen es
ja die Inseln sein, welche entweder von localer Hebung oder von Senkung
oder von Beidem nach einander betroffen worden sind.
Wenn dagegen in einem Meere gleichzeitig entweder alle Inseln ge-
hoben oder aUe gesenkt erscheinen, dann kann das natürlich ebenso gut
auch durch eine Senkung oder Hebimg des Meeresspiegels erklärt werden.
Zudem würde, wenn wirklich dennoch eine Hebung oder Senkung der
Inseln selbst stattgefiinden haben sollte, das hier auf eine Hebung oder
Senkung des ganzen Meeresbodens einschließlich aller ihm aufgelagerter
^ Ob dieser Seitendruck gedacht wird als Folge der Abkühlung der Erde und des
dadurch hervorgerufenen Zusammenbruches der Erdrinde, oder als Folge der Pressung, welche
nach Pilär durch die Keilgestalt der Erdschollen hervorgerufen wird, das ist gleichgültig;
denn auch im letzteren Falle entsteht eben eine Pressung (vergl. W. Branco, Wirkungen
und Ursachen der Erdbeben. Universitäts- Programm. Berlin 1902. S. 92, 93).
2*
12 Branco:
Inseln hinauslaufen. Es würde sich dann also um eine Aufwirts- oder
Abwärtsbewegung eines gröfseren Theiles der Erdkruste handeln, nicht
aber um locale, eng begrenzte derartige Bewegungen, wie wir sie hier
gerade im Auge haben als Analoga zu der Aufwärtsbewegung bez. Empor-
pressung des Riesgebietes.
Vorsicht wird mithin in dieser Beziehung Inseln gegenüber nothwendig
sein. Trotzdem aber lassen sich Beispiele finden, aus welchen, wie es
scheint, eine ganz locale, auf die Insel oder gar nur auf Theile der Insel
beschränkte Hebung hervorgeht; eine Hebung, die man dann wohl nur
dem local empordrängenden Schmelzflusse wird zuschreiben können.
Gerland^ hat ein derartiges, regellos erfolgendes Aufsteigen und Ab-
sinken bei vulcanischen Inseln, die in einem und demselben Meere liegen,
vor einigen Jahren behandelt. Er unterscheidet an der Vulcan- Insel den
auf dem Meeresboden ruhenden, aufgeschütteten Sockel und den den Erup-
tionskanal erfüllenden Eruptivpfeiler, welcher aus dem zuletzt Emporge-
quollenen besteht, daher noch mit dem Magma in Verbindung steht. Der
Sockel behält im Allgemeinen zugleich mit dem festen , sehr dichten Meeres-
boden, dem er aufliegt, dieselbe Lage. Aber der bez. die diesen Sockel durch-
setzenden Eruptivpfeiler, somit auch deren Spitzen, die Gipfel des Berges,
steigen empor oder sinken hinab mit dem Magma; denn sie schwimmen auf
dem Magma, werden daher gemäfs dem specifischen Gewichte imd dem
hydrostatischen Drucke steigen oder sinken müssen.
Als ganz nebensächlich wird man den Unterschied ansehen können,
dafe hier nur die Producte der früheren Eruptionen durch den Schmelz-
flufs gehoben werden, während im Riesgebiete durch den Schmelzflufs das
Sedimentgebirge und der Granit gehoben wurden. Hauptsache bleibt ja
doch, daß durch das Magma die überliegende Gesteinsmasse local empor-
geprefst wird. Aus was för Gesteinen diese letztere besteht, ist Nebensache.
FaUs also die von Gerland versuchte Lösung dieser eigenartigen
localen Hebungserscheinungen bei vulcanischen Inseln das Richtige treffen
sollte, so würde man auch diese Erscheinungen als ungefähres Analogon
der Wirkungen des Schmelzflusses im Riese, wie wir sie uns gedacht haben,
anföhren können.
Diese weiteren, den früher von uns angeführten sich an-
schliefsenden Beispiele mögen abermals zeigen, dafs die von uns
^ Beiträge zur Geophysik. 1895. Ekl. II, S. 25.
Das tmlcanische Vorries. 13
zur Erklärung der Riesphänomene zur Anwendung gebrachten
beiden Vorstellungen
einmal von localen, engbegrenzten Hebungen durch
emporgedrängten Schmelzflufs, zweitens von Abrutschun-
gen sogar ausgedehnter Schichtenmassen von gehobenen
Gebieten
keineswegs so vereinzelt dastehen und in ihrer Combination
nicht derartig Absonderliches darbieten, dafs man vor ihnen
bei der Erklärung der Riesphänomene zurückschrecken mfifste.
Wer daher eine Emporpressung und Bergbildung im Riese überhaupt
annimmt — und Koken stimmt in dieser Annahme ja völlig mit ims über-
ein — , der kann sich auch vor diesen nothwendigen Folgewirkungen der
Bergbildung nicht verschlie&en.
Grofsenbetrag der Uberschiebnngen am Riese. Ein Einwiuf , welchen
man unserem Erklärungsversuche entgegenstellen könnte, lie&e sich somit
nicht damit begründen, dafs wir zwei den heutigen Erfahrungen und
Vorstellungen geläufige Dinge mit einander combinirt haben, um das Zu-
Standekommen der ja zweifellos am Riese vorhandenen Überschiebungen
zu erklären. Ein Einwurf könnte wesentlich nur basirt werden auf den
Grölsenbetrag der Überschiebungen, die wir damit erklären wollen; also
auf die Länge der Wegstrecke, welche die überschobenen Massen zu-
rückgelegt haben. Man könnte nur einwerfen, dafs unser Riesberg nicht
genügend grofs erscheine, um so weithingehende Überschiebungen her-
vorzurufen.
Es dürfte daher angezeigt sein, darauf hinzuweisen, dais die Gröfse
der Überschiebungen am Riese doch keine so gewaltige ist, wie das der-
jenige vielleicht denkt, welcher den Ries -Verhältnissen femer steht. So
ergeben sich für die Braun -Jura- und Untere Weifs -Jura -Masse, die bei
Hertsfeldhausen auf Oberem Weifs -Jura liegt, eine ungefähre Entfernung
vom Riesrande von 2^°*; für die Braun -Jura- und Untere Weifs -Jura -Masse,
die auf dem Buchberge über Weifs -Jura ß liegt, eine solche von etwa 4*"™
bez. nur I^"5, wenn man von dem östlich davon liegenden Theile des
Egerthales aus rechnet; far die Braun - Jura -j8- Masse, die sich bei Unter-
Riffingen auf Oberem Weifs -Jura findet, eine solche von gegen 6*™*; für
die Schuttmasse, die bei Lauchheim den Weifs- Jura ß überlagert, eine
solche von 6 — 8*™.
14 Branco:
Da das im S. des Rieskessels gelegene Vorries ein selbständiges Auf-
bruchsgebiet darstellt, so kann man selbstverständlich nicht die bis zu 12
und 14^ steigende Entfernung der dortigen Braun -Jura -Massen vom Ries-
rande, wie das geschehen ist, als einen Einwurf gegen unseren Erklärungs-
versuch hinstellen; denn dort etwa vorhandene Überschiebungen, welche
im Vorriese auf dem Weifs- Jura lägen, wären ja. gar nicht vom Riese, son-
dern vom Vorriese aus überschoben worden. Ob sie weit vom Riesrande
entfernt oder nahe demselben liegen, das kann somit weder gegen noch
für unsere Auffassung geltend gemacht werden.
Es ergeben sich also für die zu erklärenden Überschiebungen
am Riese doch nur Strecken von 2, 4 bez. i-f, 6 — 8 und 6^, vom
Riesrande an gemessen. Genau lassen sich diese Entfernungen freilich
überhaupt nicht abmessen, da es eine Schwierigkeit darbietet, der^jenigen
Punkt des Riesrandes festzustellen, von welchem aus wahrscheinlich die
betreffende Überschiebung ausgegangen ist. Für diejenigen Überschie-
bungen, bei welchen Weifs-Jura-SchoUen auf das damals bereits
erodirt gewesene Braun -Jura-Gebiet erfolgten, wie bei Kirch-
heim, Dirgenheim u. s. w., ist vermuthlich der Betrag der über-
schobenen Strecke ein geringerer als der oben angegebene.
Mitwirkung einer grofsen Contaet« Explosion. Indessen selbst eine
Überschiebung der Schollen auch nur bis auf eine Strecke bis zu 8^, ledig-
lich erklärt durch Abgleiten von dem Riesberge in Folge der Schwere, bez.
durch Seitendruck bei seiner Aufpressung, könnte in diesem Falle vielleicht
immer noch gewisse Bedenken bei Manchem hervorrufen. Darum erscheint
es wünschenswerth , noch auf eine zweite Kraft hinzuweisen, welche im
Vorriese deutliche Spuren hinterlassen hat, aber auch im Riese jener erste-
ren verstärkend zur Seite gestanden haben dürfte; indem sie nämlich den
vom Berge abgleitenden, überhaupt aber allen den Berg bildenden Massen
einen gewaltigen Anstoßi gab, mit grofser Geschwindigkeit und Kraft ab-
zufahren.
Wir meinen eine gewaltige Explosion, hervorgerufen vielleicht durch
die plötzliche Verwandlung einer grofsen unterirdischen Wasseransammlung
in Dampf, in Folge der Einwirkung des aufwärts gepreisten Schmelzflusses.
Zu einer solchen Annahme einer grofsen Explosion drängen
uns die geologischen Verhältnisse in dem von uns in der vor-
liegenden Arbeit untersuchten Vorriese:
Das vulcamsche Vorries. 15
Einmal treten hier inselfÖrmig, inmitten der ungestörten Weifs -Jura-
Kalke der Albhochfläche, grofse Gebiete vergriesten, in Breccie verwan-
delten Kalkes auf, die nicht überschoben, sondern anstehend zu sein scheinen;
jedenfalls aber, wenn doch hier und da überschoben, nur ein wenig ver-
schoben sein dürften. Das Vorhandensein solcher isolirten Griesinseln aber
deutet darauf, dafe an der betreffenden Stelle explodirende Gase sich Bahn
gebrochen haben.
Sodann lilst sich erkennen, dafs die verschiedenen Intensitätsgrade
der Vergriesung im Allgemeinen nicht regellos in diesen Inseln vertheilt
sind, sondern dafs sich nicht selten für jede Insel ein irgendwo gelegenes
centrales, am stärksten vergriestes Gebiet ergiebt.
Weiter zeigt sich , dafs diese Inseln nicht etwa mit Spaltenbildungen
verknüpft, also nicht durch solche hervorgerufen zu sein scheinen.^ Wenn
dem aber so ist, dann dürft« eine grofse Explosion die Ursache sein, welche
die Massen erschüttert, hochgehoben, dabei zerschmettert und hier und da
auch etwas verschoben hat. Auf ein heftiges Erdbeben kann man diese
Wirkungen darum nicht zurückführen, weil dann diese Vergriesung mehr
allgemein verbreitet, nicht auf Inseln beschränkt sein müfste.
Endlich aber liefs sich erkennen , dafs im Vorriese so grofse Überschie-
bungen umfangreicher Schollen, wie am Riese z. B. die Buch berg- Kappe,
wie uns scheinen will, fehlen; denn die auf dem Weifs -Jura im Vorriese
liegenden Fetzen von Keuper- und Braun- Jura -Thon möchten wir im All-
gemeinen für herausgequetscht bei der AuQ)ressung des Granites bez. auch
für ausgeworfen bei der Explosion, nicht fiir überschoben auffassen.
Dieser Unterschied zwischen Vorries und Ries scheint sich uns da-
durch zu erklären, dafs im Vorriese lediglich die Explosion, nicht aber auch
eine vorhergehende Aufpressung des ganzen Gebietes^ stattgeftinden hat;
darum fehlen hier so grofse Überschiebungen. Wogegen am Riese eine vor-
hergehende allgemeine Au^ressung stattgefunden hat, so dafs nun, theils
nur in Folge dieser, theils unter Beihülfe der Explosion, von dem aufge-
prefsten Gebiete die grofsen Uberschiebungsmassen abfahren konnten.
* Die das Woraitzthal begleitenden Griesbildungen wurde man freilich, da diesem
Thale eine Spaltenbildung zu Grunde liegt, mit letzterer in Verbindung bringen können. Pls
ist auch durchaus denkbar, dafe ein Theil dieser Weifs- Jura -Breccien durch Gebirgsdruck
entstanden sein konnte, der durch die Aufpressung des Rieses und die daraus folgende Spalten-
bildung hervorgerufen wurde.
' Aufser in der Granitzone (s. Abschnitt II und Taf. I).
16 Branco:
So ergiebt sich ein Rückschlufs von den Verhältnissen im Vorriese auf
die des Rieses.
Durch die Explosion würden also die folgenden Erscheinun-
gen hervorgerufen sein: eine Zertrümmerung des von ihr betroffenen
Weifs- Jura -Kalkes, soweit solche nicht bereits durch den mit der Auf-
pressung verbundenen Druck ^ erfolgt war; ein Zerblasen des Granites^; ein
Emporschleudem der auf dem betroffenen Weifs- Jura etwa liegenden jün-
geren Massen, wie Buchberg - Geröllsand oder andere Terti&rgesteine ; ein
Auswurf älterer, namentlich thoniger Fetzen von Keuper- und Jura- Massen,
soweit solche nicht heraufgequetscht wurden bei Aufpressung des Granites ;
ein Anstoß; zum Abgleiten der grofsen Überschiebungsmassen vom Ries-
berge, soweit solche nicht von selbst durch ihre Schwere abglitten.
Dagegen möchten wir uns diese grofse Explosion zeitlich
unabhängig denken von den relativ kleinen Explosionen, durch
welche im Riese wie im Vorriese die vulcanischen Schlacken- und
Aseheneruptionen hervorgerufen wurden. Die gewaltige Explosion
vorausgehend, ohne vulcanische, d. h. magmatische Ausbrüche; die kleinen
vulcanischen Eruptionen dann später folgend, im Riese und im Vorriese
ganz so verlaufend wie bei Urach , welchem letzteren Gebiete jene gewal-
tige Explosion überhaupt fehlte. Auf solche Weise bliebe auch die Ein-
gangs dargelegte (S. 5 — 7) Überzeugung zu Recht bestehen, dafs unmöglicli
im Riese und bei Urach so sehr verschiedenartige Wirkungen durch einen
und denselben gleich werth igen Vorgang erzeugt sein könnten.
Derartige immerhin kleinere Explosionen, wie sie beiden Gebieten
zweifellos gemeinsam waren, da sie hier wie dort jene relativ leichten
Spratzerscheinungen des Schmelzflusses und Zertrümmerungen der Gesteine
li ervorriefen , waren und sind offenbar unvermögend, die in Rede stehen-
den Breccienbildungen und Überschiebungen in's Leben zu rufen; denn
sonst würden sie das auch bei Urach und an zahlreichen anderen Orten
der Erde gethan haben. Dazu bedurfte es eines ganz bedeutend viel grofis-
artigeren Explosionsvorganges, der sogar vielleicht in einem einzigen Augen-
blicke Alles in Bewegung setzte und bewirkte.
Abgesehen von diesem Grunde aber haben wir im vulcanischen Tuffe
Stücke von Weifs- Jura -Breccie gefunden und von Knebel hat neuer-
^ Das vulcanische Ries. S. 60 und vorliegende Arbeit S. 7.
^ Siehe granitische Explosionsproducte in Abschnitt II.
Das vukanisehe Vorries. 1 7
(lings bei Burgmagerbein gro£se Blöcke solchen Grieses im Tuffe entdeckt.
Er betont mit Recht , dais dieser Breccienkalk wohl nicht erst durch den
Ausbruch des Tuffes entstanden, d. h, vergriest sein kann. Wäre letzteres
der Fall gewesen , wäre bei diesem Ausbruche ein unzertrümmerter Kalk-
block in die Luft geschleudert worden und dann in die weiche, federnde
Asche zurückgefallen , so würde der Block unmöglich zu einer solchen Breccie
zerschmettert worden sein. In dem benachbarten Gebiete von Urach, in
welchem an über hundert Stellen Ausbrüche von Asche stattfanden, bei
denen Ealkblöcke des Weifs-Jura gleichzeitig emporgeschleudert wurden
und in die Asche fielen , habe ich in der That niemals eine solche Breccien-
bildung derselben geAmden.
Sodann aber macht von Knebel geltend, dals diese im Tuffe liegen-
den Blöcke von Weifs-Jura-Gries zu einer festen Breccie verkittet sind.
Dieser Umstand aber lä£st ebenfalls darauf schliefsen, da& die Zerschmet-
terung der Blöcke schon firiher durch einen anderen Vorgang erfolgte, dafs
bis zur Verkittung seiner zahllosen Stückchen ein gewisser Zeitraum ver-
strich, nach dessen Ablauf dann erst der Aschenausbruch erfolgte.
Für sich allein würde allerdings dieser Grund nicht beweiskräftig sein,
da ja auch der vulcanische Tuff seit seiner ersten Entstehung als Asche
zu einem festen Gesteine verkittet worden ist. Das Gleiche konnte folg-
lich auch bei den in ihm liegenden Breccienstücken geschehen. Aber in
Verbindung mit jenem ersteren Grunde und dem folgenden dritten gewinnt
er an Wahrscheinlichkeit.
Dieser dritte Grund liegt in dem später nochmals zu besprechenden
Umstände , dals die Breccienbildungen des Weifs-Jura-Kalkes auch an solchen
Orten gefunden werden, an denen keine Spur von vulcanischen Tuffen sicht-
bar ist. Das deutet ebenfalls darauf hin, dafs die Eruptionen der letzte-
ren und die grolse Explosion zwei zeitlich getrennte Ereignisse gewesen
sein dürften. Wären dagegen beide Ereignisse zeitlich zusammengefallen,
dann wäre kein Grund vorhanden, warum so starke Griesbildungen , wie
sie südlich vom Vorriese entstanden, nicht auch von Eruptionen vulcani-
scher Tuffe begleitet worden sein sollten. Offenbar aber war damals, zur
Zeit der grofsen Explosion, der Schmelzflufs noch nicht hoch genug ge-
stiegen, um mit zerstiebt werden zu können.
Damit wollen wir nicht gesagt haben, dafs die Aschenausbrüche im Vor-
riese und Riese nicht nachher auch zum Tlieil dieselben Wege benutzt haben
Phys.Ahh. 1902, L 3
18 Branco:
sollten, welche ilmen vorher durch diese gewaltige Explosion eröflTnet worden
waren ; das wäre widersinnig. Wir wollen nur sagen , dafs wir im Allge-
meinen zwei zeitlich getrennte Vorgänge unterscheiden zu sollen glauben.
Durch von Knebel wird der Versuch gemacht werden, im Vorriese
die verschiedene Intensität der Vergriesung zu benutzen, um auf diese
Weise die Ausbruch ssteUen der Gase dieser Explosion festzustellen. Indem
drei verschiedene Grade der Zertrümmerung des Weifs- Jura unterschieden
werden, ein stärkster, mittlerer und schwächster, wird durch kartographi-
sche Darstellung derselben ein Bild dieser Verhältnisse erreichbar sein. Das
Unternehmen hat erklärlicherweise mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dafs
ein Urtheil über verschiedene Grade der Zertrümmerung eines Gesteins sich
wohl in extremen Gegensätzen leicht gewinnen läfst, sonst aber dem sub-
jectiven Ermessen unterworfen bleibt, und dafs es vor Allem auch in seinem
Erfolge sehr von dem Vorhandensein von Aufschlüssen abhängt. Trotzdem
hoffen wir auf diese Weise ein angenähert richtiges Bild des Thatsächlichen
erlangen zu können \
Dankbar müssen wir der Anregung gedenken, welche uns durch Hrn.
E. Süfs hinsichtlich der Annahme einer Explosion geworden ist. In seinem
Antlitz der Erde^ hatte derselbe bei Besprechung der Riesphänomene freilich
mehr auf die Einsturzvorgänge sein Augenmerk gerichtet. In seinen Studien
über den Mond jedoch hatte er hervorgehoben, wie die plötzliche Ver-
wandlung unterirdischer Wasseransammlungen in Dampf die Ursache solcher
heftigen vulcanischen Explosionen bilde'; und in einem Briefe, welchen wir
der liebenswürdigen Theilnahme des hochverehrten Meisters an unseren
Ries -Untersuchungen verdanken, gab er der Überzeugung Ausdruck, dafs die
Annahme einer gewaltigen Explosion alle Riesphänomene erkläre.
Wenn auf solche Weise nun ein neuer Factor, der einer grofsen Ex-
ph)si()n, in die Erklärung der Riesphänomene hineingetragen ist, so wird
unter diesem neuen Gesichtspunkte die Frage zu prüfen sein, ob unser
früherer Erklärungsversuch: Eine Aufpressung des Riesgebietes habe die
betreffenden Erscli einungen hervorgerufen, nun auch noch anwendbar sei,
^ Die freundlichst von Hrn. von Knebel noch rechtzeitig uns zur Verfügung gestellte
Karte , Tafel I , giebt ein Bild dieser Verhältnisse.
* Bd.I. S.259.
* Sitzungsberichte uiatliem. - phys. Cl. der k. k. Akademie in Wien. Bd. 104, Abth. 1.
1895. S. 34.
Das tnäoatmche Vorries. 19
oder ob die Explosion allein alle RiesphRnomene erklären könne, ohne dafs
es hierzu der weiteren Annahme einer vorhergegangenen Au^ressung des
Riesgebietes bedfirfe.
firaiide, welche die Annahme einer, der Explosion vorhergehenden
Hebung im Riesgebiete nöthig machen. So sehr nun aber auch, namentlich
im Vorriese , die Verhältnisse zur Annahme einer grofsen Explosion drängen,
so liegen doch auf der anderen Seite, im Riese, die Dinge derart, dafs
wir der Zuhülfenahme einer Aufpressung nicht entbehren zu können glauben.
Ja, auch im Vorriese zwingt die granitische Zone, wie uns scheint, zur An-
nahme einer, wenn auch nur kleineren localen Au^ressung.
In der Thatsache der Überschiebung so grofser, zusammenhängender
Schollen, wie z. B. am Buchberge, scheint uns die Schwierigkeit, ja Un-
möglichkeit zu liegen, lediglich durch eine grofse Explosion, ohne Zuhülfe-
nahme einer vorherigen Riesbergbildung, also ohne vorherige Aufpressung,
die Riesphänomene zu erklären. Wir glauben daher zunächst. Gründe und
Thatsachen darlegen zu sollen, welche uns zum Festhalten an einer solchen
Aufpressung zwingen; wobei sich freilich nicht umgehen läfst, dafs wir in
Abschnitt II , bei Besprechung der Eruptions- und Explosionsproducte, noch-
mals, weil zum Theil unter anderen Gesichtspunkten, auf diese Frage
zurückkommen müssen.
Nehmen wir die Buchberg-Scholle. Vom Braun-Jura a an bis hinauf zum
Weifs-Juraa hin ist hier das ganze Schichtensystem um ungefähr 130"*
senkrecht gehoben bis auf das Niveau des Weifs- Jura )8, dann seitwärts auf
letzteren mehrere Kilometer weit übergeschoben. Würde nun die Hebung
momentan , d. h. durch eine Explosion , erfolgt sein , so hätte die ganze
grofse Scholle, Schichtung und Zusammenhang bewahrend, nicht nur
100 — 130" hoch durch die Luft, sondern dann auch noch seitwärts über
die Alb mehrere Kilometer weit geflogen sein müssen. Je mehr man diese
beiden auf* einander senkrechten Bewegungsrichtungen in zwei mehr stumpf-
winkelig an einander stofsende und schliefslich in eine geradlinige, schräge
sich umgeändert denkt, desto weiter wird die Entfernung, welche den
heutigen Ort der Buchberg- Scholle von dem ihres ehemaligen Anstehens
trennt, desto eher mufste also ein Zerbrechen der grofsen Scholle statt-
finden. Wollte man sich nur die Diagonale zwischen jenen beiden recht-
winkelig zu einander stehenden Richtungen als Bewegungsrichtung der
Scholle construiren, so würde die Buchberg -Scholle einfach aus einem
3*
20
Bra Nco:
abgeschrägten Kantenstücke der Alb hervorgegangen sein müssen, wie
folgende Zeichnung andeutet. Einen solchen Eindruck aber macht die
Buchberg -Scholle nicht; auch dann nicht, wenn man annimmt, dafs die
ebenfalls überschobene Weifs- Jura -Masse der Beiburg bei dem Vorwärts-
schnellen der Scholle, als das hängendste Glied derselben, zurückgeblieben,
bez. gleich Anfangs von der Scholle abgerutscht ist.
Vor der Überschiebniig.
F^. 2.
Nach der Überschiebung.
In diesem Falle würde nämlich in der Uberschiebungsscholle der
Braun- Jura an Masse sehr zurücktreten gegenüber dem Weife- Jura. That-
sächlich aber findet wohl das umgekehrte Verhältnifs statt; und dieses
wird noch sehr verschärft durch die Erwägung, dafs der weichere Braun-
Jura seit seiner Überschiebung sicher in viel stärkerem Mafse abgetragen
sein wird als der widerstandsfähigere Weifse, dafs folglich ursprünglich
noch mehr Braun -Jura überschoben gewesen sein mufs als heut dort vor-
handen ist.
Sodann aber macht auch die regelrechte Schichtung der Braun -Jura-
Scholle, wie sie sich in dem Buchberg -Schachte ergeben hat\ ebenfalls
* Sitzungsberichte der König]. Preufs. Akademie der Wissenschaflen. 1901. Bd. XXII,
8. 501 — 524 und Textfigiiren.
Das vulcanLsehe VotTies. 21
nicht den Eindruck, als ob hier ein derartiges Stück mit schräg abge-
schnittenen Schichten vorliege. Endlich bietet die Alb in dieser Gegend
nirgends einen so abgeschrägten Abfall dar, bricht vielmehr steil zum
Rieskessel ab.
Die Herkunftsstelle der überschobenen Scholle müfste daher um eine
ansehnliche Strecke weiter gen O., mehr in das Ries hinein, verlegt werden.
Je länger jedoch der in der Luft zurückgelegte Weg ist , welchen die Scholle
bei der Explosion aus der Tiefe zur Höhe nehmen mulste, desto grOfser
mulste die Zertrümmerung derselben werden. Demgegenüber zeigte sich
die Buchberg- Scholle gerade umgekehrt einheitlich und wohlgeschichtet,
nicht niedergebrochen.
So scheint uns die Annahme, die Überschiebung der Buchberg- Scholle
könne nur durch eine Explosion bewirkt worden sein, auf grofse Schwierig-
keiten zu stofsen.
Diese Schwierigkeit der Betrachtung schwindet nun sofort, sobald
wir eine durch den Schmelzflufs bewirkte vorherige Hebung des Riesgebietes
zu einem Riesberge annehmen, von dem aus dann durch die Explosion das
ohnedem schon erfolgende Abgleiten der Schollen beschleunigt wurde.
Unsere Annahme einer vorherigen Hebimg aber stützt sich auf die
Höhenlage des Granites nicht nur im Rieskessel , sondern auch im Vorriese,
da er dort noch heut an 200" höher liegt, als das der Fall sein dürft«.
Das könnte man nun an sich freilich in der Weise erklären , dafe der Granit
in der Gegend des Rieses in Form einer Insel aus dem Meere aufgeragt
habe; denn in dem doch nicht allzuweit entfernten Gebiete von Regensburg
ist, wie aus der schönen Untersuchimg von Pompecky hervorgeht \ bereits
die urgebirgische Küste des Jura -Meeres gewesen, so dafs dort an ver-
schiedenen Stellen die Juraschichten lückenhaft zur Ablagerung gelangten.
Für das Riesgebiet aber erscheint uns eine solche Annahme zunächst
einmal darum unmöglich, weil der Jura in der Umgebung von Granit -Inseln
petrographisch eine vom normalen Typus abweichende, mehr sandige, zum
Theil gar conglomeratische Ausbildung erlangt haben mülste; und das ist
nicht im Geringsten der FaU. Im Riese treten vielmehr die Juraschichten mit
völlig unveränderter, normaler petrographischer Ausbildung hart an den
Granit, die vermeintliche Insel, heran.
* Die Jura-Ablagenmgen zwischen Regensburg und Regenstauf. Geographische Jahres-
heile. 14. Jahi'gang. München 1901. S. 139 — 220.
22 Brango:
Wenn dieser inselfbrmig im Jurameere aufgeragt hätte, würde aber weiter
auch eine lückenhafte Reihenfolge der Jurasehich ten sich daraus ergeben haben.
Wo die Insel z. B. zur Liaszeit aufragte, müTste der Lias überhaupt fehlen.
Letzteres ist sclieinbar freilich im Riese der Fall; denn wir finden auf dem
Granite stets ein Gemiscli nur von Keuper und Braun-Jura-Thonen , die Bunte
Breecie; Lias fehlt in dieser Breccie, wie es scheint. Aber diese ist bereits
ehi gestörtes Gebilde, kein ursprünglicher Absatz mehr.* Da, wo ursprüng-
licher Absatz noch erhalten ist, findet man auch Lias. So am Hesselberge,
nördlich vom Ries ; dort ist die ganze Schichtenreihe von Lias a an bis
Weifs-Jura)3 erschlossen. Sodann ist weiter südlich, hart am nordwest-
lichen Riesrande, der Lias in der weiteren Umgebung von Zipplingen
verbreitet; er zieht sich östlich und südöstlich von Zipplingen auch in
das Ries selbst hinein bis nahe an die dortigen grofsen Schollen von
Granit, die mithin sicher damals keine Insel bildeten, sondern später auf-
geprefst sind. Weiter südlich im Riese, bei Dirgenheim, liegt ebenfalls
noch Lias nahe am Granit; unter einer überschobenen Klippe des Weifs-
Jura fanden wir an einem Ende derselben Lias 8 frisch aufgeschlossen.
Abermals weiter südlich an der Mündung des Egerthales, in der Gegend
von Utzmemmingen , liegt abeimals Lias im Riese , wiederum nahebei Granit.
Also auf einer langen Linie , die ungefähr von N. nach S. verläuft , am
wie im Riese läfst sich Lias beobachten, und das zum Theil dicht neben
Granit. Hier wird man daher unmöglich sagen können, dafs eine Lücke
der Schichtenfolge vorhanden sei, wodurch dann bewiesen werde, dafs
das zu hohe Niveau des Granites lediglicli eine Folge seines Aufragens
als Insel sei.
Nehmen wir jedoch selbst einmal an, dafs der Lias wirklich im Riese
fehle ; denn die übrigen Schichten fehlen im Ries gaiiz sicher nicht. Was
wäi*e damit bewiesen? Seine Gesammtmächtigkeit beträgt 36". Die zu
grofse Höhenlage des Granites aber beträgt noch heut bis 200". Folglich
könnte letztere unmöglich durch ein Fehlen des Lias in der Schichten-
folge, d. h. durch Inselbildung des Granites erklärt werden.
Aber noch ein weiterer Grund läfst sich gegen die Annahme geltend
machen, dafs die Granitmassen im Riese und Vorriese alte Inseln seien.
Im Vorriese, wo die granitischen Vorkonunen klein sind und mitten in dem
sie ring3 umgebenden Weiis-Jura stecken, pflegen sie begleitet zu sein
^ Vergl. darüber iin Abschnitt IV die Lauchheimer Breccie.
Das mloardsche Vorries. 23
von einer schmierigen Masse von Keuper- und Jura-Thon. Diese macht ent-
schieden den Eindruck, als ob sie bisweilen den Granit mantelförmig,
wenn auch durchaus nicht ringsum , sondern nur local, umgebe; als ob
sie also bei der Heraufpressung des Granites hier und da an die Wand
der Aufpressungs - Spalte angedrückt worden sei, so dafs sie nun hier und
da eine Ausfutterung derselben bilde, zwischen Granit und Weifs-Jura liege.
Derartiges liefse sich nur als Folge von Au^ressung, nicht aber als solche
von etwaiger ursprünglicher Anlagerung des Keuper- Jura -Thones an den
Gipfel einer Insel erküren.
Dazu kommt der weitere Grund, dals der WeÜs- Jura-Kalk in petro-
graphisch völlig unbeeinflulster, normaler Ausbildung auch im Vorriese hart
an die Granitmassen herantritt, sie umgiebt, ohne eine Spur von sandiger
Beschaffenheit angenommen zu haben. Gerade im Vorriese Iftlst sich das
gut beobachten, weil hier der Granit noch im Weifs-Jura -Kalke drinnen
steckt, wie ein Eruptivgestein in der von ihm durchbrochenen Ablagerung;
wogegen im Riese die Juraschichten über und neben dem Granite bereits
gröCstentheils entfernt sind.
Doch noch ein Grund ist vorhanden , welcher im Riese wie im Vor-
riese gegen die Annahme spricht, dafs der Granit von jeher inselförmig
so hoch aufgeragt habe , also nicht aufgeprefst sei : seine vollkommen zer-
prefste, zertrümmerte Beschaffenheit.
Wie wollte man diese letztere erklären unter der Annaiime, dafs der
Granit in Form von Inseln aufgeragt habe? Es gäbe nur zwei Möglich-
keiten: entweder durch die grofse Explosion oder durch allgemeinen Ge-
birgsdruck.
Durch die grofse Explosion läfst sich die zerprefste Beschaffenheit
der angenommenen Granit-Inseln schwer erklären; denn die Wirkung der
Explosion auf den Granit ist ja vielerorten zu sehen. Sie besteht in einer
Zerblasung des Granites (s. »granitische Explosionsproducte« in Abschnitt II),
welche inmitten des zerprefsten Granites auftritt und völlig anders aussieht
als die eigenthümliche Zerpressung desselben. Nun könnte man freilich
folgern, durch die Explosion habe ein Zerblasen des Granites da stattge-
funden, wo die Gase sich Bahn brachen; ein Zerpressen des Granites aber
in der ganzen übrigen Masse desselben. Diese Erklärung wäre wohl an-
gängig. Aber dann dürfte nicht blofs der Granit, es müfste auch der ihn
ringsum umgebende Weifs-Jura überall mit zerprefst sein, da dieser ja den
24 B R A N c o :
Druck der explodirenden Gase in gleicher Weise auszuhalten hatte. Das
scheint jedoch nicht der Fall zu sein, wie Tafel I erkennen laXst; und ganz
denselben Grund kann man geltend machen gegenüber dem Versuche, den
Gebirgsdruck für diese Erscheinungen im Granite geltend zu machen.
Durch allgemeinen Gebirgsdruck nämlich — der dann wohl von der süd-
lich der Donaulinie abgesunkenen Albt^fel, bez. von dem ganzen versunkenen
vindelicischen Gebirge ausgegangen wäre — läfst sich die zerpreiste Be-
schaffenheit der angenommenen Granit-Inseln auch schwer erklären. Un-
möglich könnte doch allein der Granit so zerprefst worden sein, der im
Vorriese in Form einer ganzen Anzahl von angenommenen Inselkuppen
mitten im Weifs-Jura steckt (vergl. Taf. I). Es hätte natürlich auch der
Weifs-Jura, in dem der Granit sitzt, gleichzeitig und in gleicher Weise
überall mit zerprefst werden müssen. Das ist aber vielfach nicht der
Fall. Man findet zerprefsten Granit im unzerprefsten Weifs-Jura anstehen;
und innerhalb des zerprefsten Granites dann wieder zerblasenen.
Wenn somit die Zerpressung der angenommenen Granit -Inseln weder
durch Explosion noch durch allgemeinen Gebirgsdruck erklärbar ist, so wird
sie sofort erklärbar bei der Annahme , dafs der Granit eben nicht in Form
von Inseln aufgeragt habe, sondern durch den Druck zerprefst worden sei,
welcher ihn senkrecht aufwärts in sein jetziges Niveau gewaltsam hinauf-
drückte.
Was veranlafste diesen Druck?
Wiederum möchten wir von dem Gedanken absehen, eine Explosion
habe ihn plötzlich in dieses hohe Niveau hinaufgedrückt; denn er wäre dann
sicher sofort wieder in die Tiefe hinabgestürzt. Es bleibt mithin nur übrig
eine langsame Emporpressung und dabei Zerpressimg des Granites durch
aufwärts gedrängten Schmelzflufs.
Von hohem Interesse erscheint aber noch ein letzter Grund, welcher,
wie es scheint, für das Vorhandensein localer, eng umgrenzter senkrechter
Aufpressungen spricht, die in diesen Gegenden der Alb, und zwar noch ost-
wärts, jenseits des Rieses stattfanden. Der Liebenswürdigkeit des Hrn. CoUegen
Walther verdanke ich die folgende Mittheilung über seine Beobachtungen :
»Bei Gelegenheit einer Untersuchung der Bildungsverhältnisse der Soln-
hofener Plattenkalke, deren Resultat ich demnächst veröffentlichen werdet
fiel es mir auf, dafs in dem völlig horizontalen Schichtenbau des ganzen
Altmühlgebietes von Pappenheim bis Pfalzpaint einige ganz localisirte Stö-
Das tniloaniache Vorries.
25
^0
rungen auftreten, deren Ähnlichkeit mit dem Hebungsphänomen im Ries
sehr frappant ist. Obwohl es mir nicht gelungen ist, die Ursache dieser
Erscheinung aufzuklären, so kann ich doch folgende Beobachtungen mit-
theilen : «
»In der Umgebung von Mömsheim und Solnhofen werden auf der Höhe
des Plateaus mancherorts isolirte Bruchstücke von Ealkplatten (Flinze) ge-
funden, die etwa 20" tiefer anstehen und auf irgend einem Wege durch
die hangenden Schichten hindiurchge wandert sein müssen. An eine künst-
liche Verschleppung ist nicht zu denken , Verwerfiingen sind nirgends nach-
zuweisen , und so ist vielleicht beistehendes Profil im Stande , diese seltsame
Erscheinung verständlieh zu machen. Es ist in einem etwa 20"* tiefen Ein-
schnitt entblöfst, den der Solnhofener Actienverein östlich von den Werk-
stätten anlegen liefs, um einen Plattenbruch nach der Strafse zu öffnen und
das Haldenmaterial herauszubefbrdem. «
Fiff. 3.
»Die Lagerung der Plattenkalke im Hintergrund des Bruches ist völlig
horizontal; dann beginnen die Schichten gegen N. einzusinken bis zu einer
merkwürdig zerrütteten Region von etwa 30"* Länge. Hier sind die Platten
in einzelne Stücke zergliedert, die ziemlich regellos durch einander liegen;
dann folgen aber zwei ganz deutliche kuppeiförmige Aufwölbungen, jenseits
deren die normale schwebende Lagerung wieder beginnt. Auf meiner etwas
schematisirten Zeichnung ist der Zwischenraum zwischen den beiden Gewölben
verkürzt, er beträgt etwa 25™, während jede Auticlinale eine Breite von
etwa 5" besitzt. Da ich ziemlich alle Aufschlüsse des Solnhofen -Eichstätter
Gebietes besucht habe und nirgends etwas Ahnliches sah , da ferner meines
Erachtens weder glaciale Stauchung*, noch Abgleiten des Gehängeschuttes
in diesem Profil angenonmien werden kann, mufs ich die Erscheinung ftir
' Das, was Walt her hier schildert, ist also etwas ganz Anderes, als das, was Thörach
als »glaciale Stauchungserscheinungen« aus den Plattenkalken abbildet (Bericht Aber die
29. Vers, des Oberrhein. Geolog. Ver. 1896. S. 4. Fig. 111, IV.
Phys,Abh. 1902. I. 4
26 Branco:
eine localisirte Aufwölbung im Sinne einer »Hebung« halten, und die Ver-
muthung liegt nahe, dals wir hier ein Ausklingen des »Riesphänomens«
vor uns haben.«
Wir fassen im Folgenden die hier erörterten Gesichtspunkte
zusammen, welche für das Vorhandensein localisirter, zum Theil
recht kleiner, senkrechter Aufpressungen in diesen Gegenden
der schwäbisch-fränkischen Alb sprechen:
Die bedeutende Gröfse, der feste Zusammenhang der Buchberg -Scholle
sowie der Umstand, daCs der Braun -Jura derselben aus der Tiefe des Rieses
stammt, machen uns die Vorstellung unfafsbar, dafs die Scholle allein durch
eine Explosion, also ohne vorherige Hebung, auf die Alb geschleudert
sein könnte.
Der Lias ist im westlichen Riese entschieden nachgewiesen. Selbst aber
wenn er im übrigen Theile des Rieses wirklich fehlen sollte — seine Mächtig-
keit beträgt doch niu' etwa 36™ gegenüber dem zu erklärenden Betrage von
etwa 200*" des zu hohen Granitniveaus.
Die Granitmassen im Vorriese scheinen hie und da von gequälten
Keuper-Jura-Thonen seitlich begleitet zu sein, die wie eine Ausfutterung
der Au^ressungsspalte erscheinen.
Der Weifs- Jura -Kalk zeigt, selbst nicht im Contacte mit dem Granite,
keine Spur von sandiger Ausbildung.
Die Zerpressung des Granites, die keineswegs immer von entsprechender
Zerpressung des Weifs -Jura begleitet ist, erscheint ebenfalls als Folge von
localisirter Aufpressung des Granites.
In der Solnhofener Gegend giebt die von Walther gefundene Sattel-
bildung wohl auch Beweise für das Dasein kleiner Aufpressungsherde. Das
von den Arbeitern, welchen jede Gesteinsschicht genau bekannt ist, be-
glaubigte Auftreten von Gesteinsstücken oben auf der Alb , die nur in der
Tiefe anstehen, macht solche Aufpressung auch an anderen Orten dort
sehr wahrscheinlich.
Ist nun der Granit aufgeprefst, so kann das nicht durch die Explosion
geschehen sein, da er sogleich nach derselben wieder in die Tiefe zurück-
gestürzt sein würde.
So schwer verständlich das Auftreten localisirter, zum Theil
kleiner Aufpressungsherde auch sein mag, es dürfte nach Obigem
doch nicht mehr zu bezweifeln sein.
Das tmlcanische Vorries. 27
Die G-esammtheit der Riesphanomene wird daher schwerlich
allein durch eine Explosion erklärt werden können. Es bedarf,
so will uns wenigstens scheinen, eines Zusammenwirkens dieses
einenKraftmomentes mit dem anderen der langsamen Aufpressung.
Die Ursache der Aufpressung aber liegt, unserer Auffassung
nach, nicht im Gebirgsdrucke, sondern zunächst im Schmelzflusse,
d.h. einem Laccolith. Ob dieser seinerseits wieder durch den
Druck einer absinkenden GebirgsschoUe aufgeprefst worden ist,
oder ob hier doch andere, dem Magma innewohnende Kräfte
wirkten, das entzieht sich jeder Entscheidung (vergl. den Schlufs
des Abschnittes I).
Man wird unserer Auffassung gegenüber einwerfen können, dafs ein
Laccolith sich durch das Vorhandensein eines Contacthofes verrathen müsse,
während doch am Riese von einem solchen nichts zu sehen sei. In der
That haben Laccolithe, die in Schiefer eingeprefst wurden, Contactmetamor-
phismus erzeugt. Aber im Riese würde der von uns angenommene Laccolith
im Granit liegen oder gar unter demselben, im Gneifs; und es wäre doch
sehr die Frage, ob diese Gesteine in demselben Malse contactmetamorph
verändert werden wie jene Schiefer.
Es wäre zudem auch möglich , dafs in gröfserer Tiefe sich eine Contact-
metamorphose des altkrystallinen Gesteines zeigen würde.
Das Beispiel der grofsen Explosion des Bandai San und ihrer ITber-
sehiebungen. Wenn man die Vorstellung, dafs die Breccienbildungen und
Überschiebungen im Vorriese und Riese unter Zuhülfenahme einer Explosion
erfolgt seien, einleuchtend machen will, so wird es vor Allem angezeigt sein,
das Beispiel und die Wirkungen einer genauer bekannten gro&en, vulcani-
schen Explosion vor Augen zu fahren. Als ein solches ergiebt sich hier am
besten diejenige, welche vor 14 Jahren in Japan den Vulcangipfel des Bandai
San betroffen hat.
Am 15. Juli 1888 Morgens um 8 Uhr erfolgte diese gewaltige Kata-
strophe, bei welcher fast in einem Augenblicke eine Bergmasse von 670°*
gröfster Höhe und fast 1^8 Länge beseitigt wurde \
^ Bergeat (Die äolischen Inseln, Abhandlungen K. Bayer. Akad. d. W. math.-phys.
Cl. Bd. 20, 1900, S. 231) stellt die Frage, ob die Katastrophe von Bandai San nicht auch
als ^rofsartiger Bergsturz , ohne directes Zuthun des Vulcanisinus , aufgefafst werden könnte.
Das ist aber, wenn man obiger Schilderung folgt, doch wohl ausgeschlossen.
4*
28 B R A N c o :
Aber wie, in welcher Weise? Nicht etwa in die Luft geblasen!
Sekyja und Kikuchi* berichten vielmehr ausdrücklich, dafs ein kleiner
Theil des Kobandai -Kegels zu Staub zerblasen wurde, dafs der gröfeere Theil
dagegen in mächtige Stücke zerbrach , welche in Foim von Bergstürzen an
den Flanken des Berges niederfuhren.* Da, wo diese Lawinen gegen Hinder-
nisse in ihrem Wege oder gegen andere hinabgleitende Schollen geschoben
wurden, zertrünunerten sie zu wirren Massen von Erde und Felsen. Diese
Bergmasse von ungef&hr 1*^21 Inhalt schofs in solcher Weise an den Flanken
des Berges nach N. hinab, mit ungefähr i^"3 Geschwindigkeit in der Minute
einen Weg von 9^° zurücklegend.
Sie bedeckte ein Areal von etwa 70**^ mit einer durchschnittlich 1 7"4
hohen* Schuttmasse, deren Gewicht schätzungsweise 2826290000000^* be-
tragen mag. Diese bergab stürzende Schuttmasse glich , wie Augenzeugen
berichten, ganz derjenigen eines wogenden Stromes. Wie dieser, so fuhren
die Schuttmassen wogend thalabwärts, und da, wo Hindemisse ihnen im
Wege lagen, schlugen sie brandend an diesen in die Höhe^, so dhCs sie local
bis zu 60°* Mächtigkeit anschwollen.
Ein Priester, Tsurumaki, war aus nächster Nähe Augenzeuge des Aus-
bruches, denn er befand sich zur Zeit desselben in dem Badeorte Nakanoyu,
welcher am Fufee des Kraterberges liegt. Wie diurch ein Wunder entrann
er, wenn auch durch fallende Steine mehrfach verletzt, dem Tode. Er
berichtet, dass bald nach 8 Uhr die erste Explosion losbrach, welche von
einem Aschen- und Steinhagel gefolgt war. Als dieser sich nach etwa
einer Stunde gelegt hatte, ertönte das Ejachen einer zweiten und gleich
darauf einer dritten Explosion, welche jedoch nicht von Stein-, sondern
nur von Aschen -Auswürfen gefolgt waren.
Weder Anfangs noch später zeigte sich Lava, sei es in Form vou
Strömen oder auch nur von Bimsstein -Auswürflingen. Aber es scheint
auch, als wenn die ausgeworfenen Aschen- und Steinmassen nicht aus zer-
blasenem Schmelzflusse bestanden hätten, nicht also wirkliche Auswürflinge
gewesen wären , sondern , zum gröisten Theile oder ganz , nur Staub und
^ The eruption of Bandai-san. Journal of the College of science, Imperial University.
Japan. Vol. III. Part. II. Tokyo 1889, p. 106.
* Which were thrown down mucb after the manner of a land-slip.
' A. a. O. p. 148.
^ A. a. 0. p. 108.
Das vulcanische Vorries. 29
Stücke des zerblasenen vulcanischen Kegels. So erklärt es sich, dafs schon
eine Stunde nach der Explosion die durch diesen Staub am hellen Tage
erzeugte tiefe Finsternifs wich und einer mondlichthellen Beleuchtung Platz
machte; und dafs 8 Stunden nach der Explosion, um 4 Uhr Nachmittags,
die Luft wieder klar war. Derartiges Verhalten deutet mit Entschiedenheit
darauf hin, dafs zerschmetterte flüssige Masse kaum einen Antheil an
diesen Schuttmassen hatte.
Es ergiebt sich also, dafs hier, entweder ganz überwie-
gend oder sogar vielleicht ganz allein, eine Zerschmetterung
des Berges, d. h. der längst erstarrten, in früherer Zeit ausge-
worfenen Aschen und Lavaströme erfolgte, und dafs nur drei
kurze Explosionen erfolgten. Der Ausbruch vollzog sich also nicht
in der Art und Weise, wie das bei gewöhnlichen Vulcanausbrüchen der
Fall zu sein pflegt, indem aus dem im Schlote aufgestiegenen Schmelzflusse
unaufhörlich Gasexplosionen stattfinden. Es mufs vielmehr der Schmelz-
flufs ganz in der Tiefe geblieben sein und es mufs sich, frei von ihm, eine
ungeheure Gasmasse, deren Druck mehr und mehr anwuchs, im Innern des
Kanals bez. Berges angesammelt haben. Sowie deren Spannung stärker
geworden war als die Festigkeit des Berges, erfolgte die erste Explosion,
nach einer Stunde dann in gleicher Weise die zweite und dritte, offenbar
schwächere.
Dieser in die Luft geblasene Gesteinsstaub bildete indessen nur die
begleitende Nebenerscheinung des Vorganges. Die Haupterscheinung des-
selben bestand in einem einfachen Abschieben der höheren Theile des Berges
in Folge der Explosion.
Damit war die ganze nach N. hin gelegene Hälfte des Berges weg-
geschoben und ein pferdehufthnliches Loch von gewaltigsten Dimensionen
herausgerissen.
Durch eine gewaltige Explosion ist also am Bandai San die
ganze Nordflanke des Berges nicht etwa zerblasen, sondern
vielmehr ganz wesentlich nur nach N. hin abgeschoben worden
und mit gewaltiger Geschwindigkeit 9^" weit, alle Hindernisse
überfluthend, gefahren; obgleich doch die grofse Rauhigkeit
dieser vulcanischen Massen für die Bewegung ein viel gröfseres
Hindernifs bildete, als das bei der mächtigen thonigen Unter-
lage des Riesberges der Fall gewesen sein müfste.
30 Branco:
So wirkungsvoll dieses Beispiel schon ohnedies ist, es würde jeden-
falls in noch sehr viel höherem Mafse wirkungsvoll sein, wenn der petro-
graphische und tek tonische Aufbau des Bandai San nicht so sehr viel
ungünstiger gewesen wRre für das Entstehen grofser Überschiebungen, als
der von uns angenommene Riesberg,
Der Bandai San besteht nur aus vulcanischen Gesteinen, Laven und
losen Auswurfsmassen, die im bunten Wechsel aufgethürmt waren. In
Folge ihrer grofsen Rauhigkeit müssen diese bei ihrem, durch die Explo-
sion erfolgten Abgleiten von dem Bergabhange eine ganz gewaltige Rei-
bung erlitten haben; und trotzdem sind sie noch 9^ weit abgeglitten bez.
abgeschleudert worden !
Wie vielweiterwären dieBergmassen wohl geschoben worden,
wenn der Bandai San einen Aufbau besessen hätte wie unser Ries-
berg: oben die harten, durch die Hebung vielfach zerborstenen Schichten
der Weifs- Jura -Kalke, unter diesen die mächtigen Thonmassen der tieferen
Juraschichten und des Keupers, welche den Granit bedecken. Auf solchen
Tlionschichten , bez. auf den untersten derselben, wären die überliegenden
Massen am Bandai San sicher noch viel weiter und in zusammenhängenden
Schollen zu Thal gefahren, als jene rauhen Gesteine des Bandai San auf
ihrer rauhen Unterlage.
Dieser Vorgang bei dem Bandai San charakterisirt sich nach
dem Gesagten als eine eben so echte, durch Vulcanismus er-
zeugte Überschiebung, wie dies am Riese der Fall ist.
Vermuthlich aber werden solche durch Vulcanismus erzeugte
Abschiebungen und dadurch entstandene Überschiebungen auch
bei anderen Vulcanen vorkommen, jedoch aus demselben Grunde
wie beim Bandai San sich der Erkennung entziehen. Wir kennen
eine ganze Anzahl gewaltig grofser Kratere, deren Entstehung, wenigstens
bei einigen , auf entsprechend groCse Explosionen , zum anderen Theil freilich
auch auf Einsturz , zum dritten auf einer Vereinigung beider beruhen dürfte.
Bei jenen durch Explosion entstandenen dürft;e daher manche Ab- und
Überschiebung ganzer Bergtheile sich vollzogen haben, ohne dafs man je
im Stande sein wird, das nachträglich zu erkennen. Aber das liegt nur
an der Beschaffenheit des in Frage kommenden Materials. Während in
anderen Fällen von Überschiebungen meistens das überschobene Material
petrographisch von demjenigen , über welches es geschoben ist, sich durch
Das vuloanische Vorries» 31
die verschiedensten Eigenschaften mehr oder weniger scharf abzuheben
pflegt, findet das vollste Gegentheil davon statt, wenn dunkles, zum Theil
loses, vulcanisches Grestein auf ebensolches überschoben wird.*
Man wird nicht einwerfen können , derartige Vorgänge dürfe man nicht
Überschiebungen nennen, es seien nur Bergstürze. Gewifs sind es Berg-
stürze, hervorgerufen durch vulcanische Kraft. Aber auch am Riese handelt
es sich ja, unserer Ansicht nach, nur um Bergstürze, hervorgerufen durch
vulcanische Kraft, um Abgleitungen von einem Berge, die in's Werk gesetzt
wurden durch eine Explosion. Wenn nun hierbei grofse Schollen mit er-
^ Es giebt eine ganze Anzahl anderer grofser Kratere, deren Entstehung man eben-
falls auf eine solche gewaltige Explosion vielleicht zurückfuhren möchte und auch wirklich
zurückzufuhren versucht hat.
Dei'selbe Vorgang wie am Bandai San soll sich im Jahre 1707 in Japan an der SO.-
Flanke des Fuji-yama vollzogen und dort einen Explosionskrater von ungefähr denselben
Dimensionen wie bei dem Bandai San erzeugt Iiaben (a.a.O. S. 143).
Auf Java soll im Jahi*e 1772 durch eine gewaltige Explosion des Papaudayang, eben-
falls ein Krater ausgeblasen sein, welcher nun fünfzehn englische Meilen Länge und sechs
Meilen Breite besitzt. (The great crater-lakes of Central Italy. Geological magazine 1875.
Decade II. V'ol. II. p. 353.)
Nach der Ansicht von Judd wären auch die grofsen, mit Wasser gefüllten Kratere
Italiens durch Explosion entstanden. Monte Somma des Vesuv, so ftihrt er aus, mit 2^ engh'schen
Meilen Durchmesser, sei wohl sicher im Jahre 79 n. Chr. durch Explosion entstanden. Rocca
Monfina mit seinem Kraterringe Cortinella von drei Meilen Durchmesser sei dem Monte
Somma so ähnlich, dafs man auch auf ähnliche Entstehungs weise schliefsen möchte. Der
Kraterring des Monte Albano hat zwar sechs Meilen Durchmesser; sein analoger Bau deute
jedoch auf analoge explosive Entstehung, wof&r auch die in den Westrand des Ringes durch
weitere Explosionen ausgeblasenen Kratere von Vall' Arriccia, Lago d' Albano, Lago di Nemi
sprächen. Auf ganz dieselbe Entstehungs Ursache ftihrt uns, sagt Judd, die Betrachtung
des Lago di Bracciano mit 6-^ und des Lago di Bolzena mit zehn englischen Meilen Durch-
messer.
Man konnte natürlich mit ganz demselben Rechte hinzufugen die beiden aus dem
Meere aufragenden vulcanischen Ringe von San torin und vom Krakatau. (Bei diesen würde
dann das Abschieben gewaltiger Gesteinsmassen über andere, da sie auf dem Meeresboden
sich vollzogen hätte, dem Auge vollends entzogen sein.)
Indessen diesen sehr grofsen vulcanischen Kraterbildungen gegenüber ist doch wohl
grofse Vorsicht nicht nöthig. Sicher handelt es sich, mindestens bei einem Theile derselben , um
einen Einstui*z ui einen unter dem Berge befindlichen Hohlraum und, wenn überhaupt, dann
erst in zweiter Linie, nur als Begleiterscheinung, um eine Explosion. Vom Krakatau sagt
Verbeek sogar ausdrücklich, dafs eine Explosion als Entstehungsursache wohl ausgeschlossen
sei. Beobachtet konnte der Vorgang, der sich in völliger Dunkelheit abspielte, leider nicht
werden. Die Explosion des Tarawera auf Neuseeland könnte man wohl als ein sicheres
Beispiel eines solchen explosiven Vorganges in grofsem Malsstabe erklären.
32 Branco:
haltener Schichtung über anstehendes Gestein geschoben werden, so dafe
Älteres auf Jüngerem liegt, so wird man auch hier von »Überschiebung«
sprechen dürfen. Um das darzuthun, haben wir mit Vorbedacht darauf hin-
• ••
gewiesen , dafs die Ursache der Entstehung von Überschiebungen nicht nur
**
eine einzige ist ; und dafs auch als zweifellose »Überschiebungen« erkannte
und benannte Lagerungsverhältnisse jetzt auf ein einfaches Abgleiten von
höher gelegenen Gebirgstheilen auf tiefer liegende zurückgewährt werden,
ohne dafs man ihnen damit die Bezeichnung als »Überschiebung« nun
abspräche.
In der Hoffnung, dafs die Erfahrungen, welche die Ingenieure bei
militärischen Sprengungen gemacht haben, vielleicht irgend welche An-
haltspunkte geben könnten fux die Beurtheilung des Riesproblemes , habe
ich mich mit einer Reihe von Fragen an die geeignete Stelle gewendet.
Die in dankenswerthester Bereitwilligkeit ertheilten Aufschlüsse sind zwar,
wie sich ja erwarten liefs, nicht im Stande, eine Entscheidung zu bringen;
aber sie geben doch immerhin gewisse Anhaltspunkte fiir die Lösung der-
artiger Fragen, so dafs sie hier doch mitgetheilt werden sollten.
Die Frage, ob es erfahrungsgemäfs richtig sei, dafs ein Sprengstoff,
welcher viel Wasserdampf enthält, das Erdreich weniger zerschmettert als
vielmehr in toto bei Seite schiebt, wurde bejaht. Dies kann von Wich-
tigkeit fiir das Riesproblem sein; denn hier würde es sich ja gerade um
Wasserdampf als Sprengstoff handeln können.
Die weitere Frage, ob man es überhaupt für denkbar halte, dafs eine
Explosion die Kraft habe, Schollen von 400 — 1000™ Länge, 200 — 400"
Breite, 30 — 50™ Dicke 2 — 6^°* weit fortzuschleudern — diese Frage, von
welcher wir am ehesten geglaubt hatten, dafs sie als unbeantwortbar ab-
gelehnt werden würde, »ward aus theoretischen Gesichtspunkten ebenfalls
bejaht«, doch wird damit natürlich der von uns oben erhobene Einwurf
nicht umgestofsen, dafs so grofse Gesteinsschichten bei einem Fluge durch
die freie Luft zerbrechen müfsten, also nicht als ein geschichtetes Granzes
ankommen könnten, dafs daher doch eine der Explosion vorhergehende
Riesbergbildung angenommen werden müsse (S. 19).
Gleichfalls als »durchaus zu bejahen« erwies sich eine dritte Frage:
ob die Wirkungsweise einer Explosion ganz wesentlich von der Beschaffen-
^ Das vulcanische Ries S. 100.
* Siehe vorliegende Abhandlung S. 7 — 9.
Das vulcanische Vorries, 33
heit der Gesteinsmassen abhänge? »Der Eigenschaft des Gesteines wurde
es entsprechen, dafs bei der Sprengung der sehr feste Granit und der
zähe Braun -Jura in grolle Stücke, der spröde, weniger feste und unbedeckte
Weifs-Jura in kleine Trümmer zerstiebt wurden.« Jedenfalls ergiebt sich
aus dieser Antwort, dafs der von Hrn. E. Süfs betonte grofse Einflufs der
thonigen Zwischenlage zwischen Weifs-Jura, Kalk und Granit im Riesge-
biete in der That bestehen mulste.
Die Herkunft der Gasmassen. Wenn man zur Erklärung der Ries-
phänomene den Eintritt einer gewaltigen Explosion mit zu Hülfe nimmt,
so mufs die Frage nach der Herkunft so grofser Gasmengen entstehen.
Unmöglich können so riesige Wirkungen erzielt werden durch die
Explosion der relativ kleinen Gasmassen , wie sie im aufsteigenden Schmelz-
flusse gelöst sind und ein Zerblaseu desselben zu Asche und Schlacken
bewirken. Es müssen noth wendig sehr viel gröfsere Gasmassen sein, die
solches hervorrufen können. Zwei Möglichkeiten sind gegeben: sie können
dem Schmelzflusse allmählich entwichen sein und sich über ihm angesam-
melt haben. Sie können aber auch von unterirdischen Wassermassen her-
rühren, welche durch aufgestiegenen Schmelzflufs plötzlich in Dampf ver-
wandelt wurden. Beides sind völlig verschiedene Vorgänge, die man scharf
unterscheiden sollte:
Wenn die dem Schmelzflusse entweichenden Gase die Ur-
sache einer Explosion bilden, nur dann liegt eine echte vul-
canische Explosion vor. Wenn dagegen die plötzliche Verwand-
lung unterirdischer Wassermassen in Dampf die Ursache ist, so
handelt es sich lediglich um eine Contacterscheinung, also um
eine unechte vulcanische Explosion.
Ob im Contacte mit einem Eruptiv-Magma ein dichter Kalk in Mar-
mor, ein Thonschiefer in Homsteinfels, oder ob Wasser in Dampf ver-
wandelt werden — stets ist das nur ein analoger Vorgang, nur eine Con-
tacterscheinung, die vom Vulcanismus lediglich die hohe Temperatur entlehnt.
Auch darin tritt recht augenfällig die Übereinstimmung hervor, dafs ebenso
wenig der Kalk oder Schiefer als da^i Wasser eine andere chemische Zu-
sammensetzung dadurch erlangen. Sondern wie es sich bei jenen beiden
iresteinen lediglich um eineUmkrystallisirung, eine Umlagerung der Moleküle^
^ Nur bei dem Kalke wQrde, sofern zahlreiche Contaet- Mineralien im Marmor sich
bilden, ein Neues hinzugekommen sein.
Fhys. Ahh, 1902. 1. 5
34 B R A N G o :
handelt, so auch beim Wasser nur um Annahme eines anderen Aggregat-
zustandes der kleinsten Theilchen.
So ähnlich daher auch eine solche Contactexplosion einer echten vul-
canischen Explosion erscheinen mag, so ist sie dennoch etwas ganz Anderes
als eine solche. Trotz ihrer verheerenden Wirkung ist sie gar kein vul-
canischer Act, sondern nur das Nebenproduct , die Folge Wirkung eines sol-
chen, welches bei dem betreifenden vulcanischen Acte, dem Emporquellen
des Schmelzflusses, fehlen könnte, ohne den Act als solchen damit aufzu-
heben.
Noch ein Drittes aber kommt wohl vor, durch welches ein Übergang
zwischen dem Einen und dem Anderen gebildet wird. Wir pflegen uns
den Schmelzflufs in der Tiefe vorzustellen als einen durch wftsserten ; und
die Annahme neigt sich wohl dahin, dafe dieses Wasser nicht von der
Urzeit her im Schmelzflusse ist, sondern von letzterem aus der Erdrinde
erst später aufgenommen wurde. Wenn diese Wassermassen explodiren,
dann liegt dennoch eine echte vulcanische Explosion vor; denn das Wasser
bildet hier bereits einen Theil des Magmas, steigt mit demselben in die Höhe.
Bei der Contactexplosion liegt die Wassermasse dagegen auüserhalb
des Schmelzflusses. Ja, beide können sogar relativ weit von einander ent-
fernt liegen, brauchen sich durchaus nicht zu berühren; denn das Magma
hat eine Temperatur von vielleicht rund 1200 — 1400^0., und Wasser ver-
wandelt sich schon in Dampf, wenn es auf 1 00® C. erhitzt wird , wenn
man vom Einflüsse des Druckes in der Tiefe absieht.
Erklärlicherweise wird es ja meist sehr schwer sein, zu unterschei-
den, ob eine echte oder eine unechte vulcanische, d. h. eine (Contactexplo-
sion vorliegen. Aber das kann kein Hindemifs bilden, diese Unterscheidung
überhaupt zu machen.
Man sollte nun annehmen, dafs die gewaltige Explosion des Bandai
San eine solche Contactexplosion gewesen sein mü&te. Sekiya und Kikuchi
freilich sind der Ansicht, dafs die betreffenden Gase dem Magma entstamm-
ten. Aber dagegen lassen sich doch gegründete Einwendungen erheben.
Einem so überaus gasreichen Magma wären gewifs schon vorher Gase in
der Tiefe entwichen, und dieser Vorgang würde nicht lautlos, nicht sanft
vor sich gegangen sein, sondern sich durch zahlreiche Explosionen, unter-
irdisches Gedonner und Erdbeben verrathen haben. Dem war aber gerade
nicht so. Derartige Erscheinungen gingen dem Ausbruche vielmehr nur in
Das mUcanische Vorries. 35
recht geringfügigem Malse vorher. Nur am 8., 9., 10., 13. und 14. wurden
einige leichte Erschütterungen wahrgenommen, was zumal in dem beben-
reichen Japan nur als etwas Unbedeutendes gelten kann. Erst eine halbe
Stunde vor der Explosion begann ein sehr heftiges Erdbeben, d. h. begann
damit also plötzlich, aus völliger Ruhe, die Explosion. Sekiya und Ei -
kuchi^ berichten auch das Fehlen anderer, sicher festgestellter vorhergehen-
der Anzeichen der Katastrophe; ebenso haben die BadegSste der Thermen
von Nakanoyu keinerlei abnormes Verhalten der Quelle beobachtet, obgleich
dieselbe hart am Rande des im nftchsten Augenblicke entstehenden neuen,
riesigen Kraters entsprang.
Aus diesen Grfinden ist es doch wohl wahrscheinlicher, da& hier
unterirdisch angesammeltes Wasser durch emporgedrängten SchmelzflulB so
weit erhitzt wurde, dafs es sich plötzlich in Dampf verwandelte.
Wenn man sich nun aber fragt, woher im vorliegenden Falle das
Wasser gekommen sein sollte , dessen Verwandlung in Dampf die Explosion
verursacht hätte, so ergeben sich Schwierigkeiten. Der nächste Gredanke
wäre der an den dem Krater nahegelegenen grofsen Inawashiro-See. Der
Spiegel desselben hat sich freilich, soviel sich feststellen lie£s, nicht
nennenswerth gesenkt, geschweige denn, dafs der See etwa ganz oder
zum gröfseren Theile abgelaufen, auf Spalten in die Tiefe gestürzt wäre.
Auf das Wasser dieses Sees würde man also die Explosion kaum zurück-
föhren können. Man müDite vielmehr vom Meere her auf Spalten plötzlich
eingedrungenes Wasser annehmen. Damit jedoch befindet man sich auf
so völlig hypothetischem Gebiete, dafs jene Annahme, die Grase seien beim
Bandai San dem Schmelzflusse entwichen, sich zwar als weniger wahr-
scheinlich bestreiten, aber doch nicht widerlegen läfst.'
Gerland wendet sich gegen die Auffassung, nach welcher die plötz-
liche Verwandlung grofser Wassermassen in Dampf, die von der Erdober-
fläche herrühren, also von oben her hinabkommen, die Ursache so ge-
' A. a. O. S. 130.
* Der Inawashiro, einer der grofsten Seen Japans, ist an der S.- Seite des Bandai
San gelegen. Es ist das kein echter Kratersee, sondern die Ausf&ilung einer Depression,
in welche sich Flüsse eingössen. Sekiya und Kikuchi sagen, dafs, der Sage nach, der
See im 9. Jahrhundert durch eine «terrestrial disturbance« entstanden sei, bei welcher
zwei Districte mit 49 Dörfern uberfluthet (submerged) wurden (S. 96) , indem sie in einen
Abgrund stürzten (S. 100). Auf der anderen Seite aber sagen sie auch (S. 96), die Depression
sei durch Auswurf vulcanischer Wasser entstanden.
5*
36 Branco:
waltiger vulcanischer Explosionen sei und meint, dafs diese Wasserdampf-
massen doch dem Erdinnem angehören, also von unten her hinaufkommend
Für den Fall, welcher hier in Frage kommt, das Ries, wäre nun dieser
Einwurf Gerland 's nicht entscheidend; denn seine Gründe beziehen sich
nur auf das Meereswasser, welches nach der gewöhnlichen Erklärung in
die Tiefe dringen und Explosionen erzeugen soll. Hier beim Riese aber
würde, wie E. Süfs meint, Süfswasser in Frage kommen, wie es in Kalk-
gebirgen sich in grolsen Massen ansammelt.
Zwei andere ErklämngsTersuche der Entstehung der Breccien und
Überschiebungen. Aus dem inselförmigen Auftreten der Weifs- Jura -Breccien
im Von'iese haben wir geschlossen , dafe hier die Ursache der Breccien- (Gries-)
Bildung in einer an verschiedenen Orten erfolgten gewaltigen Explosion
zu suchen sei.
Wäre es nun aber nicht möglich, diese im Vorriese inselförmig auf-
tretenden Breccienbildungen des Weife -Jura zurückzufuhren auf Reibung
bez. Gebirgsdruck , die sich längs der Donauspalte geltend gemacht hätten?
Wäre es nicht möglich, auch etwa vorhandene Überschiebungen zurück-
zuföhren auf den mit Entstehung der Donauspalte verknüpften Bruch?
Noch ist ja das Vorries durchaus nicht in dem Mafse erforscht, ja,
es wird sich vielleicht auch niemals bis zu dem Grade erforschen lassen,
um bei einer jeden auf dem Weifs -Jura liegenden Keuper oder Braun-
Jura -Masse sicher entscheiden zu können, ob auch hier wieder nur eine
bei der Explosion herausgeschleuderte, bei der Aufpressung heraufge-
quetschte (S. 23) Masse, oder aber ob eine von weiterher gekommene
Uberschiebungsmasse vorliegt. Entsprechende Frage aber kann immerhin
auch gegenüber dieser oder jener Weiss -Jura -Breccie des Vorrieses aufge-
worfen werden, seitdem durch von Knebel's Grabung bei Dischingen
das sonderbare Ergebnils festgestellt worden ist, dafs unter der betreffenden
Griesmasse der mittelmiocäne Meeressand gefiinden ist (s. den Schluis von
Abschnitt II), auf welchen sie mithin heraufgeschoben zu sein scheint.
Ja, auch gegenüber jener ausgedehnten und mächtigen Ablagerung
Bunter Breccie, die sich überraschenderweise in Probeschächten nördlich
von Donauwörth geftinden hat und bald durch die nach Treuchtelfingen
gehende neue Bahnlinie in grofsartigen Aufschlüssen (vergl. Abschnitt V)
freigelegt werden wird — auch gegenüber diesen Massen ist immerhin
' Deutsche Rundschau v. Rodenberg. Berlin, Septembei' 1902. Jahrg. 38. S. 433, 33.
Das vukanische Vorries. 37
die Frage zu prüfen, ob hier nicht Überschiebungen vorliegen könnten,
die von S. , von der Donauspalte her, kamen.
Kann also, so müssen wir fragen, die südlich der Donau in
die Tiefe gesunkene Fortsetzung der Albtafel im Vorriese den
Anstofs gegeben haben zur Entstehung der inselförmigen Weifs-
Jura-Breccien, zur Aufpressung des Granites mit seiner Begleitung
von Bunter Breccie, zur Entstehung etwa vorhandener Über-
Schiebungen?
Wir wollen zunächst die letztere Frage in's Auge fassen, ob es denk-
bar ist, dafs durch den südlich der Donau versinkenden Theil der Alb
Überschiebungen auf den nördlich der Donau stehen bleibenden Theil der
Alb überhaupt stattfinden konnten.
Wer sich diesen Vorgang vorstellen will nur in der Form, dafs das
Absinken sofort begonnen hätte, sobald sich die parallel der Donaulinie
laufenden Spalten gebildet hatten, der freilich wird die Möglichkeit des
Entstehens solcher Überschiebungen verneinen; denn wie sollte doch die
absinkende, in immer tieferes Niveau gelangende Scholle ihre randlichen
Trümmer auf die stehen bleibende , relativ immer höher werdende Scholle
weit hinaufschieben?
Aber der Vorgang läfst sich auch in der Weise denken , dafs es zwischen
Alb und Alpen zunächst zu einer starken Pressung gekonmien wäre, in
Folge deren südlich der heutigen Donaulinie zuerst eine kleine Aufwölbung
der später absinkenden Scholle sich gebildet hätte, bevor das Absinken be-
gann. Von dieser aufgewölbten Falte aus konnte dann in ganz derselben
Weise, wie wir das von dem Riesberge annehmen, ein Abgleiten von Schollen,
also eine Überschiebung derselben, stattfinden.
Ein solcher Druck der absinkenden Scholle gegen die stehen bleibende
konnte erklärlicherweise auch letztere zerspalten und längs dieser Spalten
zu Breccien zerpressen.
Diese Möglichkeiten sind also in der That theoretisch gegeben; im
vorliegenden Falle aber scheinen sie ausgeschlossen werden zu müssen.
Da nämlich dieses Absinken längs der gewaltig langen Donaulinie er-
folgte, so hätten die Überschiebungen und Breccienbildungen dann auch
längs dieser ganzen Linie stattgefunden haben müssen. Das aber ist keines-
wegs der Fall. Die Breccienbildungen des Weifs-Jura finden sich nur in
der Gegend des Vorrieses, also auf einer relativ ganz kurzen Strecke der
38 Branco:
Donaulinie ; und von den Überschiebungen , faUs solche im Vorriese vor-
handen sein sollten, würde dasselbe gelten.
Und doch ist dieser Einwurf noch nicht entscheidend.
Es wäre nämlich gar nicht unmöglich , dafs zwar im Allgemeinen längs
der Donaulinie sofort nur ein einfaches, druckloses Abbrechen und In-die-
Tiefe- sinken erfolgt wäre, welches weder Breccienbildungen noch Über-
schiebungen erzeugen konnte; dafs aber doch im Speciellen, ganz local,
nur südlich der Gegend des Vorrieses, anfänglich eine starke Pressung ge-
herrscht hätte, durch welche hier Zertrümmerung des Kalkes zu Breccien
und zugleich auch Aufstauung einer Falte und dadurch etwaige Abgleitun-
gen, d. h. Überschiebungen, hervorgerufen werden konnten.
Eine solche Erklärung beider Erscheinungen durch das Absinken der Alb
wäre also an sich dennoch möglich. Aber die Zeit scheint im vorliegenden
Falle einen kaum zu beseitigenden Einwurf zu erheben. Das Absinken südlich
der Donaulinie erfolgte schon so firüh in tertiärer Epoche, dafs in die ent-
standene Senke bereits zu mittelmiocäner Zeit das Meer seinen Einzug halten
konnte. Unmöglich hätten also noch nach Ablagerung der jüngsten mittel-
miocänen marinen Sedimente , oder auch während derselben, Überschiebungen
durch jene damals tief abgesunkene Scholle hervorgerufen werden können.
Anders ist es mit der Breccienbildung. Hier würde das zeitliche Mo-
ment nicht zu einem Einwurfe benutzt werden können. Aber dennoch läfst
sich auch hier der Gedanke zurückweisen, dafs diese Vergriesung desWeifs-
Jura im Vorriese durch einen hier besonders starken Druck der absinkenden
Scholle hervorgerufen sein könnte. Wenn nämlich dem so wäre, dann
müfste doch wenigstens auf dem ganzen Theile der Donaulinie, welcher
südlich des Vorrieses liegt, längs dieser Linie eine Vergriesung des Weife-
Jura vorhanden sein.
Ein Blick auf die Karte lehrt aber, dafs dem nicht so ist. Man mülste
schon Spalten annehmen , die rechtwinkelig zur Donaulinie aufgerissen wären,
von deren Rändern aus dann die Vergriesung ausgegangen wäre. Das liefse
sich indessen auch nur allenfalls geltend machen flir die Griesgebiete , die
bis an die Donau herantreten, nicht aber ftir die, welche inselfÖrmig auf
der Alb liegen. Hier ist die einfachste, natürlichste Erklärung die einer
grofsen Explosion.
Sind nun schon die beiden Erscheinungen der Breccienbildung und
der etwa vorhandenen Überschiebungen nicht auf den Druck zurückf&hrbar,
Das mUcanische Vorries. 39
welchen die versinkende Albtafel gegen die stehen bleibende Albtafel aus-
übte, so w&re die Au^ressung des Granites im Vorriese unmöglich als
eine Folge dieses Druckes zu erkl&ren. Wie die Karte, Taf. I, zeigt, zieht
nämlich die aufgepreüste Granitmasse als schmale 2k>ne von S. nach N.
Ein von S. nach N, wirkender Druck jener absinkenden Scholle aber würde
höchstens eine von W. nach 0., d. h. senkrecht zur Druckrichtung verlau-
fende Aufpressung des Granites erzeugt haben können , nicht aber eine von
S. nach N.» also parallel der Druckrichtung verlaufende Au^ressimg.
So ergiebt sich also für das Vorries die Unmöglichkeit, die
Breccienbildung des Weifs-Jura, die Aufpressung des Granites
und eventuelle Überschiebungen zurückzuführen auf einen von
der versinkenden Albh&lfte gegen die stehen bleibende ausge-
übten Druck.
Diese Unmöglichkeit aber wird noch evidenter, da die Ries-
bildung wohl sicher auf dieselben Kräfte zurückzuführen ist
wie die Vorriesbildung. Für das von der Donaulinie viel weiter
entfernte Ries aber lassen sich Breccienbildung, Aufpressung
und Überschiebungen noch viel weniger auf einen solchen di-
recten Druck der absinkenden Albtafel zurückführen.
Nur indirect könnte dieser Druck der absinkenden Alb und
des ganzen versinkenden vindelicischen Gebirges gewirkt haben:
indem er auf das Magma sich übertrug, dieses als Laccolith all-
mählich in die Höhe prefste, wodurch es einschmelzend wirkte,
und durch seine hohe Temperatur schliefslich die unterirdi-
schen Wasseransammlungen zur Explosion brachte.^
^ Das AbsinkeD des zwischen Alb und Alpen aufragenden, altkrystallinen , •vindelici-
schen« Qebirges, sowie der an seinen Nordabhang angelagerten Juraschichten vollzog sich
nach vonGQmbel nach Ablagerung des Flysches (Geologische Beschreibung von Bayern. Bd. 2.
S. 267. 268. Fränkische Alb S. 641. 643. 646). Im Franken -Jura sollen diese Spaltenbildung
und Spaltenverschiebung bereits vor der mittelmiocanen Zeit beendet gewesen sein, da die
Sande der oberen Meeresmolasse nicht mit verworfen sind , sondern ungestört auf dem Jura-
kalke Hegen, bald hoch, bald tief, wie es der damalige unebene Meeresboden mit sich
brachte.
Ob letztere Folgerung eine stichhaltige ist, l&fst sich indessen bezweifeln. Es konnte
sehr wohl das weitere Absinken der grofsen vindelicischen Scholle auch noch während mittel-
miocäner Zeit andauern. Dadurch wurde natürlich nur der entsprechende Theil des Meeres-
bodens vertieft, welcher eben absank; der durch die stehen bleibende Albtafel gebildete Theil
des Meeresbodens aber sank überhaupt nicht mit ab. Hier an der Küste konnten mithin
40 Brango:
Ergiebt sich aus zeitlichen Gründen die Unmöglichkeit, diese Auf-
pressung durch den Druck der vindelicischen Scholle (s. die Anmerkung) zu
erklären, so müTste entweder irgend eine andere absinkende Scholle in
solcher Weise gewirkt haben; oder aber es müfste eine andere, vielleicht
eine im Magma selbst liegende Ej*aft die Ursache seines Au&teigens ge-
wesen sein.
Doch an die Möglichkeit einer noch anderen Lösimg würde man denken
können, um die Entstehung der Breccien des Weils- Jura -Kalkes im Vor-
riese zu erklaren: an Erderschütterungen, deren Folge sie wären.
Ohne Weiteres ist klar, dafs durch eine so gewaltige Explosion , wie
die, in welcher wir die Ursache dieser Breccienbildung erkannten, auch
eine entsprechende Erschütterung des Erdbodens hervorgerufen werden
mufste. Aber es wäre doch nicht angängig, in einem solchen Falle, in
welchem man die eigentliche Ursache der Breccienbildung in der Explosion
erkennt, die mit der Explosion verknüpfte Erderschütterung als Ursache
hinstellen zu wollen.
Jedoch davon ganz abgesehen glauben wir auch gar nicht, dals diese
Erderschütterung überhaupt im Stande gewesen sein sollte, so gewaltige
Breccienbildungen zu erzeugen. Es scheint uns vielmehr, dafs nur die
Explosion solche Wirkung zu erzielen vermochte, indem sie die Gesteins-
massen plötzlich in die Höhe hob und wieder fallen liefs, wobei sie so
hochgradig zerschmettert wurden.
Noch viel weniger aber könnte man ein aus anderer Ursache hervor-
gegangenes Erdbeben als Ursache der Breccienbildung ansehen wollen,
denn wenn das der Fall wäre, dann müfste die Vergriesung sich über die
ganze Albhochfläche des Vorrieses zusammenhängend ausdehnen. Das
aber ist nicht der Fall. Die Vergriesung tritt inselförmig inmitten unver-
die Sande un verworfen auf dem Weifs-Jura liegen bleiben, obgleich weiter beckenein wärts
das Absinken noch andauerte. (Das Meereswasser reichte damals wenigstens bis zu SS^^
Meereshohe, also noch auf die stehen bleibende Albtafel hinauf.) Diese Frage besitzt eine
gewisse Wichtigkeit, wenn man der Ursache des Vulcanismus im Riesgebiete nachgeht:
Die Annahme, der Schmelzflufs sei im Riesgebiete bei Urach und im Hegau empor-
gepreist worden durch den Druck des absinkenden vindelicischen Gebirges, ist natürlich nur
haltbar, wenn beide Vorgänge gleichzeitig erfolgten. War das Absinken bereits völlig beendet,
bevor die Ausbrüche begannen , dann kann jenes schwerlich die Ursache dieser gewesen sein.
Dauerte dagegen das Absinken noch während mittelmiocäner Zeiten fort, dann könnte es sehr
wohl die in dieser Zeit erfolgende Eruption hervorgerufen haben.
Das vuicanische Vorries. 41
griesten Kalkes auf; und sie steigert sich wieder innerhalb dieser Tafeln
nach bestimmten, erkennbaren Punkten liin (Taf. I). Unmöglich könnte nun
ein Erdbeben, das gleichmaXsig über die Hochfläche der Alb hingerollt
wäre , in gleichbleibenden Kalken eine Wirkung hervorgei-ufen haben , welche
so sehr ungleichmäfsig ist wie diese.
Es ergiebt sich aus dem Gesagten, dafs die Breccienbil-
dung des Weifs-Jura-Kalkes im Vorriese sich auch nicht auf
ein Erdbeben zurückführen läfst; und somit bleibt als Ursache
wieder nur die Explosion.
F%t/s. Äbh. 1902. L ö
42 Branoo:
n. Das Yorries.
A. Emleitong.
Lage und Name. Wenn wir den Steilabfall des südlichen Riesrandes
erklommen haben und nun über die Alb gen S. wandern» so durchqueren
wir zunächst ein Gebiet , welches bei den gewaltsamen Vorgängen der Ries-
bildung mehr oder weniger unberührt geblieben zu sein scheint (Zone 4 in
Fig. 4, S. 43).
Wiederum südlich dieses halbringfbrmigen Albstreifens aber folgt ein
Gebiet der Alb , das auf's Neue Störungen seines Baues , ausgedehnte Brec-
cienbildungen (Griese) des Weifs- Jura- Kalkes, vulcanische Ausbrüche, Auf-
pressung granitischer Massen und Überlagerung des Weifs -Jura durch
Fetzen von Braun-Jura und Keuper erkennen läfst. von Gümbel nannte
dasselbe die Gürtelzone (Zone 5 in Fig. 4). Da jedoch, wie wir zeigten*,
auch im eigentlichen Rieskessel kreis- bez. gürtelförmige Zonen sich er-
kennen lassen, so kann man jetzt nicht mehr von »der« Gürtelzone kurz-
weg sprechen , müfste sie vielmehr unter Beifögung von Namen der Orte,
welche in derselben liegen, näher kennzeichnen. Die in Rede stehende Zone
des Vorrieses müfste also als »Gürtelzone Amerdingen— Maiuren-Itzingen«
bezeichnet werden. Um diese schleppende Bezeichnungsweise zu vermeiden,
haben wir daher statt des von Gümbel'schen Ausdruckes fiir diese ge-
nannte Zone die kurze Bezeichnung »Vor-Ries« angewandt und glauben
auch bei derselben verharren zu sollen.
Dieses Vorries verläufl im S. des Rieses über Aufhausen, Amerdingen,
Unter-Ringingen , Diemantstein , Fronhofen , Mauren und nun , über die Wör-
nitz setzend, bis Itzingen und Sulzdorf.
Selbständiges Aiifbruchsgebiet. In unserer unten citirten ersten Arbeit
über das Ries hatten wir als wahrscheinlich ausgesprochen, dafs auch in
dem Vorriese ein selbständiges Ausbruchsgebiet vorliege; d. h. also, daCs
hier sowohl die liparitischen Tuffausbrüche wie auch die »granitischen«
und die Gries-Breccien autochthon seien; und dafs ebenso auch die Massen
^ Das vulkanische Ries. S. 38, Fig. i und S. 41, 42.
Das mdcamsche Vorries.
43
von Braun* Jura und Keuper, welche dort auf Weifs- Jura liegen, nicht etwa
aus dem Riese herrüliren, sondern aus der Tiefe des Vorrieses heraufkamen/
Unsere jetzigen Untersuchungen haben diese Ansicht durchaus bestätigt.
Die hier und da zu beobachtende Schwärzung des Weiis- Jura -Kalkes im
Contacte mit den Tuffen, welche niu* möglich war, wenn die Asche hierzu
noch die erforderliche Temperatur von wenigstens etwa 600® C. besafs^,
spricht ebenfalls für Ausbruch des Tuffes an Ort und Stelle.
Fig. 4.
s.
Der Bau des Vorrieses gleicht durchaus nicht dem des Rieses. Schon
der äufsere Umrife der beiderseitigen Gebiete ist ein völlig verschiedener.
Bei dem Riese ist er kreisförmig bez. polygonal.® Bei dem Vorriese kann
man ihn als ungefähr halbringförmig bezeichnen, da derselbe eine etwas
im Bogen verlaufende, gürtelförmige Zone im S. des Rieskessels bildet. In-
dessen der Umriis dieses Halbringes wird dadurch ein unregelmäfeiger, dafs
einerseits die Breccienbildungen des Weifs -Jura über seinen südlichen Rand
hinaus gegen die Donau hin sich erstrecken; und dafs andererseits die »grani-
^ Das vulkanische Ries. 8. 41, 42, 94 und 125.
* Schwabens Vulcan- Embryonen. Theil II, Abschnitt II, S. 547.
* Das vulcanische Ries. S. 107.
44 Branco:
tisclien Explosionsproducte« auf einer südnördlichen Zone, von Unter-Bis-
singen im S. an auf Klein -Sorheim im N. und im Rieskessel zu, sich hin-
ziehen, d. h. auf einer Zone liegen, welche nicht nur diese vulcanische
Gürtelzone (5), das Vorries, sondern auch die mehr oder weniger intaet
gebliebene Alb-Gürtelzone (4) durchquert, die das Vorries vom Riese trennt.
Durch diese von S. gen N. verlaufende Zone »granitischer Explosions-
producte« wird das vulcanische Vorries in einen westlichen und einen öst*-
lichen Theil zerlegt. In dem westlichen liegen die ansehnlichen Massen,
bez. Ausbruchspunkte liparitischer Tuffe, die sich um Auf hausen, Amer-
(lingen. Unter -Ringingen und Fronhofen gruppiren. In dem östlichen liegt
die geringere Masse liparitischer Tuffe, die um Mauren herum zum Aus-
bruche gelangte. (Vergl. Taf. I).
Auf solche Weise sind die Gebiete liparitischer Tuffe und granitischer
Explosionsproducte im Allgemeinen von einander geschieden; denn in den
beiden eben erwähnten liparitischen Ausbruchsgebieten fehlen diese grani-
tischen mehr oder weniger, und umgekehrt in der Zone »granitischer« Ex-
plosionsproducte treten wiederum fast nur diese auf.
Ostlich von Mauren bez. von der Wömitz wiederholt sich das noch-
mals insofern, als hier die um Itzingen und Sulzdorf gruppirten granitischen
Explosionsproducte wieder ohne Begleitung liparitischer Tuffe auftreten.
Wir haben somit in dem von W. nach 0. sich hinziehenden
Vorriesgürtel einen zweimaligen, von W. nach 0. erfolgenden
Wechsel der Gebiete liparitischer Tuffe und granitischer Ex-
plosionsproducte, wie Tafel I zeigt. Die Aufbruchsgebiete der
beiderseitigen so verschiedenen Gesteinsarten liegen mithin
nicht in regellosem Durcheinander, sondern jedes liegt mehr
oder weniger für sich.
Vergleicht man nun die Erscheinungsweise des Vorrieses
mit derjenigen des Rieses, so ergiebt sich, dafs beide zwar in
gleicher Weise gekennzeichnet sind durch diesen Gegensatz
zweier Arten von Explosionsproducten, der untergeordneten gra-
nitischen und der vorwiegenden liparitischen (vergl. den nächsten
Abschnitt B); dass aber beide gänzlich verschieden sind, indem das
Vorries oben auf der Alb liegt, welche relativ wenig zertrüm-
mert scheint, während das Ries einen weiten, in die Alb ausge-
fressenen und eingesenkten Kessel bildet, dessen Boden ein
Das tmlcanische Varries. 45
gänzlich zertrümmertes, regellos dislocirtes Feld darstellt, in
dem vielfach der Granit entblöfst ist; endlich darin, dafs am
Riese grofse Überschiebungen umfangreicher Massen statt-
fanden, während das im Vorriese in sehr viel geringerem Mafse
der Fall sein dürfte.
Im Vorriese ist die Alb, wie es scheint, ganz besonders nur längs
jener N.-S. verlaufenden Linie zerspalten, auf welcher die Aufpressung von
gänzlich zerdrücktem Granit und Zerblasung gewisser Theile des letzteren
zu »granitischen Explosion sproducten« erfolgten. Möglicherweise stehen
diese verschiedenen, an der Alboberfläche isolirt erscheinenden AuQ)res-
sungen des Urgebirges schon in relativ geringerer Tiefe unter einander im
Zusammenhange; so dafs dann, falls das richtig wäre, diese isolirten grar
nitischen Vorkommen der Oberfläche nur die Spitzen einer zusammenhängen-
den, rückenartigen AuQ)ressung sein würden.
Die Breccien- (Gries-) Bildungen des Weifs -Jura- Kalkes im Vorriese
flnden sich theils in der Umgebung der liparitischen Tuffe, theils aber treten
sie an Orten auf, an welchen keinerlei Eruptivgestein vorhanden ist. Ihre
vermuthliche Entstehung durch die grofse Contactexplosion , wurde in Ab-
schnitt I näher besprochen.
B. Die Eniptions- und Explosionsproducte.
1. Allgemeines.
Nirgends im Vorriese hat der Schmelzflufs die Form eines festen
Gesteines angenommen. Auch im Riese scheint das wohl nur an einer
einzigen Stelle der Fall gewesen zu sein, bei Amerbach nahe Wemding.
Dort setzt eine kleine Kuppe eines Gesteins, dessen saure Natur und lipa-
ritische Beschaffenheit von Knebel neuerdings hervorhebt, in dem ge-
hobenen altkrystallinen Gebirge auf.
Der Gedanke liegt nahe, dafs hier dieselben Verhältnisse obwalten
könnten , wie am Wenneberg. Auch dort setzt ein noch sehr viel gering-
mächtigerer Gang im Granite auf, den vonGümbel anfllnglich för einen Liparit,
später aber für einen altkrystallinen Gesteinsgang erklärte, von Knebel
betont aber bezüglich jenes Granges bei Amerbach, dafs derselbe, abgesehen
von seiner petrographischen Beschaffenheit, noth wendig jünger sein müsse
46 Branco:
als die Hebung des Granits, weil bei dieser Hebung der Granit voll-
ständig zertrömmert worden ist, während das ihn durchsetzende liparitische
Gestein ganz unverletzt erscheint. Letzteres kann somit erst nach Auf-
hören des Vorganges, welcher die Zertrünunerung bewirkte, zur Eruption
gelangt sein. Von Gümbel glaubte in dem Vorkommen nur eine An-
häufung von Schlacken sehen zu müssen, nach von Knebel's letzter
Arbeit bildet dasselbe indessen eine zusammenhängende Gesteinsmasse.
(Siehe S. 4 Anm. 2.)
Alle übrigen Vorkommen eruptiven Ursprunges im Vorriese wie im
Riese bestehen nur in losen Auswurfsmassen. Aber je nach dem Materiale,
welches hierbei zu Tage gefördert wurde, kann man zwei Arten von
Eruptionen unterscheiden, deren Erscheinungsweise eine sehr verschiedene
ist und deren Alter möglicherweise ebenfalls ein verschiedenes sein könnte.
Wir wollen sie hier als »liparitische« und »granitische« Eruptionen be-
zeichnen.
Liparitische Emptionen. Dieselben haben auCser dem oben besprochenen
festen Liparite nahe Wemding nur Tuffe und Schlacken gebildet und führen
auch Brocken der durchbrochenen Sedimentgesteine. Schon Deffner hatte
die gewifs sehr kühn klingende Ansicht geäulsert, dafs die liparitischen
Schlacken und Tuffe des Rieses aus der Wiedereinschmelzung von Granit
hervorgegangen seien. Vor kurzem war aber auch Sauer durch mikrosko-
pische Untersuchung der Schlacken zu der Ansicht gelangt, dais hier in
der That ein basisches Magma durch Einschmelzung von Granit zu einem
liparitischen geworden sei.
Das in diesem Abschnitte später zu besprechende eigenartige Vor*
konunen bei Schmäh ingen, welches eine Granitbreccie darstellt, die über-
aus stark gehärtet und durch eine geschmolzene, dichte Masse verkittet
ist, spricht ebenfalls dafür, dals, mindestens in dieser Breccie, Granit
wieder eingeschmolzen sei. Gregenwärtig erfolgt unter Hm. Sauer's Lei-
tung eine Bearbeitung aller dieser vulcanischen losen Auswur&massen im
Riese, welche auf diese interessante Frage hoffentlich weiteres Licht werfen
wird.
Wir haben bereits früher^ dargethan, dafs in den verschiedenen Vor-
kommen Uparitischer Tuffe und Schlaeken eine Anzahl kleiner, isolirter,
embryonaler vulcanischer Ausbruchsstellen vorliegt, ähnlich denen im be*
* Das vulcaoische Bies. S. 120 — 127.
Das vulcanische Vorries. 47
nachbarten Gebiete von Urach. Aber im Riese und Vorriese dürfte, ab-
gesehen von diesen Ausbrächen liparitischer Massen noch eine groJtse Ex-
plosion stattgefunden haben, bei welcher kein Magma, sondern nur an-
stehendes Gestein zerstiebt oder doch zerschmettert wurde; wogegen bei
Urach keinerlei Andeutungen dafilr vorliegen, dafs auüser den vulcanischen
Eruptionen noch eine grofse Explosion stattgefunden habe (s. Abschnitt I).
Granitische Explosionsproducte. Völlig anderer Art als diese lipari-
tischen Auswurfsmassen ist das, was wir hier als »granitische Explosions-
producte« bezeichnen wollen. Den kürzeren und besser klingenden Aus-
druck »granitische Tuffe« wagen wir nicht «anzuwenden, weil man denken
könnte, unter diesem Ausdrucke solle hier eine zu tertiärer Zeit erfolgte
Eruption von Granitmagma und gar eine Aschenbildung desselben ver-
standen werden.
Selbstverständlich ist davon keine Rede. Es soll hier nur eine zur
Miocänzeit durch Explosion erfolgte Verarbeitung des längst verfestigt ge-
wesenen Granites bezeichnet werden. Durch diese Explosion wurde ein
Theil des Granites zerschmettert, so dafs nun inmitten des anstehenden
(aber gehobenen) Granites gangförmige Massen von »granitischem Explosions-
materiale« auftreten, welche aus rundlichen, gröberen und feineren Brocken
von Urgesteinen, meist Granit oder Gneifs, bestehen.
Zu diesem stückigen Materiale aber gesellt sich vielfach noch eine
meist untergeordnete, ganz erdige Grundmasse von rother Färbung; die
Deutung dieser Grundmasse ist schwierig.
Wenn man in derselben einen völlig zersetzten liparitischen Tuff er-
blicken will, dann würden die granitischen Stücke in einer aus wirklichem
Schmelzflusse hervorgegangenen Grundmasse liegen. Wir hätten dann also
einen echten liparitischen Tuff vor uns, der sich von dem, was wir hier
als »liparitische Tuffe« bezeichnen, lediglich dadurch unterschiede, dafs er
so sehr viel Stücke von Urgesteinen fthrte, ja bisweilen nur aus diesen
bestände.
Aber einer solchen Deutung stehen drei Bedenken gegenüber:
Einmal ist diese Grundmasse erdig, ganz zersetzt, während doch die
»liparitischen Tuffe« im Vorriese und Riese das nicht zu sein pflegen.
Zweitens kommt eine Vereinigung der beiderseitigen Massen vor, so
bei Schmäh ingen; und dann kann man sehr deutlich den dunkel grauen,
echten »liparitischen Tuff« von dieser erdigen Grundmasse unterscheiden.
48 B R A N c o :
Drittens aber sind dieser fraglichen, zersetzten Grundmasse meist so
viel Quarzkömer beigemengt, dafs man auch aus diesem Grunde doch eher
lediglich an fein zerblasenes granitisches Gestein denken möchte, als an
Liparitasche.
Ist dem nun wirklich so, dann würde bei der Bildung dieser
»granitischen Explosionsproducte« wirklicher Schmelzfluss gar
nicht betheiligt sein; sie wären dann nicht nur in ihrer äufseren
Erscheinung, sondern auch in ihrem inneren Wesen, genetisch,
etwas ganz anderes als die liparitischen Tuffe des Riesge-
bietes.
Das aber würde ein weiterer Grund fftr die Annahme sein, daüs den
»granitischen Explosionsproducten « ein etwas anderes Alter zukSme, als
den »liparitischen Tuffen«. Die ersteren wären dann fi^er und durch
die grofse Explosion von Wasserdampf entstanden; die letzteren später
und durch die relativ kleinen Explosionen der Gase des Magmas (vergl.
Abschnitt I).
Dabei würde es natürlich nicht ausgeschlossen sein, dafis an ganz der-
selben Stelle, an welcher früher eine blosse Gasexplosion, also eine »gra-
nitische Eruption«, stattfand, später nochmals eine liparitische sich voll-
zogen haben könnte ; wie sich denn in der That auch die Produkte Beider
neben einander, z. B. bei Schmäbingen , im Riese finden.
Man könnte diese granitischen Explosionsproducte vielleicht auch als
eine Reibungsbreccie deuten wollen, welche dadurch entstanden wäre, dafs
bei der Riesbildung die einzelnen Granitschollen nur gegen einander ge-
rieben wurden. Indessen solche Vorkommen, wie wir sie z. B. bei Itzingen
finden, sprechen entschieden gegen eine derartige Deutung. Dort setzt im
Granite ein Gang granitischer Explosionsproducte auf, dessen grobe Be-
standtheile gar nicht aus Granit, sondern wesentlich aus anderem altkry-
stallinen Gesteine, aus Gneifs, bestehen.
Unmöglich also kann dieses Vorkommen für eine Reibungs-
breccie des Granites erklärt werden. Die Stücke müssen vielmehr
aus der Tiefe durch den Granit hindurch in die Höhe befördert sein; imd
einen solchen Vorgang wird man sich nur als durch eine Explosion von
Gasen hervorgebracht erklären müssen. Allerdings ist die Gangform dieser
granitischen Tuffe meist nicht deutlich zu erkennen; aber das liegt wohl
nur an der Mangelhaftigkeit der Aufschlüsse.
Das vtiloanische Vorries. 49
Auch im Rieskessel setzen, wie wir sehen werden, diese granitischen
Explosionsproducte in dem Granite auf, welchen man, trotz seiner Hebung
in ein höheres Niveau, doch unbedenklich als anstehend bezeichnen wird.
Die Kraft , welche das bewirkte. Unhaltbar erscheint uns die Deutung,
wie schon gezeigt wurde (S. 1 9 und 50), es könnten hier ursprüngliche, insel-
förmige Erhebungen des granitischen Meeresbodens vorliegen. Die zerprefste
BeschajSenheit des Granites der Inseln bliebe unerklärt. Unmöglich hätten
dann auch der Keuper und Jura sich in so normaler petrographischer Be-
schaffenheit hart an diese kleinen Inseln angelagert haben können; sie wür-
den sandsteinig ausgebildet worden sein. Auch würde die Thatsache völlig
unerklärlich bleiben , dafe oft neben diesen Granitvorkommen , also im Niveau
des Weiss -Jura, sich Bunte Breccie aus Keuper- und Jurathon befindet, die
ersichtlich hier aus der Tiefe aufgeprefet ist.
Aber auch überschoben, d. h. dem Weife -Jura aufliegend, sind diese
Granitvorkommen des Vorrieses sicher nicht. Die Lagerungsverhältnisse
lassen erkennen, dafs die Granitmassen im Körper der Alb stecken. Zum
Überflusse haben wir auch noch bei Sulzdorf eine lo" tiefe Grabung vor-
nehmen lassen, welche das Hinabsetzen des Granites im Weife-Jura sicher
feststellte.
Diese unzerblasenen Granitmassen sind also in irgend einer Weise durch
das sedimentäre Gebirge hindurch in die Höhe gefördert. Dafe der Vor-
gang ein sehr gewaltsamer war, ersieht man aus der völlig mürben, wei-
chen zerprefeten Beschaffenheit. Aber trotz derselben sind diese Granite
doch immer noch als einheitliche Massen zu erkennen, ganz wie das unten
im Riese bei den unzerblasenen Graniten der Fall ist ; nur sind sie im Vor-
riese noch weicher als im Riese. Das Einheitliche des unzerblasenen Theiles
dieser Granitvorkommen steht also in scharfem Gegensatze zu dem Stücki-
gen des zerblasenen Theiles derselben.
Nun ist der zerblasene Theil des Granites im Vorriese zweifel-
los das Product einer Explosion. Folglich, so mufs man schliefsen,
kann der unzerblasene Theil nicht ebenfalls das Product einer
solchen sein, sondern mufs dasjenige einer Aufpressung sein,
die er als Ganzes erlitt, wobei er vollkommen zerdrückt wurde.
Selbst wenn man aber trotzdem einmal annehmen wollte, dafe die Ex-
plosion zwei so völlig verschiedene Wirkungen gehabt haben könnte, an
einer und derselben Stelle hier den Granit völlig zu zerblasen, dort ihn
Phys,Äbh. 1902. L 7
50 Branco:
als Granzes in die Höhe durch die Alb hindurchzupressen, so mülste doch
jede dieser plötzlich emporgeschleuderten ganzen Granitmassen im nächsten
Augenblicke wieder in die Tiefe zurückgefallen sein. Das ist nicht der
Fall; also kann die hebende Kraft nicht in der Explosion liegen.
Ganz anders eine durch empordrängendeii Schmelzfluß hochgeprefste
Granitmasse. Diese behielte fortwährend das Magma als Stützpunkt unter
sich, brauchte daher nicht zurückzusinken, solange dieses Stand hielte.
Man sieht, die, von Koken übrigens ganz ebenso wie von uns für
gesichert erachtete Thatsache, dafs diese unzerblasenen Theile der Granit-
massen des Vorrieses aus der Tiefe gewaltsam in die Höhe gerückt worden
sind, läfst sich durch die Annahme einer Explosion noch schwerer ver-
stehen wie durch diejenige empordrängenden Schmelzflusses.
Der Vorgang der Au^ressung wird nun imi so leichter verständlich,
je gröfser das durch den Schmelzflufs aufgeprefste Gebiet ist. Daher er-
scheint im Riese , in welchem ein umfangreiches Gebiet von der Aufpressung
betroffen wurde, diese Vorstellung durchaus nicht widersinnig; und nur
im Vorriese, wo es sich um kleine, inselformig im Weifs- Jura -Gebiete auf-
tretende Granitmassen handelt, widerstrebt unser Empfinden einer solchen
Vorstellung, weil man an Granitcylinder relativ geringen Umfanges denkt,
welche auf langer Bahn durch die Alb hindurchgeprefst sein mülsten.
Zur Erleichterung dieser Vorstellung kann indessen doch Mehreres dienen :
Einmal nämlich könnte man denken, dafs die aufgeprefste Granitmasse
nur nahe der Oberfläche der Alb in einzelne , isolirte , kleine zweigförmige
Massen zersplittert sei , dafs aber in gar nicht grofser Tiefe die einzelnen
Zweige zusammenhängen , so dafs dann in Wirklichkeit ein von N. nach S.
langgestreckter (S. 50), zusammenhängender Granitrücken in eine entsprechend
verlaufende Zerspaltung des Albkörpers hineingedrückt wäre, von dem nur
einzelne Ausläufer noch höher hinauf gelangten. Hierbei würde man für
die östlich der Wömitz auftretenden Granitmassen bei Itzingen und Sulz-
dorf eine solche Annahme wiederholen müssen.
Sodann wird man zu einem besseren Verständnisse des Au^ressungs-
vorganges im Vorriese gelangen, wenn man sich vergegenwärtigt, dafs
doch der Höhen unter scliied zwischen diesen auf der Hochfläche der Alb
auftretenden Granitmassen und den unten im Rieskessel befindlichen nur
ein gradueller und zudem geringwerthiger ist; denn diejenigen des Vorrieses
ragen durchschnittlich und ganz ungefähr nur um 50" höher über den
Das vukatttsche Vorries. 51
Meeresspiegel (jetzt) auf, als das bei denjenigen des Rieses der Fall ist.'
Zudem ist zu bedenken, dafs im Riese der Granit gleich nach seiner Auf-
pressung, also früher, gewiis höher aufragte, als das heute nach seiner
theilweisen Abtragung nur noch der Fall ist*^; denn in dem weiten Ries-
kessel war die frei aufragende Granithöhe wohl der Abtragung durch die
Wasser des obermiocänen Riessees und durch die Atmosphärilien stärker
ausgesetzt als in dem Vorriese jene im Körper der Alb steckenden, daher
diurch letzteren geschützten Granitmassen es sind. Aufserdem aber könnte
auch noch der Granit im Rieskessel durch den späteren Einsturz desselben
nach seiner Hebung wieder in ein tieferes Niveau gerückt worden sein,
als er vor dem Einstürze besafs.
Wenn dem so ist , dann würde der ohnedies nicht grolse heutige Unter-
schied von 50°* in dem Betrage der Aufpressung des Granites im Riese
(450") und im Vorriese (500") noch geringer werden oder verschwinden
oder gar in das Gegentheil verkehrt werden. Jedenfalls aber ist der Unter-
schied , auch wenn er ursprünglich bestand , nur ein gradueller und zudem
kein grofser, kein im Wesen der Sache begründeter.
Das Schwerbegreifliche einer Aufpressung dieser kleinen Granitmassen
im Vorriese wird aber noch durch die weitere Erwägung herabgemindert,
dais ja das bekannte Steinheimer Becken bezüglich der Grö&e eine ver-
bindende Mittelstellung zwischen dem grofsen Rieskessel und den in Rede
stehenden kleinen Granitmassen des Vorrieses bildet. Auf Taf. II in unserer
untenstehenden Arbeit^ ist in der Ecke unten links das Steinheimer Becken
in demselben Mafsstabe dargestellt wie das Riesbecken. Man ersieht daraus,
wie überaus klein bereits das Steinheimer Becken gegenüber dem Ries-
kessel ist. Nun hat im Steinheimer Becken aber ganz zweifellos eine Auf-
pressung stattgefunden; denn der Braun -Jura ist dort durch Überschiebung
in das Niveau des Weifs-Jura gehoben*, und erftÜlt zudem doch nur einen
^ £s lassen sich natürlich nur ganz ungefähr durchschnittliche Zahlen hierfür angeben.
Man wird vielleicht den Graniten im Riese eine durchschnittliche Meereshöhe bis 450"
geben können, denen im Vorriese von 500".
• Das vulcanische Ries S. 47.
' Das vulcanische Ries.
^ Dafs er dabei , wie Fr aas zeigt, gleichzeitig auch seitlich auf den Weifs-Jura
hinaufgeschoben ist, würde an der Natur dieser Aufpressung als einer solchen nichts ändern,
da eine Überschiebung hier nichts Anderes ist als eine Aufpressung auf schräger Fläche. Doch
ist das für unsere jetzige Betrachtimg nebensächlich.
?•
52 Branco:
kleinen Theil des Beckens. Wenn das nun bei dem so sehr viel klei-
neren Steinheimer Becken ganz ebenso wie bei dem grolsen Riesbecken
möglich war, so mufs es auch bei den abermals kleineren Granitmassen
im Vorriese möglich gewesen sein , wenn sie auch vielleicht nur ein Viertel
oder gar ein Sechstel des Umfanges vom Steinheimer Becken besitzen
mögen.
Dieses Steinheimer Becken bildet also gleichzeitig das
beste Beweismittel für das thatsächliche Vorhandensein von
Aufpressungen, und gegen die Deutung derselben als ursprüng-
licher Inselbildungen, im Vorriese. Der Braun-Jura dort ist
zweifellos aufgeprefst, wenn auch zugleich überschoben; durch
Inselbildung kann man sein Auftreten in dem zu hohen Niveau
natürlich nicht erklären. Wenn nun aber dort der Braun-Jura
gehoben ist, warum sollte hier denn der Granit nicht gehoben
sein können?
Zwar könnte man vielleicht annehmen wollen, die Aufpressung und
Überschiebung des Braun -Jura im Steinheimer Becken seien hervorgerufen
durch den Einsturz dieses Beckens , bei welchem Vorgange ein Theil des
Gebietes in die Höhe gestofsen sei ; und dann müfste natürlich vom Ries-
gebiete dasselbe gelten. Indessen einer solchen Deutung widerspricht
einmal das Verhalten des Vorrieses, in welchem letzteren kein Einsturz
und demnach eine]jAu^ressung des Granites vorhanden sind; imd zweitens
das Vorhandensein der sogleich zu besprechenden magnetischen Störungen,
welche das Vorhandensein einer eisenreichen Eruptivmasse in der Tiefe —
die Ursache der Aufpressung — sehr wahrscheinlich machen.
Nach dem Gesagten liegen also im Vorriese thatsächlich
Granitmassen vor, welche den Körper der Alb durchsetzen, ohne
dafs diese durchgreifende Lagerung erklärt werden könnte durch
die Annahme, es handele sich hier um ursprüngliche inselför-
mige Aufragungen des ehemaligen granitischen Meeresbodens,
oder durch die Annahme, die Granite seien durch eine Explo-
sion in die Höhe gedrückt worden. Es bleibt mithin nur die
Annahme einer langsamen Aufpressung durch Schmelzflufs.
Das aber ist von entscheidender Wichtigkeit auch für die
richtige Erfassung des Granitproblemes im Rieskessel. Wir
gaben die Gründe an (s. Abschnitt I), welche im Riese gegen die An-
Das vtUcanische Vorries. 53
nähme sprechen, das zu hohe Niveau des Granites könne verursacht sein
durch ein inselfÖrmiges Aufragen desselben oder durch eine Explosion.
Nun finden wir im Vorriese ebenfalls ein zu hohes Niveau des Granites,
zugleich aber die völlige Unmöglichkeit, dasselbe durch Inselbildung zu
erklären. Folglich, so lautet der Analogieschlufs, welcher sich
aufdrängt, ist auch für das Ries dieselbe Unmöglichkeit erwiesen,
der Granit ist auch dort sicher aufgeprefst.
Magnetische Störungen als Beweis. Dafe in der That eine grofse
basische Eruptivmasse in jenen Gegenden in der Tiefe sich befindet —
und das wäre doch der von uns angenommene Laccolith — solches scheint
nun bewiesen zu sein durch die kartographische Aufiiahme der magneti-
schen Störungen auch des Riesgebietes, welcher Hr. Prof. Haufsmann
auf unsere Bitte in liebenswürdiger Weise sich unterzogen hat. Die be-
treflFende Arbeit wird , wenn möglich , in den Sitzungsberichten dieser Aka-
demie erscheinen. Es läfst sich aus der Karte* unzweideutig erkennen,
dafs die Störungen der magnetischen Inclination im Osten sich im Ries-
imd Vorriesgebiete sehr deutlich aussprechen, aber auch nach Westen hin
bis weit jenseits des Steinheimer Beckens sich erstrecken.
Durch tektonische Bruchlinien, wie man vielleicht meinen wollte, sind
diese magnetischen Störungen unmöglich zu erklären, denn sie sind un-
abhängig von denselben. Sie fehlen vor Allem gänzlich an dem langen,
südlichen Bruchrande der Alb gegen Oberschwaben hin , während sie doch
gerade dort auftreten müfsten, wenn sie von Brüchen der Erdrinde in's
Leben gerufen würden.
Andererseits lassen sich diese magnetischen Störungen auf der Alb
vom Ries aus bis weit jenseits Steinheim im Zusammenhange verfolgen,
obgleich gerade dort in der Alb keine tektonischen Störungen sind.
Die Störungen der magnetischen Inclination fehlen somit
da, wo die Hauptbruchlinie ist; und sie sind vorhanden zum
Theil da, wo Bruchlinien fehlen. Folglich sind sie unabhängig
von solchen, und es bleibt für ihre Erklärung nur die Annahme,
dafs ein basaltischer eisenhaltiger Laccolith unter jenem Ge-
biete sich befindet, der an einer Anzahl von Stellen: Steinheim, Ries,
local im Vorriese, das über ihm liegende Deckgebirge hier mehr, dort
^ Noch in letzter Stunde hat uns Hr. Haufsmann in dankenswerthester Weise diese
Karte zur Verfügung gestellt, so dafs wir dieselbe als Anhang hinten beiheften konnten.
54 Brango:
weniger in die Höhe schob , weil er eine Intrusionsmasse von wechsehider
Dicke bildete und weil das Deckgebirge an verschiedenen Orten ein Mini-
mum von Widerstandsfähigkeit besafs.
Im vulcanischenKaiserstuhl imBreisgau zeigt sich das Gleiche.
Auch dort läfst sich nach 6. Meyer's Untersuchungen* keinerlei
Beziehung der erdmagnetischen Anomalien zu Spalten oder Ver-
werfungen feststellen. Sondern diese Anomalien sind nach dem Ver-
fasser zu erklären aus einer permanenten Magnetisirung des Gesteins, in-
dem die Basaltberge als Ganzes sich wie annähernd senkrecht stehende
Nordpole verhalten.
Auf der 0. -Seite des Kaiserstuhles lassen dann die erdmagnetischen
Anomalien das Auftreten der Sedimentgesteine sofort erkennen. Auf der
SW.-Seite dagegen zeigen sie eine unterirdische Fortsetzung
der basaltischen Massen an, also ganz wie am Riese, von welchem
sich, zufällig auch nach SW., nach Steinheim hin, ebenfalls eine
unterirdische Fortsetzung basaltischer Massen verräth.
So haben wir beim Kaiserstuhlgebirge magnetische Anomalien, die
sicher theils durch ober-, theils aber auch durch unterirdische eisenhaltige
Eruptivgesteine hervorgerufen werden. Warum sollten die Anomalien des
Riesgebietes nicht ebenfalls durch solche unterirdischen Massen bedingt sein?
Durch Eisenerze des Braun -Jura oder des Tertiär lassen sie sich jedenfalls
nicht erklären.
Der »spukhafte« Laccolith des Riesgebietes, wie Koken ihn spottend
benennt, ist somit doch wohl kein Phantasiegebilde, sondern eine that-
sächlich in der Tiefe liegende Masse.
Von dieser Au^ressung im Vorriese mufs natürlich auch die über den
Graniten ursprünglich liegende Decke von Sedimentgesteinen betroffen wor-
den sein. Wo ist diese wiederzufinden? Ganz wie im Riese diese sedi-
mentären Deckmassen von dem gehobenen Gebiete abrutschen mufeten und
ihr Abgleiten durch eine grofse Explosion zum Theil beschleunigt wurde,
so mag das auch an den betreffenden Stellen im Vorriese der Fall gewesen
sein. Und wie sie dann später auf dem so ausgedehnten Gebiete des
Rieses der Erosion gröfstentheils zum Opfer fielen, so auch auf dem so
kleinen Gebiete des Vorrieses; denn hier fand Au^ressung ja wesentlich
Bericht der Naturforsch. Ges. Freiburg i. B., Bd. 12, 1902, IS. 40 (173).
Das mUcanische Vorries. 55
nur statt in dem Gebiete von Itzingen-Sukdorf und auf der NS. verlau-
fenden Strecke Sorheim— Unter-Bissingen.^
Es wird aber auch hier wie dort nicht ausgeschlossen sein , dafs dieses
Deckgebirge durch die groise Explosion zum Theil in die Luft geblasen
und zerschmettert worden ist, worauf es der Erosion um so leichter zum
Opfer fallen konnte. Im Vorriese scheinen in der That viele Fetzen von
Bunter Breccie und von Jura -Thonen, die sich auf dem Weifs- Jura finden,
herausgeschleudert zu sein. Auch die in den marinen Sand bei Dischingen
sowie westlich von Donauwörth eingebetteten Fetzen von Jura- und Keuper-
Thon (Abschnitt IV) dürften ausgeworfen sein. Es ist aber selbstverständlich
völlig unmöglich zu trennen das, was durch langsame Emporpressung all-
mählich gehoben ward und dabei allmählich abglitt und überschoben wurde,
von dem, was durch die gewaltige Explosion plötzlich beseitigt wurde.
2. Specielles.
Nach diesen allgemeinen Betrachtungen wollen wir eine Anzahl von
Aufschlüssen vorfuhren, an denen diese aufgeprefsten einheitlichen Granit-
massen und die granitischen Explosionsproducte des Vorrieses sich beob-
achten lassen. Um jedoch die Eigenart und den Gegensatz der beidersei-
tigen Erscheinungsformen granitischer Massen möglichst klar vor Augen zu
fuhren, soll ihrer Schilderung vorausgeschickt werden diejenige zweier Lo-
calitaten im Riese, an welchen uns nur unzerblasener Granit entgegentritt.
Einheitlicher^ (unzerblasener) Granit im Riese. Wenneberg. Genau
östlich von Nördlingen ragt der Wenneberg ungeföhr 50" über die Thal-
ebene des Rieskessels empor. Es besteht aus anstehendem Granit, welcher
eine Krönung von obermiocänem Süfswasserkalke trägt, die bis zu 470'"
Meereshöhe aufragt. An der Nordseite des Berges befindet sich ein alter
Steinbruch. In diesem sieht man noch heute den schmalen Gang von Wenne-
bergit im Granite aufsetzen, welcher früher (S. 45,56) als jungvulcanischer,
liparitischer Gang erklärt wurde, bis man ihn dann als altkrystallinisches
Ganggestein umdeutete.
* Das ganze übrige Vorriesgebiet , d. h. der überwiegend gröfste Theil desselben, blieb
unberührt von einer Aufpressung.
* Die Bezeichnung »einheitlicher« oder »unzerblasener« Granit mufste gewählt werden,
weil man bei der vollkommenen Zertrümmerung des Gesteins von einem »festen« Granite
nicht sprechen darf.
56
Bramco :
Wie gewöhnlich im Kiese, so lälst auch hier der anstehende Granit
deutliche Zerpressung erkennen ; aber gegenüber den später zu betrachtenden
Granitmassen des Vorrieses, welche mit granitischen Explosionsproducten zu-
sammen auftreten, ist er entschieden fester, unzersetzter, weniger zerbroclien
als diese.
Vor Allem aber trägt er einen durchaus einheitlichen Charakter. Wenn
auch Differenzen in grob- und feinkörniger Ausbildung sich zeigen , so ist
doch die Zusammengehörigkeit der ganzen Masse zu einer Einheit ersicht-
lich. Man kann z. B. noch deutlich eine Apophyse des grobkörnigen in
den feinkörnigen Granit hinein erkennen , jedoch ohne jede Zertrümmerung
F*g.5.
Weiineberg. Anflagerung
An Farbe itnng dea Gnmitw.
der Ränder. Alle Spuren von Zerblasung und von tuffartiger Bildung fehlen
an dieser LocaUtät gänzlich.
An der SO.- und O. -Seite des Wenneberges ist sehr gut das Oberste
dieser Granitmasse aufgeschlossen. Man sieht die Überlagerung durch ober-
miocSne Süfswasserschiehten und erkennt die Aufarbeitung des granitischen
Materiales zu feinem Sande, losen Geröllschichten und zu fester Breceie
mit kalkigem Bindemittel, sowie den allmählichen Übergang der letzteren
in typischen Suis wasserkalk.
Lieriicim. Ein zweiter Aufschlufs mit einheitlichem, anstehendem Gra-
nite des Rieses zeigt sich in der Sandgrube von Lierheim.' Auch hier stellt
sich der Granit als eine zusammenhängende Masse heraus, wenn er auch
Das vulcanische Ries.
ind Abbildung.
Das vulcanische Vorries. 57
durch die starke Pressung, welcher er ausgesetzt gewesen ist, in viel hö-
herem Ma&e vemischelt ist, als am Wenneberg.
Zu trennen von diesem Granite sind auch hier die über demselben
bez. in Taschen desselben liegenden Verarbeitungsproducte des Granites.
Diese aber sind hier wohl weniger durch tertiäre Gewässer, sondern mehr
durch Gebirgsbewegungen bei Entstehimg der darüber liegenden Bunten
Breccie gebildet worden. Das hier zwischen den einzelnen Granitstücken
liegende feinkörnige Material läfst sehr deutlich seine Entstehung aus Granit
erkennen; es ist sandig, nicht aber erdig und an zerstäubtes oder zerrie-
benes Grestein erinnernd, wie das umgekehrt oben auf der Alb bei den
granitischen Explosionsproducten der Fall ist.
Granitische Explosionsproducte^ im einheitlichen Granite. Balgheim.
Es treten nun aber an anderen Orten im Riese, inmitten des anstehenden
einheitlichen Granites , auch granitische Explosionsproducte auf. Wir wollen
als Beispiel zunächst die Localität am Keller bei Balgheim wählen. Hier
ist in einer Grube die Bunte Breccie aufgeschlossen. Letztere zeichnet sich
durch vorwiegenden rothen Keuper-Thon aus und besitzt eine gewundene
Structur. Ob das tertiäre Verarbeitung oder aber Auswalzung bei der He-
bung des Riesgebietes ist, bleibt zu entscheiden, ist jedoch fÄr vorliegende
Betrachtung nebensächlich.
In der oberen, gröfseren Abtheilung der Grube ist einheitlicher Granit
aufgeschlossen. Aber inmitten dieses einheitlichen, wenngleich völlig zer-
drückten Gesteins setzt ein 2° mächtiger Gang granitischer Explosionspro-
ducte auf. An der SW. -Seite des Hügels, bei den dortigen Häusern, sind
diese letzteren sogar vorherrschend und zum Theil mit Bunter Breccie ge-
mengt. Deutlich kann man den Gegensatz erkennen zwischen dem ein-
heitlichen Granite und dem zerblasenen, welch letzterer aus Stücken gra-
nitischer Gesteine besteht, zwischen denen eine feinerdige, aber Quarzkörner
fährende Grundmasse liegt. Wegen dieses Gehaltes an Quarzkömem möchten
wir die Grundmasse nicht als Zersetzungsproduct eines liparitischen , also
echt vulcanischen Tuffes ansehen, sondern als ein verwittertes Zerblasungs-
product des Granites, hervorgerufen durch die grofse Explosion (s. S. 47).
Granitische Explosionsproducte in Verbindung mit lipariiischem Tuffe.
Sehmähingen. Eine andere sehr interessante Ortlichkeit bietet der Kirch-
berg bei Schmähingen. Dort findet sich stark zertrümmerter Weifs-Jura-
^ Über diesen Ausdruck siehe S. 47.
Fhys. Ahh. 1902. I. 8
58 Branco:
Kalk, der in Form einer grofsen Scholle auf »Granit«, wie die Karte sagt,
liegt. Dieser »Granit« ist aber kein einheitlicher, sondern ein ganzlich zer-
blasener. In zahlreichen Gruben aufgeschlossen, zeigt er überall diesen
selben Typus.
In einer feinkörnigen Grundmasse , welche mehr oder weniger zurück-
treten kann imd ausgezeichnet ist durch ihren Gehalt an Quarzkörnem,
liegen Stücke altkrysta.lliner Gesteine. Die Farbe der Grundmasse ist grau,
grün oder roth. Die erdige Beschaffenheit macht es nicht unmöglich , dafs
hier bereits echter vulcanischer, liparitischer Tuff beigemengt sein könnte,
w&hrend die Quarzkörner aber sicher nur von zerblasenem Granite her-
rühren. Weiter bergaufwärts, am Wege zum Reimlinger Berge, stellen sich
denn auch deutlich liparitische Schlacken ein, und schliefslich hat das gra-
nitische Explosionsproduct ganz dem normalen liparitischen Tuffe Platz
gemacht. Immerhin aber hat der liparitische Tuff eine ganz andere Farbe
als diese erdige Grundmasse; und wenn man zudem den Gehalt an Quarz-
kömern in der letzteren berücksichtigt, so möchte man auch hier mehr
dazu neigen, diese Gi*undmasse nur als feinstes Zerblasungsproduct des
Granites zu betrachten (s. S. 47).
Hier sehen wir also, wie an derselben Stelle, an welcher festgewesene
granitische Gesteinsmassen zerblasen wurden, gleichzeitig oder später li-
paritisches Magma im zerstäubten Zustande seinen Ausweg fand.
Besonders interessant sind an dieser Localität grofee, überaus harte
Blöcke von Granit, die aus dem granitischen Explosionsmateriale heraus-
gewittert sind. Sie bestehen aus eckigen Stücken, bilden also eine rothe
Granitbreccie , die durchzogen wird von einer griinen porphyrischen Masse.
Es scheint, als ob in letzterer ein Einschmelzungsproduct des
Granites vorliege, welches den Stücken der Breccie gegenüber
die Rolle eines Cementes spielt.
Granitische Explosionsprodiicte im Vorricse. Nachdem wir so ein-
heitlichen anstehenden Granit und in demselben aufsetzende zerblasene Gra-
nite im Rieskessel betrachtet haben, wollen wir uns zu den entsprechenden
Verhältnissen im Vorriese wenden und auch hier eine Reihe von Locali-
täten in's Auge fassen.
Dieselben liegen zunächst auf einer ungefähr nordsüdlich streichenden
Linie (S. 44), welche von Bissingen im S. bis nach Klein -Sorheim im süd-
lichen Riese sich hinzieht (Taf. I).
Das vtUcanische Vorries. 59
Die geologische Karte von Bayern zeigt auf dieser Linie inmitten des
Weifs- Jura -Gebietes eine Anzahl von »Granit «vorkommen. Indessen han-
delt es sich, wie wir sehen werden, bei diesen Massen zum Theil nicht
um Granit, sondern um granitische Explosionsproducte.
Bei Unter -Bissingen, südwestlich des Dorfes, befindet sich ein solcher
» Granit «punkt auf der Karte verzeichnet, welcher freilich nur ganz mangel-
haft an Wegböschungen aufgeschlossen ist. Man findet nur eine lehmige,
völlig zersetzte Schuttmasse, in welcher sich kleine Granitstücke und Spuren
von Keuper, Braun- und Weifs -Juj:a-6ri es finden. Die Granitstücke auf
den Feldern sind also nur Auswitterungen aus dieser zusammengesetzten
Masse. Relativ häufig finden sich in dem Beschotterungsmateriale des Feld-
weges aber auch Stücke von liparitischem Tuffe und gebranntem Weifs-
Jura neben solchen von Granit. Ganz sicher sind diese Stücke von den
Feldern abgesammelt, unter denen diese Masse anstehen mufs.
Wenn daher auch ein Aufschlufs fehlt, so kann man aus den aufge-
führten Thatsachen doch nur den einen Schlufs ziehen, dafs dieses » Granit «-
vorkommen keinen einheitlichen anstehenden Granit, sondern nur ein Ex-
plosionsproduct darstellt, aus dem die Granitstückchen ausgewittert sind.
Das reichliche Vorkommen von Stücken liparitischen Tuffes spricht daför,
dafe wir hier entweder eine Vereinigung von liparitischem Tuffe und gra-
nitischem Explosionsproducte (Tj^us Schmähingen S. 57), oder aber nur
einen liparitischen Tuff vor uns haben, welcher Granitstückchen fiihrt.
Südlich von Stillnau findet sich ein zweiter Punkt. Hart am Dorfe
liegt dort, mitten im Weifs -Jura, eine grofse Sandgrube, welche einen um-
pfangreichen , mit roth er Verwitterungsfarbe überzogenen Aufschlufs in Granit
darbietet. Der letztere fahrt weifsen und röthlichen Feldspath, ist sehr
weich, zu Grus und Sand zerfallend, aber doch entschieden einheitlich.
Er bildet allem Anschein nach eine grofse, überaus gewaltsam behandelte,
daher sehr mürbe Scholle. An einer relativ kleinen Stelle, nahe dem
Rande dieses Aufschlusses, zeigt sich aber ein ganz anderes Verhalten:
Gröbere Stücke von Gneifs und von Hornblendegestein liegen in einer
feinerdigen Grundmasse, welche den Eindruck eines völlig zersetzten und
dadurch roth gefiLrbten vulcanischen Tuffes hervorruft. Aber e« fallen in
derselben doch viele Quarzkörner auf, und diese wieder sprechen dafar,
dafe die Grundmasse mehr als zerriebenes granitisches Material, denn als
echter vidcanischer Tuff aufzufassen ist (Typus Balgheim S. 57).
s*
60 Branco:
Bemerkenswerth ist der Umstand, dafs an der Westspite des Auf-
schlusses, nahe der Landstrafse, neben diesem Granite unvennittelt Braun-
Jura-Schutt und zahlreiche gekritzte Buchberg-GeröUe liegen. Diese Ver-
einigung der granitischen Massen mit thonigen, schmierigen
Massen des Braun-Jura oder des Keupers ist für das Vorries sehr
kennzeichnend. Ganz ebenso wie wir unten im Riese auf dem Granite
liegend vielfach eine bunte Masse wesentlich von Braun-Jura und Keuper
haben', so sind auch im Vorriese mit den granitischen Massen meist Jura-
und Keuper-Schutt verknöpft. Ob dieser letztere, so wie unten im Riese,
auch hier oben auf den granitischen Massen liegt, oder ob er neben ihnen
Brvntt
Sandgrube von Stülnau.
liegt, indem er eine Auskleidung der Spalte bildet, in welcher der Granit
emporgebracht wurde, das ist bei ungenügenden Au&chlüssen schwer zu
entscheiden. Es dürft« Beides der Fall sein. Wenn Granit aufgeprefst
wurde , so mufste ja auch der über ihm liegende Pfropfen von Keuper- und
Jura-Gestein aufgeprefst werden; und wenn durch die Explosion Granit zer-
blasen wurde, so mufste auch jenes Deckgestein herausgeschleudert werden.
Abermals weiter nördlich, im Norden von Stillnan, findet sich hart
am Dorfe eine kleine Grube, in welcher ganz dasselbe aufgeschlossen ist,
was in der soeben besprochenen grofsen südlichen Grube zu sehen war.
' Die freilich dort zum einen Theile als obermiocäne Schicht zu betrachten ist und
uur lum anderen Theile die Bunte Breccie bildet, welche durch die gewaltsame Entstehung
des Bieses hervorgerufen wurde. Vei^l. danlber in Abschnitt IV.
Das vulcanische Vorries. 61
In einem granitischen Explosionsproducte das hier ziemlieh sicher nur aus
zerblasenem Granitmateriale bestehen dürfte, aber vollkommen zersetzt ist,
liegen zahlreiche Stücke verschiedener altkrystaUiner Gesteine und von
Keuper (Jura-Thon?), aber nicht von Wei£s-Jura.
Rohrbach. Wiederum nördlich, in einem Hohlwege am Dorfe Rohr-
bach , sieht man einen Aufschlui^ , der abermals ganz dieselbe Bildung er-
kennen lälfit, wie sie nördlich und südlich von StiUnau vorliegt. Inmitten
des Weife -Jura- Gebietes föhrt der Weg unvermuthet in einen Hohlweg
hinein, der eine einheitliche Granitmasse durchfährt. Auch hier setzt in
deren Mitte ein ungefähr 5" mächtiger granitischer Tuff auf.
Interessant ist die Thatsache, dafs in diesem granitischen Explosions-
producte mächtige Blöcke von vergriestem Weifs- Jura liegen. Möglich wäre
es freilich, dafs dieselben nur später von oben in diesen Aufschlug hin-
abgefallen sein könnten, so dafs sie lediglich Stücke von Gehängeschutt
darstellen würden. Möglich ist es aber auch, dafs sie im Augenblicke der
Explosion, also der granitisehen Tuffbildung, von demselben eingeschlossen
wurden, denn man findet solche Stücke ja auch im liparitischen Tuffe.
Auch hier liegt neben dem Granite eine völlig zersetzte schmierige
Masse von Braun -Jura und Keuper -Thon. Es wäre das wieder die vermuth-
liche Auskleidungsmasse der Spalte, in welcher der Granit aufgeprefst
wurde (S. 22, 23).
Schon bei dem vorigen Aufschlüsse erwähnten wir, dafs auch Buch-
berg-GeröUe mit dieser thonigen Masse zusanmien aufträten. Dasselbe
wiederholt sich hier, und man möchte daraus wieder folgern, dafs die
Buchberg- GeröUe bereits zur Zeit der Explosion, bezüglich der Aufpressung
des Granites, hier oben auf dem Weifs -Jura gelegen haben (S. 79 Absclin.
ni. B. I).
Der nächste Punkt, an welchem die Karte abermals weiter nördlich
Granit verzeichnet, bei Sperbersloh-Bergele, ist nicht aufgeschlossen.
Wohl aber zeigt sich dann noch weiter nördlich , nun bereits im Riese,
und zwar südlich von Klein -Sorheim, ein Aufschlufs, welcher ganz das-
selbe granitische Explosionsmaterial besitzt, wie wir es vorher anstehend
fanden.
Wir haben in diesen Aufschlüssen eine Anzahl derartiger Vorkommen
einheitlicher und zerblasener Granitmassen im Vorriese besprochen, welche
sich von Unter- Bissingen im S. bis gegen Klein - Sorheim im N. und schon
62
Branco:
im Riese hinziehen. Nun setzt aber das Vorries, wie wir sahen, nach 0.
hin über die Wörnitz hinweg, und neue derartige granitische Massen finden
sich dann östlich der Wörnitz bei Sulzdorf und Itzingen.
Sulzdorf. Nördlich des Dorfes Sulzdorf ist eine grolse Grube im
»Granite« eröffnet. Die Erscheinungsweise desselben erinnert im Wesent-
lichen ganz an die soeben besprochenen. Auch hier steht völlig zu Grus
zerdrückter, aber einheitlicher Granit an. Auch hier aber zeigen sich in
demselben Stellen, an denen Granitstücke eingebettet in eine rothe erdige
Grundmasse liegen. Allem Anschein nach haben wir in diesen Stellen eben-
falls das Ergebnifs der Gasexplosion vor Augen , welche diese aufgeprefsten
Granitmassen durchschlug. Auf bez. neben dem Granite findet sich dann
F%g.7.
bunte Breecu^
obertrWeila --Junv
lSandgrub€iü
Profil auf der Hohe von Sulzdorf.
in gleicher Weise an mehrfachen Punkten die oben erwähnte Bunte Breccie;
auch im Orte selbst liegt eine Masse von Braun -Jura.
Aulser dieser Grube ist der Granit jedoch noch in anderen Sandgruben
aufgeschlossen, welche alle dasselbe Bild ergeben. Überall ist er in einen
sandigen Grus zerfallen, so dafs auch nicht ein kleines Handstück sich
schlagen liefse, welches fest wäre. Einige Brunnengrabungen im Dorfe,
in der Nähe des Baches , lieferten bei 4" Tiefe einen rothen Keuperthon ;
d. h. also Bunte Breccie, welche aus der Tiefe mit heraufgeprefst wurde
und entweder oben auf dem Granite liegt , oder neben demselben als Aus-
kleidung der Aufpressungsspalte.
Itzingen. Bei dem Dorfe Itzingen befinden sich zwei getrennte gra-
nitische Vorkommen. Das eine liegt östlich vom Dorfe am Keller. Hier
zeigt sich nur granitisches Explosionsmaterial; dasselbe wird aufgeschlossen
Das mUcanische Vorries. 63
durch einen tiefen Wasserrils. Gegenüber den bisher besprochenen Vor-
kommen, bei welchen vorwiegend Granitstücke erseheinen, ist dieses aus-
gezeichnet durch grofse Blöcke von vorwaltendem Gneifs neben Granit.
Das ist sehr wichtig, denn es verräth sich dadurch, dafs nicht
eine Reibungsbreccie des Granites vorliegt, sondern eine aus
der Tiefe heraufgeförderte, durch den Granit hindurch gebla-
sene Gneifsmasse, d.h. das Ergebnifs einer Explosion (S. 48).
Die zweite Localität befindet sich westlich vom Dorfe Itzingen. Sie
ist in- einer grolsen Sandgrube aufgeschlossen. Hier läfst sich ganz vor-
züglich und durch einen grofsen Theil des Aufschlusses erkennen, dafs der
■Granit« keine einheitliche Ma.sse bildet, sondern nichts Anderes ist als
Bg.S.
Profil bei Itungen.
ein Haufwerk kleinerer Stücke von Granit, auch von Keuperthon und Stuben-
sandstein, die zum Theil in eine feinkörnige Grundmasse eingebettet sind.
Auch hier liegt also das Ergebnifs einer Explosion vor.
Fassen wir das, was uns alle diese Aufschlüsse zeigen, zusammen,
so ergiebt sich das Folgende:
Genau wie im Riese einheitliche, wenngleich völlig zer-
drückte Granitmassen sich unterscheiden lassen von graniti-
schen Explosionsproducten, so tritt uns auch im Vorriese der
Granit in beiderlei Gestalt entgegen. Hier wie dort sind die
einheitlichen Massen aufgeprefst, daher mehr oder weniger zu
Grus zerdrückt; hier wie dort sind die granitischen Explosions-
pro du cte ein durch blofse Explosion von Gasen zertrümmer-
tes altkrystallinisches Gestein, bei welchem Vorgange der lipa-
ritische Schmelzflufs noch zumeist in der Tiefe blieb.
64 B R A N c o :
3. Altersverhältnisse.
Schon in unserer früheren Arbeit haben wir gewisse Anhaltspunkte
gefunden, welche daför sprechen könnten, dafs die Eruptionen des vul-
canischen Tuffes nicht gleichzeitig mit oder auch nur sehr schnell hinter
der Breccienbildung der Weifs - Jura - Kalke erfolgt sind. Es finden sich
Stücke von bereits wieder verfertigter Weifs- Jura -Breccie als Einschlufs in
den lipari tischen Tuffen. Daraus aber folgt, dafs nicht nur die Vergrie-
sung bereits entstanden war, als der Aschenausbruch erfolgte, sondern dafs
auch diese doch ursprünglich locker gewesene Breccie sich wohl schon
wieder* verfestigt hatte, bevor sie in den Tuff gelangte.
Wenn nun die Vergriesung der Weifs - Jura - Kalke älter ist als die
Eruptionen der liparitischen Tuffe, so mufs natürlich auch die Ursache der
Vergriesung älter sein als diese. Diese Ursache aber glauben wir vorwie-
gend in der grofsen Explosion suchen zu müssen, wie wir in Abschnitt I
darlegten. Wir möchten somit diese grofse Explosion und jene Eruptionen
der liparitischen Tuffe als zwei getrennte Acte auffassen. Anders ausge-
drückt: Es scheint uns, dafs im Vorriese wie im Riese die Explosionen
der vulcanischen Aschen- und Schlackenausbrüche weder die Vergriesung
des Weifs -Jura bewirkt haben, noch das Herausschleudern der grofsen Fetzen
von Braun -Jura und Keuper, sondern dafs sie nichts Anderes gethan haben,
als die ihnen durch die vorhergegangene grofse Explosion schon früher ge-
lockerten Wege zu benutzen, sie auszuräumen und den Weifs -Jura durch
ihre hohe Temperatur local etwas zu schwärzen.
Für eine solche Auffassung spricht auch weiter der Umstand, dafs
einmal im Vorriese jene Fetzen von Keuper- und Jura-Thon im mittelmio-
cänen Meeressande eingebettet^ liegen und dafs zweitens im Vorriese wie
im Riese die vulcanischen Tuffe vieler Orte relativ wenig Bruchstücke von
Weifs -Jura wie von anderen Juraschichten enthalten; jedenfalls viel weniger,
als das im Gebiete von Urach der Fall ist. Dort ging den Asehenausbrüchen
eben keine andere Explosion vorher, welche ihnen die Wege geöffnet hätte;
daher die ungeheuren Massen jurassischer Gesteine im vulcanischen Tuffe.
^ Man mQfste denn annehmen wollen, dafs auch im Tuffe die Stücke lockeren Griese.s
ganz ebenso allmählich sich zu einer verfestigten Breccie durch Kalkinfiltration umgewandelt
hätten, wie sie das aufserhalb des Tuffes thaten.
' von Knebel fand dieselben bei Wolperstetten und an mehreren Stellen bei
Dischingen im Meeressande.
Das mlcanische Vorries. 65
Aber noch ein anderer Grund kann daför geltend gemacht werden,
dafs die gro&e £xplosion bez. der Act der Breccienbildung zu einer an-
deren Zeit erfolgte als die Explosionen der liparitischen Tuffe. Wie die
Karte (Taf. I) zeigt, finden sich Breccienbildungen der Weifs- Jura -Kalke
auch an solchen Orten, an welchen weit und breit nichts von Tuffen zu
bemerken ist. Hier ist also eine Explosion erfolgt, ohne dals das Magma
bereits genügend hoch gestiegen w&re, um mit zerschmettert zu werden.
Somit haben wir vier Gründe für die Annahme, dafs die
grofse Explosion bez. die Breccienbildung (Vergriesung) und die-
jenigen Explosionen, durch welche die liparitischen Tuffe ge-
bildet wurden, als zwei verschiedene Acte aufzufassen sind, von
denen der erstgenannte der altere ist: Einschlüsse von verfestigter
Breccie im liparitischen Tuffe; Einschlüsse ausgeworfener Keuper- und Jura-
Thone bereits im mittehnioc&nen Meeressande; die an vielen Orten sich zei-
gende Seltenheit des Auftretens von Weils- Jurastücken im liparitischen
Tuffe; Auftreten ausgedehnter Breccienbildungen auch an Orten, die fem
von liparitischen Tuffen liegen.
Wir sind aber auch geneigt, die Entstehung der granitischen
Explosionsproducte für älter als diejenige der liparitischenTuffe
und für gleichaltrig mit der grofsen Explosion und Breccien-
bildung anzusehen.
Als ältester Act würde dann die ausgedehnte Aufpressung
der Granite bez. die Bergbildung im Riese anzusehen sein, wäh-
rend es im Vorriese nur bei einem ganz beschränkten, localen
Aufpressungsversuche granitischer Massen verblieb.
An dieser Stelle ist femer ebenfalls nur kurz nochmals auf den durch
von Knebel gemachten wichtigen Fund hinzuweisen, welcher als Ein-
schlufs im • liparitischen Tuffe von Burgmagerbein einen 2" langen Fetzen
von Geröllsand mit Buchberg -Gerollen ergab. Da diese GeröUe zum Theil
durch die Hitze des Tuffes geröthet^ waren, so folgt hinsichtlich ihres
Alters daraus so viel, dafs dieser Tuffausbruch jüngeren Alters war als
die Entstehung dieser umstrittenen Geröllsande , welche eine so grofse Rolle
in der Biescontroverse spielen (s. Abschn. lU, B. i S. 78).
^ Über die Verhftitnisse, welche theils eine Schw&rzung, theils eine Röthung der
Weifs -Jura -Kalke durch hohe Temperatur bedingen, siehe Schwabens Vulcan- Embryo-
nen S. 541.
Phjf8.Abh. 1902. L 9
66 Branco:
Es dürfte mithin auch die Entstehung der Buchberg-Gerölle
älter sein als diejenige der liparitischen Tuffe. Aber nicht nur
das; sie mufs nothwendig schon mindestens der mittelmiocänen
Zeit angehören; denn von Knebel fand in Lehm eingebettete Buch-
berg-Gerölle in den mittelmiocänen marinen Sauden westlich von
Donauwörth, wie am Schlüsse dieses Abschnittes näher zu besprechen ist.
Das geologische Alter dieser Vorgänge im Vorriese, ganz speciell der
Entstehung der Breccien des Weife -Jura, wird durch die Lagerungsver-
hältnisse oben auf der Alb in ein eigenthümliches Licht gestellt.' Es kann
scheinen, als ob hier die Entstehung der Griesbreccien jüngeren Datums
wäre, als das unten im Rieskessel der Fall ist.^ In dem Kranze von Gries-
breccien, welcher das Steinheimer Becken umgiebt, ebenso bei Schlofe Taxis
auf Blatt Nattheim haben sich im Weife -Jura- Griese obermiocäne Land- imd
Süfewasserschnecken gefunden. Man konnte daher zu der Vorstellung kom-
men, dafe der Gries über allem Alb -Tertiär liege, jünger als dieses sei.
Sodann finden sich an einer ganzen Zahl von Orten, so z. B. bei
Hohen- Memmingen, vergrieste Kuppen von Weife -Jura -Kalk, zwischen
denen die Senken mit marinem Tertiär ausgefüllt sind. Der obermiocäne
Süfewasserkalk dagegen liegt am Fufee der Kuppen, d. h. nie oben auf
diesen. Das ist gerade umgekehrt wie unten im Riese, wo er oben auf
den Grieskuppen lagert, mithin ganz sicher jünger als der Gries ist. Warum,
so mufe man fragen , liegt er nun nicht auch oben auf der Alb , im Vor-
riese, auf diesen vergriesten Kuppen, sondern nur an deren Fufee?
Die Erklärung, das sei auch ujrsprünglich der Fall gewesen, durch die
Erosion aber sei der Süfewasserkalk von den Kuppen überall wieder weg-
gewaschen worden, würde so unwahrscheinlich klingen, dafe man sie
schwerlich anwenden dürfte.
Eine zweite Erklärung könnte dahin gehen, dafe der Süfewasserkalk
von Anfang an nur an den Fufe der vergriesten Kuppen angelagert worden
sei. Wie das mittelmiocäne Meer zwischen den Weife -Jura -Kuppen seichte
Arme gebildet haben dürfte, auf deren Boden sich die marinen Sande
absetzten, so könnten auch in obermiocäner Zeit auf dem nun Festland
gewordenen Gebiete zwischen den Kuppen seichte Süfswasserbecken und
^ Das vulcanische Ries. S. 105, Fig. 10 und 11.
* Vergl. Erläuterungen zu Blatt Heidenheim der wurttembei^chen geologischen
Specialkarte S. 13.
Das fyukanische Vorries. 67
Tümpel entstanden sein. Auf deren Boden, also nur am Fufse der Kuppen,
hätten sich die Süfs wasserkalke gebildet. Auch diese Erklärung klingt
gezwungen.
In beiden Fällen war die stillschweigende Voraussetzung die, dafe der
Weils-Jura-Gries anstehend sei. Wollte man davon absehen, so könnte
man als dritte Erklärung die geben, dafs diese vergriesten Kuppen gar
nicht anstehend seien, sondern nur in Form überschobener Klippen auf
dem Söls wasserkalke lägen. Dann wäre dieser Gries im Vorriese sicher
jünger als der Süüswasserkalk , verhielte sich also umgekehrt wie im Riese.
Das ist nun aber von vom herein nicht wahrscheinlich. Auch ist
es nicht recht wahrscheinlich, dafs gerade im Vorriese so viele und grofse
vergrieste Weife -Jura -Klippen überschoben sein sollten; denn im Vorriese
fehlt nicht nur die vorhergehende Bildung eines Berges, von welchem
diese Klippen bei der grofsen Explosion hätten abfahren können, sondern
es fehlt auch die Bildung eines Einsturzkessels, in dessen zertrümmertem
Boden die Schollen in der verschiedensten Weise dislocirt wurden und da-
durch zum Theil auch Überschiebungen und Abrutschungen erlitten.
Da natürliche Aufschlüsse mangeln, so ergab sich die Noth wendigkeit
des Versuches, durch künstliche Aufschlüsse festzustellen, ob, wie im Riese,
so auch im Vorriese der Weife -Jura -Gries Slter ist als der obermiocäne
Süfewasserkalk oder jünger. Hr. Dr. von Knebel hatte daher freundlichst
die Aufgabe übernommen, Schürfungen vornehmen zu lassen, durch welche
das gegenseitige Lagerungsverhältnife zwischen Weife -Jura -Gries und Süfe-
wasserkalk , wenn möglich , endgültig festgestellt würde. Leider haben die
diesjährigen Untersuchungen noch kein völlig unzweideutiges Ergebnife
geliefert insofern, als die directe Überlagerung des Einen durch das Andere
aufgedeckt worden wäre.
Immerhin ergaben sich doch die folgenden Anhaltspunkte fOr die Ent-
scheidung dieser Frage.'
Es fand sich zunächst, dafe am Michaelsberg bei Dischingen der ober-
miocäne Planorbis- und Helix-Kalk zum Theil aus Gries hervorgegangen
ist, da er, zumal in seinen unteren Lagern, zahlreiche eckige Bruchstücke
von oberem Weife -Jura umsehliefst. Das deutet ganz entschieden auf ein
höheres Alter des Grieses, falls man nicht etwa zu dem Einwände greifen
' Veif;!. von Knebel in Zeitsciirift der Deutsohen Qeolog. Ges. 1903, Heft i.
9*
68 Branco:
wollte, diese eckigen Stücke stammten nicht vom Griese, sondern seien
durch ganz normale Verwitterung vom Weife -Jura -Kalk abgesprengt. Der
Augenschein der Stücke spricht jedoch entschieden gegen eine solche
Auslegung.
Eine im Süfswasserkalk angesetzte Grabung erreichte leider nicht das
anstehende Liegende desselben, auf welches es abgesehen war, also den
Gries. Sie stiefs und endete aber immerhin auf einen grollsen Block von
Weifs-Jura-Gries. Dieser Block mufste folglich entweder in dem Süfe-
wasserkalke liegen , was von Knebel wahrscheinlicher erschien, oder bereits
der Vorbote des liegenden Grieses sein.
Eine andere Grabung, welche in der dicht neben dem Süfewasser-
kalk liegenden Bunten Breccie angesetzt war, erreichte in 2?6o Tiefe noch
nicht deren Liegendes.
Eine dritte Grabung, im Weife -Jura- Griese am Armenhause bei Di-
schingen angesetzt, durchstiefe mit 3?6o Tiefe den Gries, imd traf auf
den feinen Sand, unter welchem dann der grobe Meeressand liegt.
Alter und Herkunft dieses feinen Sandes sind durch Versteinerungen
nicht festzustellen. Sehr wahrscheinlich ist aber doch die Annahme, dafs
derselbe ebenfalls noch mariner Entstehung ist, also auch noch dem mitt-
leren Miocän angehört. Die ganz ähnlichen feinen Sande, welche westlich
von Donauwörth auf der Allee liegen, hat von Gümbel jedenfalls als
marin bezeichnet. Denkbar wäre es freilich, dafe dieser feine Sand bei
Dischingen durch eine zu jung miocäner Festlandszeit erfolgte Umarbeitimg
des marinen Sandes entstanden sein könnte; indessen das Fehlen der sonst
so häufigen, obermiocänen Schnecken in dem Sande wäre dann doch höchst
aufißlllig. Ein solches Fehlen würde sich anstandslos nur erklären lassen
in dem Falle, dafe der Sand eine Dünenbildung wäre. Indessen die deut-
liche Schichtung desselben macht eine solche Auslegung unmöglich. Man
wird daher auch den feinen Sand nocli als eine marine mittelmiocäne
Bildung ansehen müssen.
Es wäre mithin am Armenhause bei Dischingen mariner, d. h. mittel-
miocäner Sand unter dem Weife -Jura- Griese erschürft. Damit aber ist die
Alters -Beziehung des Grieses zum marinen Sande noch nicht völlig ein-
wandsfrei entschieden. Liegt nämlich der Gries thatsächlich auf dem Sande,
wie es nach der Schürfung erscheint, so haben wir nicht anstehenden Gries,
sondern eine, wenn auch wohl nur wenig dislocirte Griesklippe vor uns.
Das vulcanische Vorries. 69
die bei der grofsen Explosion auf den Sand geschoben, bez. geworfen ist.^
Die Vergriesung w8xe somit nach der mittelmiocänen Zeit erfolgt.
Aber das Loch wurde nur 6" vom Rande der Griesmasse angesetzt,
weil in weiterer Entfernung von demselben eine zu gro&e Mächtigkeit zu
durchteufen gewesen wftre. Es ist daher die andere Möglichkeit immer
noch nicht völlig ausgeschlossen, dafs der vergrieste Weifs-Jura hier ganz
normal anstehen und der marine Sand nur an denselben angelagert sein
könnte , in der Weise , dafs der Sand unter einer gesimsartigen Hervor-
ragung des Ersteren zur Ablagerung gelangt w&re. In diesem Falle wäre
es unentschieden, ob die Vergriesung dieses Felsens bereits eingetreten
war, bevor der Sand an denselben angelagert wurde, oder ob sie erst
nachher erfolgte.
Nach dem Gesagten haben die Ergebnisse der durch von Knebel
ausgeführten Grabungen zwar bisher noch nicht zu dem angestrebten Er-
gebnisse geführt, den Weils-Jura-Gries direct unter dem Suis wasserkalk
zu erschürfen. Aber das Wahrscheinlichere dürfte eine solche Lagerung
doch wohl sein, wie^ des weiteren noch aus einem von von Knebel her-
vorgehobenen Grunde hervorgeht. Der Süfswasserkalk flihrt zahlreiche
Schnecken, deren zarte Schalen völlig unverletzt erhalten sind. Wäre die
Vergriesung des Weils- Jura -Kalkes — gleichviel, ob sie durch Explosion
oder durch Gebirgsdruck erfolgte — erst nach Bildung des Sülswasser-
kalkes entstanden , so wäre letzterer in Mitleidenschaft gezogen und seine
Schalen wären zertrünmiert worden.
Spätere Grabungen werden hoffentlich zu einem völlig entscheidenden
Ergebnisse fahren.
^ Denn eine lediglich in Folge ihrer Schwere am Geh&nge etwas abgerutschte Scholle
scheint hier nicht vorzuliegen.
* Auch Ro liier ist in seinen Untersuchungen Ober das Alter der Sylvanakalke zu
dieser Ansicht gelangt, dafs der jüngere Süfswasserkalk über dem Griese liegt. Kollier
(Sur l'ftge des calcaires a Helix sylvana. Bulletin soc. g^olog. France, 4«s^rie, t. 2, T902,
p. 378. Daselbst ist auch die weitere neuere Litteratur von Miller und Koken citirt.)
hebt hervor, dafs diese »sogenannten Sylvanakalke« des Hegau, Randen etc. allerdings auf
der mittelmiocänen Meeresmolasse mit Ostrea crassissima liegen und dem Obermiocän an-
gehören ; aber er machte geltend , dafs auch noch ältere Süfswasserkalke mit Helix sylvana
existirten. Nur von jenem jüngeren Sylvanakalke soll also das Gesagte gelten. Auch Koken
läfst Helix sylvana schon vor der obermiocänen Zeit auftreten. Miller dagegen, der sehr
genaue Kenner der schwäbischen Tertiär -Fauna, verneint das entschieden.
70 Branco:
m. Gegenwärtiger Grad der Übereinstmmiung der beider-
seitigen Erklärungsversuche der Riesphänomene.
Wenige Tage nach dem Vortrage des Vorstehenden* und Fertigstellung
des Manuscriptes erschien eine neue Arbeit von Koken*, in welcher einer-
seits die Auflagerung des Braun -Jura auf den Weifs-Jura vom Buchberge,
andererseits das mannigfache Vorhandensein von Überschiebungen im Riese
anerkannt werden.
Wenn von zwei verschiedenen Standpunkten aus an der Lösung einer
Aufgabe gearbeitet wird, so ist natürlich ungünstig, wenn die beiderseitigen
Arbeiten sich kreuzen. Dieser Fall war hier bereits einmal eingetreten. Es
schien uns daher jetzt nothwendig, den Druck unserer Arbeit zurückzustellen,
um ihr diesen vorliegenden Abschnitt noch einfugen zu können, in welchem
mit Rücksichtnahme auf Koken 's neueste Arbeit der gegenwärtige Stand der
Übereinstimmung wie des Auseinandergehens der beiderseitigen Anschau-
ungen dargelegt werden soll.
Für die der Sache Fernerstehenden , welche einen Überblick über diese
Fragen erlangen wollen, dürfte dies sogar eine Nothwendigkeit sein. Un-
vermeidlich ist es freilich , dafs in einer solchen Darlegung Wiederholungen
sich nicht völlig umgehen lassen.
Wir müssen dem jedoch ein Wort der Abwehr vorausschicken. Unser
verehrter College beginnt seine neueste Arbeit mit den Worten', dafe er ȟber
die Form der neueren (d. h. unserer) Untersuchungen im Ries hinwegzusehen«
bereit sei. Die in diesen Worten liegende absprechende Kritik der Form
unserer Arbeiten sind wir gezwungen als eine gänzlich ungerechtfertigte zu-
.«
rückzuweisen. Weder die Überschätzung der eigenen Ansicht, mit welcher
gleich im Beginne der beiderseitigen Untersuchungen unsere, nun doch als
richtig erwiesene Auffassung der Lagerungsverhältnisse als »Rückschritt«
proclamirt wurde, noch die bisweilen spöttelnde und gereizte Schreibweise*
haben in unseren Arbeiten ein Echo gefunden.
^ 31. Juni 1903. Sitzungsberichte dieser Akademie 1902. S. 927.
* Geologische Studien im frankischen Ries. Zweite Folge. Neues Jahrb. f. Min., OeoL,
Paläont Beilage Bd. XV S. 422—472.
' A. a. O. S. 423.
^ Z. B. Neues Jahrb. für Min., QeoL, Paläont 1901. S. 128.
Das vukanische Vorries. 71
Sie haben uns aber selbstverständlich gezwungen, deutlich hervorzu-
lieben, dafs die von uns vertretene Auffassung der Lagerung am Buchberg,
von dem Vorhandensein von Überschiebungen und vom Alter der eine so
grofse Rolle spielenden Buchberg -Grerölle in der That die richtige ist. Wenn
unser verehrter College dem gegenüber nun wieder tadelnd bemerkt, es sei
den Fachgenossen doch gewifs gleichgültig, ob Koken oder wir recht be-
hielten , so müssen wir auch hier zur Abwehr bemerken , dafe wir nicht von
ihm und von uns , sondern stets nur von seinem oder unserem Erklärungs-
versuche, seiner oder unserer Meinung, Auffassung und Deutung gesprochen
haben, selbstverständlich aber auch weiter so zu sprechen gezwungen sein
werden , um die beiden sich gegenüberstehenden Anschauungen für den Leser
zu kennzeichnen.
Wir wollen zuerst die Punkte der Übereinstimmung, dann die des Aus-
einandergehens der Ansichten darlegen.
A. Übereinstimmendes der beiderseitigen Anschannngen.
I. Vor Beginn der Riesbildung hatte bereits eine starke Erosion in
diesem Gebiete stattgeftmden.'
Beide Theile werden zu dieser Annahme darum gedrängt, weil bei dem
gewaltigen, 25^" betragenden Durchmesser des Rieskessels, ebenso far die
glaciale wie f&r die rein vulcanische Erklärungs weise der Riesbildung, sich
die grofse Schwierigkeit ergiebt, die Beseitigung so enormer Massen von
Schichtgesteinen der Keuper- und Juraformation zu erklären. Unmöglich
..
können solche Massen durch die eine, zudem enge Öffnung des Wömitz-
Thales aus dem Kessel hinausgeschafft sein. Nimmt man dagegen an, dafs
ein centrales, gro&es Erosionsgebiet im Ries bereits vor Beginn der vul-
canischen Eruptionen ausgearbeitet gewesen sei, so brauchen beide Theile
nur die Beseitigung der peripherisch gelegenen Theile des heutigen Ries-
kessels durch ihre Hypothese zu erklären, was für jeden derselben die Er-
klärung ungemein erleichtert.
Ganz davon abgesehen aber föliren wir^ auch als sicheren Beweis für
das thatsächliche Vorhandensein eines vormiocänen, grofsen Erosionsgebietes,
wenigstens im nördlichen und nordwestlichen Theile des Rieses, die Lagerung
^ Koken, a. a. O. S. 426.
* Das vulcanische Ries. S. 43, 59, 95.
72 Brango:
der überschobenen, aus Mittlerem oder Oberem Weifs- Jura bestehenden Klip-
pen direct auf Unteren oder Oberen Braun -Jura an. Es mWs, wenn eine
solche Überschiebung auf Braun -Jura -Gelände an allen diesen Orten möglich
sein sollte, natürlich dort der Weifs -Jura bereits ganz und auch der Braun-
Jura schon zum Theil durch Erosion entfernt gewesen sein, als die Über-
schiebungen erfolgten. Dals freilich diese Erosion damals bereits tief in das
Innere des heutigen Rieskessels sich hineingefiressen hatte, und bis wie weit
sich das erstreckte, wird dadurch nicht klargestellt.
Wer eine solche bis in das Herz des Rieskessels ausgedehnte, prä-
miocäne Erosion nicht annehmen wollte, der würde noth wendig zu der An-
nahme gedrängt, das Ries sei lediglich ein ungeheures Maar. Es sei also
das ganze, heut vom Rieskessel eingenommene Riesgebiet von 25^ Durch-
messer in die Luft geflogen und zerschmettert und liege nun auf dem Boden
des Rieskessels, bedeckt und den Augen entzogen durch diluviale und tertiäre
Sedimente.
Eine solche Annahme aber trifft auf die sehr gro&e Schwierigkeit, dafs
doch die nothwendigen feinen Producte einer solchen Zerschmetterung und
Zerstäubung der Sedimentärgebilde weder im Innern des Rieses noch in
seiner Umgebung irgendwo sichtbar sind. Man findet ganz im Gegentheil
nur grofee bis riesige Schollen und Fetzen von Sedimentgesteinen.
2. Beide Theile sind ferner darin einig, dafs zuerst eine AuQ)ressung,
also Emporwölbung des betreffenden Riesgebietes zu einem Riesberge, und
dann ein Einsturz desselben erfolgt sind.
Die zahlreichen Gründe, welche für die Aufpressung sprechen, haben
wir schon in unserer ersten Arbeit erörtert' und in dieser vorliegenden
(S. 19, 49) erweitert.
3. Auch in der Art und Weise, wie beide Theile sich den Vorgang
der Hebung vorstellen, herrscht Übereinstimmung.
Nach Koken^ äufserte sich die Au^ressung so, »dafs die nur langsam
das Übergewicht gewinnende vulcanische Spannung, die sich zunächst in
Hebung und AuQ)ressung versuchte, das Material des Deckgebirges nicht
zerschmetterte und zerstäubte, sondern in gröfsere Schollen zerlegte, welche
in buntester Weise dislocirt wurden « .
^ Das vulcanische Ries. S. 45 — 60.
* A. a. O. S. 426.
Das vukanische Vorries. 73
Gan2 ebenso haben wir den Vorgang gedacht; eine Meinungsverschie-
denheit findet also lediglich darin statt, da(s wir die Aufpressung durch einen
Laccolith zu erklären suchen, während Koken »vulcanische Spannung« an
Stelle dessen setzt. Es scheint aber doch, dafs das nur ein Streiten um
Worte sei, während in der Sache selbst beide Theile ganz derselben Ansicht
sein dürften.
Für dieses von uns gewählte Wort machen wir das Folgende geltend:
Wir kennen bei vulcanischen Vorgängen nur entweder plötzliche Auf-
pressung, die durch Explosion von Gasen entsteht, oder langsame, die
durch Laccolithe entsteht.
Laccolithe sind femer die einzige Form , unter welcher die heutige Geo-
logie überhaupt dem Vulcanismus die Kraft zuzugestehen geneigt ist, das
Deckgebirge langsam emporzupressen. Dem extrusiv werdenden Schmelz-
flüsse, also den eigentlichen Vulcanen gegenüber verhält sie sich in dieser
Beziehung durchaus ablehnend, spricht ihnen eine solche Kraft durchaus ab.
Wer also eine langsame Aufpressung durch vulcanische Kräfte im Riese an-
nimmt, der sagt damit indirect, dais er einen Laccolith im Sinne habe.
Wer jedoch diese Au^ressung als Folge tektonischer Vorgänge betrachten
wollte , die gar nicht mit dem Vulcanismus in Beziehung ständen , der würde
wohl hierbei nur das zwischen Alb und Alpen abgesunkene Gebiet im Auge
haben können. Diese von W. nach 0. langgestreckte Scholle würde in der
That durch ihren Druck unter Umständen an ihrem nördlichen Rande nach
N. hin gleitende Übei*schiebungen hervorgerufen haben können (S. 36). Aber
sie würde nicht die von N. nach S. langgestreckte, schmale Au^ressungszone
der Granite im Vomese (S. 39) und das kreisälmliche Aufpressungsgebiet im
Riese erzeugt haben (S. 39).
4. Über den später erfolgten Einsturz bez. das Absinken des RieskesseLs
sind wiederum beide Theile derselben Auffassung, dafs dieser Vorgang lange
Zeit* andauerte und in seinen letzten Nach wehen sogar bis in die neuere
Zeit hinein bemerkbar war^ dafs aber in diluvialer 2^it der Kessel bereite
ungefähr ähnlich ti^f war wie heute.^
Koken hat allerdings einmal in einer seiner Arbeiten die gegentheilige
Ansicht geäufsert, dafs der Riesberg noch in diluvialer Zeit bestanden habe,
' Das vulcanische Ries. S. 114.
* Koken, a.a.O. S. 443.
* Koken, a.a.O. S. 443.
Phys.Ahh. 1902. L 10
74 Branco:
von dem aus dann die Gletscher auf die umgebende Alb h erabgeflossen wären.
Indessen in einer vorhergehenden Arbeit war er zu der entgegengesetzten
Überzeugung gelangt, dafs der Rieskessel zu diluvialer Zeit doch im Grofsen
und Ganzen bereits in seiner heutigen Tiefe bestanden habe; und auch in
einer späteren Arbeit hat er derselben Ansicht Ausdruck gegeben. Auch wir
haben ^ angeführt, dafs das Vorhandensein einer von prähistorischen Menschen
bewohnten Grotte in der Offenet fiir eine solche AufiTassung spreche.
Ob freilich Koken in seiner neuesten Arbeit* nicht doch wieder eine
andere Ansieht vertreten will, läfst sich nicht klar erkennen. Er sagt, »dafs
in nachmiocäner Zeit eine nicht unbeträchtliche Vertiefung des Riesbodens
stattgefunden hat«. Da aber nach der miocänen Zeit erst die pliocäne ver-
lief, bevor die diluviale herankam, so ist jener Ausdruck »nachmiocän«
mehrdeutig.
Wenn nun aber vom glacialen Standpunkte aus ein drei- bez. gar
viermaliger Wechsel der Ansicht über die Gestaltung des Rieses zu diluvialer
Zeit uöthig wurde — so spricht diese Thatsache doch deutlich dafür, dafs
der glaciale Standpunkt den Riesphänomenen gegenüber ein sehr unsicherer
sein mufs.
5. In gleicher Weise betrachten beide Theile* das Vorries als ein selb-
ständiges Aufbruchsgebiet, welches sich gen NO. bis über die Wörnitz hin
ausdehnt.* Die liparitischen und granitischen Explosionsproducte, dieKeuper-
imd Jura-Massen des Vorrieses sind also nach beiderseitiger Auffassung nicht
etwa vom Riese aus dorthin geschoben bez. geworfen, sondern sie sind im
Vorriese in die Höhe gefördert. Gewisse Einwürfe, welche Koken in einer
früheren Arbeit gegen uns geltend machte, beruhten auf der irrthümlichen
Annahme, wir hielten diese Vorriesmassen für vom Riese dorthin überschoben.
Das ist und war aber nicht von uns gesagt worden , jene Einwüi-fe sind somit
erledigt.
6. Auch darin herrscht Übereinstimmung, dafs Explosionen bei den
fraglichen Ereignissen eine grofse Rolle gespielt haben.
Demgegenüber erscheint es hierbei mehr nebensächlich, dafs wir an
einen gesonderten Act, eine einzige, gewaltige Explosion denken, welche
' Das vulcanische Ries. S. 115.
• A. a. O. S. 445.
* Das vulcanische Ries. S. 94.
^ Koken, a. a. O. S. 440.
Das mUoamsche Vorries. 75
mit den Explosionen der vulcanischen Tuffe nichts giemein hatte , wenn-
gleich die Gase auch hei ihr an verschiedenen Stellen herausbrachen, in
deren N&he dann die Zerstörung besonders stark war. Oder ob Koken
sich eine Anzahl einzelner, kleiner vulcanischer Centren und Ausbruchs-
gebiete vorstellt', unter welchen er die liparitischen Tufferuptionen im
Auge zu haben scheint.
Als f&r unsere Ansicht sprechend glauben wir betonen zu dürfen , dals
die relativ kleinen vulcanischen Eruptionen, welche die liparitischen Tuffe
und Schlacken lieferten, schwerUch die Ursache dieser gewaltigen Zer^
schmetterungen (Griesbildung) , Verrutschungen und der grolsen Überschie-
bungen im Riese sein konnten , sondern dals sie zurückgeführt werden müssen
auf die vereinigte Wirkung dreier Dinge: Einer ganz gewaltigen Explosion
von Gasen, einer vorhergehenden Bergbildung und einer Schichtenfolge, bei
welcher harte Kalke auf einer Unterlage von mächtigen Thonmassen (Keuper,
Lias, Braun-Jura, Unterer Weifs- Jura) lagerten. Der Umstand, dals nicht
nur Fetzen von bereits verfestigter Weife- Jura- Breccie (Gries) im vulcani-
schen Tuffe eingeschlossen^ liegen, sondern dafs auch Fetzen von Keuper^
und Jura-Thon im mittelmiocänen Meeressande' eingebettet sind, scheint
ebenfalls dafar zu sprechen, dafs diese Breccien schon vorher durch eine
grolse Explosion, nicht aber erst spftter durch die kleinen Tuffausbrüche
entstanden sind.
7. Des weiteren stimmen beide AuflFassungen jetzt wohl darin überein,
dals die Braun -Jura -Scholle des Buehberges nicht aufgeprefst ist, sondern
wirklich den Weils-Jura überlagert.
8. Ebenso findet nun Übereinstimmung statt in der Erkenntnils , dafs
wirklich Überschiebungen vorliegen; dafs dieselben eine Folge der Auf-
pressung und der Explosion waren; und dafs bei der Zertrümmerung des
Bodens des Rieskessels in einzelne Schollen diese letzteren in buntester
Weise dislociert werden mufsten.
Von »Verrutschimgen« in Folge dieser AuQ>ressung spricht somit
Koken* jetzt ganz ebenso wie wir. Ebenso von Überschiebungen: »Im
Süden des Rieses sind die Überschiebungen der aufgeprefsten Schollen eine
* A. a. O. S. 436.
* S.79.
» S.80.
^ A. a. O. S. 429.
10*
76 Brango:
oft beobachtete Erscheinung.«* Auch die Überschiebungen der Weife -Jura-
Klippen bei Dirgenheim u. s.w. werden anerkannt^ und nur gesagt, dafe
diese Klippen nicht aus dem »inneren« Riese herrühren, was übrigens
von uns nicht behauptet worden ist. Auch darin findet Übereinstinunung
statt, dafe nun gesagt wird^, »Hebxuig setzte sich in Seitenschub um,
darüber ist kein Zweifel« , »und bei Grofe-Sorheim« geht die Aufpressung
** .
in eine mit Faltung und Verwerfung verbundene Überschiebung über. «
Eine Abschwächung dieser erfreulichen Übereinstimmimg könnte in
dem Folgenden gefunden werden: »Bedeutende Horizontalverschiebungen
sind freilich, aber wohl nur scheinbar, nirgends nachweisbar«.^ »Immer
haben wir (bei den überschobenen Schollen) an einer Seite gebundene
Schichtenfolge , an der anderen in Folge einer Verkippung oder Drehung
Verwerfung.«® Koken will damit also sagen, dafe diese SchoUen nicht
weit über andere hinüber geschoben seien.
Einmal dürfte es indessen doch schwer sein, die Länge des Weges
genau festzustellen, den die verschiedenen überschobenen Schollen, die
hier gemeint sind , zurückgelegt haben , und zweitens wäre das auch neben-
sächlich ; denn eine Überschiebung bliebe natürlich eine solche , auch wenn
der Betrag derselben kein grofeer wäre.^
Wir bestreiten übrigens durchaus nicht, dafe in dem zertrümmerten
Rieskesselboden einzelne Schollen nur in Folge von Kippung oder Drehung
^ A. a. O. 8. 469.
' A. a. O. S. 436.
' A. a. 0. S. 432.
^ Vergl. auch S. 432 und 457.
* A. a. O. S. 434.
• A. a. O. S. 435.
^ Die berühmte Lausitzer Überschiebung besitzt, wie ich der liebenswürdigen Mit-
theiiung des Hrn. H. Crsdnsr verdanke, in dem Gebiete Königstein, Lilienstein, Hohnstein,
entsprechend der Mächtigkeit des Quadei's daselbst, eine Höhe von 400 — 450"*. Weiter im
Osten, bei Zittau, hat die dort recht steile Überschiebung eine Höhe von nur noch 280
bis 300°*. Nimmt man nun ein rechtwinklig gleichschenkliges Dreieck an , dessen Hypotenuse
die Uberschiebungsfläche wäre, was folglich eine Neigung der letzteren von 45® bedingt, und
rechnet man die Höhe zu ungefthr 300", so wäre die Länge, welche die Uberschiebungsmasse
zurücklegte, ungefähr rund 424™. Das ist wahrlich ein winziger Weg gegenüber den gewal-
tigen Strecken, welche die später immer zahlreicher als solche erkannten Überschiebungen
zurücklegten; und doch wird jene ältest bekannte Lausitzer Überschiebung, die bekanntlich
auf eine Erstreckung von 170 km sich vollzogen liat, natürlich stets als eine echte Über-
schiebung gelten.
Das pulcanische Vorries. 77
ein wenig aus ihrer Lage gerOckt sind. Das kann ja kaum anders sein.
Aber abgesehen von solchen findet sich eine ganze Anzahl richtiger Über-
schiebungen. Zu letzteren gehört unter anderen auch die stattliche^Reihe
von Weifs- Jura -Klippen, die auf Braun -Jura liegt und von Dirgenheim
im N. bis zur Eger im S. sich hinzieht. Unmöglich könnte man von diesen
sagen wollen, dafs sie auf einer Seite die vollständige Schichtenreihe bis
hinab zum Niveau ihrer Braun -Jura -Unterlage besitzen, auf der anderen
aber nicht; denn das ist eben nicht der Fall, es sind vielmehr ganz richtige,
überschobene Klippen.
9. Sodann zeigt sich Übereinstimmung in der Auffassung, dafs die
oben auf der Hochfläche der Alb auftretenden Breccien (Griese) der Weife-
Jura -Kalke im Allgemeinen anstehend sind.
Deffner freilich hatte die Vorstellung, da6 die oben auf der Alb auf-
tretende Weife -Jura- Breccie in Form von Schutt auf diese hinaufgeschoben,
also nicht anstehend sei. Koken^ bekämpft mit Recht diese Auffassung.
Doch irrthümlicherweise meint er weiter, dafs Deffner 's Vorstellung »vom
miocänen Juraschutt uns in neuer Gewandung bei Branco entgegentritt«.
Dem ist aber nicht so. Wir haben ganz im Gegentheil gesagt^, dafe
die Griesmassen oben auf der Alb, bis auf die überschobenen Klippen,
anstehend seien, d. h. dafe der Kalk nur an seiner Oberfläche vergriest
sei.^ Es hat uns daher auch durchaus fem gelegen, die ausgedehnten
Griesmassen, die sich oben auf der Alb »von Grözingen, Amerdingen bis
Giengen« hinziehen und auch an anderen Orten erscheinen, als überschobenen
Schutt erklären zu wollen, wie Koken das irrthümlich uns zuschreibt.*
Mit vollster Berechtigung haben wir aber von dem anstehenden ver-
griesten Weife -Jura die überschobenen Weife -Jura- Klippen unterschieden,
welche ebenfalls vergriest sind. Solche finden sich in unzweideutigster
Weise, Koken erkennt ja selbst an, dafe dieEÜppen, die sich nördlich
der Eger nahe dem Riesrande gen N. hinziehen, überschoben sind; diese
aber sind mehr oder weniger zerrüttet bis vergriest.
Folglich ist unsere Unterscheidung von anstehendem Gries und über-
schobenem Gries (letzteres sind die Klippen) völlig berechtigt, weil den
' A. 11.0. S. 457.
* Das vulcanische Ries. 8. 60 — 70.
' A. a. O. S. 65 unten.
* A. a. 0. S. 457.
78 Branco:
Thatsachen entsprechend. Aber damit haben wir keineswegs gesagt , da(s
die Vergriesung, die sich so ausgedehnt oben auf der Alb zeigt, von uns
im Allgemeinen als aus überschobenem Schutte im Sinne Deffner's be-
stehend erklärt wird. RoUier^ hat unsere Auffassung auch durchaus
richtig verstanden.
B. Punkte mangelnder übereinstimmang der beiderseitigen
Anschaunngen.
Wir kommen nun zu einer Reihe von Punkten, bei denen eine "Über-
einstimmung noch mangelt. So sehr verschieden diese Punkte aber auch
erscheinen mögen, sie zielen in letzter Linie doch alle ab auf die eine
Streitfrage: Sind die gro&en auf dem Weifs-Jura liegenden Braun -Jura-
Massen durch Eis oder durch vulcanische Kraft überschoben?
I. Bnchberg-GeröUe. Nach beiderseitiger Auflassung hat man in
den Buchberg- »Gerollen«, wie wir sagen, »Geschieben«, wie Koken sie
benennt, eine ursprünglich im Wasser gebildete Ablagerung zu sehen.
Darin herrscht völlige Übereinstimmung. Gänzliche Verschiedenheit herrscht
aber bezüglich der Herkunft, des Alters dieser GeröUe und der Ursache
ihrer Kritzung.
Was zunächst die Herkunft anbetrifft, so leitet Koken^ die Buchberg-
Gerölle aus dem Rieskessel ab. Sie sind »nicht eine externe, sondern eine
interne Bildung des Riesbeckens«; und aus diesem lä&t er sie auf die Alb
durch Eis hinaufgeschoben werden , wobei sie geglättet und gekritzt wurden.
Wir dagegen meinen zunächst einmal, dafs sie offenbar von gewissen
Weifs- Jura -Kalken Frankens herrühren. Ihre auffallende Braunf&rbung
dürfte das mit Sicherheit anzeigen, denn in Scliwaben führt der Weifs-
Jura wohl nicht solche braunen Kalke. Nun liegt allerdings das Ries an
der Grenze zwischen Schwaben und Franken, und es könnte daher diese
braune fränkische Facies sehr wohl bereits da, wo heute das Ries liegt,
ausgebildet gewesen sein.
Allein die Buchberg -GeröUe finden sich durchaus nicht nur im W. und
S. des Rieskessels auf der Alb, sondern auch im 0. desselben. Hier, im 0.
beginnt aber Franken mit diesen seinen braunen Weils- Jura-Kalken; und von
' Bulletin soc. g6ol. France 4^ s6r. T.2, 1902. S. 278.
• A. a, O. S. 461.
Das tmloanische Vorries, 79
dorther, nicht aber aus dem Riese, scheinen sie uns darum hergekommen
zu sein. Wenn dem so ist, dann erklärt es sich freilich leicht, dafs sie
auf ihrem Wege gen W. dann auch über das Gebiet des heutigen Rieskessels
ausgebreitet werden mufsten, als dieser (bis auf das bereits früher vor-
handen gewesene Erosionsgebiet, s. Abschn. VI, 3) noch nicht bestand.
Bei den späteren Explosionen in diesem Gebiete sowie bei dem Einstürze
desselben wurden sie dann natürlich auch in den Kessel hinabgesenkt.
Viel wichtiger als ihre Herkunft ist die Frage nach dem Alter ihrer
Entstehung und nach der Zeit, in welcher sie gekritzt wurden. Koken
giebt ihnen ein obermiocftnes Alter, d. h. er verlegt ihre erste Entstehung
als Gerolle in die Zeit nach der Entstehung des Rieskessels, der Über-
schiebungen , der Rieseruption und der Weüs-Jura-Breccien ; und ihre Kritzung
l&fet er in diluvialer Zeit durch das Eis geschehen.
Wir dagegen meinen, dafs es sich hier um eine Nagelfluh ähnliche Ab-
lagerung handle, welche bereits vor der Entstehung des Rieskessels u. s. w.
auf der Alb ausgebreitet war, und dafs die Kritzung der Gerolle ebenfalls
schon vor oder bei derselben erfolgte. Der Beweis, dafs letztere Ansicht
die richtige ist, wird durch einen Fund vonKnebel's geliefert. Als Ein-
schlufs im vulcanischen Tuffe von Burgmagerbein fand derselbe einen 4*°
grofsen Fetzen von Buchberg-GeröUen. Um jeden Zweifel darüber zu be-
seitigen, ob dieser Fetzen nicht etwa nachträglich von oben her auf den
Tuff gestürzt sei, wurde hier gegraben. Es zeigte sich, dafs er im Tuffe lag
und dafe die am äufseren Rande befindlichen GeröUe rothgebrannt ^aren.
Folglich liegt ein echter Einschluls vor. Die Buchberg- GeröUe müssen also
älter sein als der vulcanische Ausbruch an diesem Punkte; und da alle
diese vulcanischen Ausbrüche wohl gleichaltrig und zwar älter als die ober-
miocänen Süfswasserkalke sind, so müssen die Buchberg -GeröUe mehr oder
weniger alter sein als obermiocän.
Aber diese Buchberg- GeröUe im vulcanischen Tuffe sind auch bereits
ganz ebenso gekritzt, wie die zahlreichen übrigen gekritzten Buchberg-
GeröUe im Riesgebiete es sind. Nur bei den am äulseren Rande steckenden
rothgebrannten war die Kritzung verschwunden. Folglich sind die Buch-
berg-GeröUe nicht erst in diluvialer Zeit, und aus dem Riese heraus, auf
die Albhochfläche gelangt; und folgUch ist die Kritzung der Buch-
berg-Gerölle zweifellos nicht in diluvialer Zeit, d. h. nicht durch
Eis, erfolgt, sondern schon vor der obermiocänen Zeit.
80 Brango:
von Knebel fand dann weiter, da6 westlich von Donauwörth* Fetzen
von in Lehm eingehüllten, hier nicht gekritzten Buchberg -GerOllen auch
in den obersten Schichten des Meeressandes liegen. Die Buchberg -GerOUe
haben daher schon zu mittelmiocäner Zeit und oben auf der Alb existirt!
Wenn aber hervorgehoben wird, dafe Stücke von Braun -Jura und
Granit in dem GeröUsande zusammen mit den Buchberg- Gerollen liegen,
was beweisend sei för ihr jüngeres, obermiocanes Alter, so erklären sich
diese localen Vorkommen auf die Weise, dals jene Stücke durch die Über-
schiebungen und Explosionen in den GeröUsand hinein gelangten. Auf ganz
dieselbe Weise sind ja auch im Vorriese Fetzen von Keuper und Jura sowie
von Buchberg- Geröllmasse in den mittelmiocSnen marinen Sand gebettet
worden.
Wir haben die Krit^sung der Buchberg- GeröUe durch den Druck er-
klärt, welchen die über sie hinweg geschobenen Massen auf diese ihre Unter-
lage ausübten. Spöttelnd wirft uns demgegenüber Koken ein: »Unter der
Riesenwalze wurden sie gekritzt. Dieser Mechanismus bedürfte wohl einer
ebenso gründlichen Erörterung, wie sie dem spukhaften LaccoUthen zu
Theil geworden ist«.
Wir müssen zugeben , dafs wir allerdings diesen Vorgang nicht so ein-
gehend erörtert haben, wie das unser verehrter College hier fordert. In-
dessen haben wir das nur darum unterlassen, weil wir der Meinung waren,
es werde uns der Vorwurf imnützer Weitschweifigkeit gemacht werden , wenn
wir einen Vorgang, der sich so von selbst versteht, dafs er keiner Erläu-
terung bedarf, dennoch ausfiihrlich erörtern wollten.
Die Einwirkung einer schweren, überschobenen Masse auf das unter-
liegende Gestein ist eine so allgemein bekannte, so häufig beobachtete
Thatsache, da£s wir diese krittelnde Stellungnahme unseres verehrten Col-
legen gegenüber der Möglichkeit einer solchen auch in diesem Falle nicht
verstehen. Je nach der Natur des liegenden Gresteines werden natürlich
die Veränderungen desselben verschiedenartig sein müssen; und je nach
der Zeit, welche seit der Überschiebung vergangen ist, werden sich diese
Veränderungen eventuell durch Verfestigung noch verstärken.
Wenn doch harte Kalke durch den Druck der Überschiebungsmasse
an vielen Orten zu Dislocationsbreccien zertrünunert werden , deren Typus
1 Siehe Abschnitt II 8. 64—67.
Das vuhamsche Vorries. 81
der Lochseitenkalk ist, wenn die Stftcke dabei geglättet, gefurcht, zerpre£st
werden, warum sollte dann eine Überschiebung am Riese das nicht be-
wirken können?^
Man denke sich über die dortige , aus hartem Kalke bestehende Alb aus-
gebreitet die lose Ablagerung der Buchberg -GerOUsande, in welcher Kalk-
gerölle eingebettet liegen in einer theils thonigen , theils aus Quarzkörnem
bestehenden Sandmasse. Wenn jetzt die schwere Uberschiebungsmasse über
diese in ihren Theilen zu einander bewegliche Ablagenmg hinübergeht , so
müssen unter deren Drucke nothwendig die KalkgerOlle durch den Thon
geglftttety durch den Quarzsand gekritzt werden. Es müssen aber dieselben
beiden Erscheinungen auch an dem unterliegenden Gesteine, dem anstehen-
den Weife -Jura -Kalke sich zeigen; denn diese GerOllsand- Ablagerung wird
durch den Druck der darüber hinweggehenden »Riesenwalze« natürlich auch
vorwärts geschoben werden.
Ein Augenblick des Überschiebungs -Vorganges genügt, um diese pseudo-
glacialen Erscheinungen hervorzurufen. Es wird aber sehr leicht auch dabei zu
einer Zerpressung der Gerolle, deren Th eilstücke sich späterhin wieder ver-
kitten, kommen können, sowie zu einer beginnenden Anschleifung von Fa-
cetten: beides Merkmale , welche sich an Buchberg -GrerOlIen ebenfalls zeigen.
Man sieht, der Mechanismus, welcher unserer Ansicht nach diese Er-
scheinungen hervorrief, ist ein so leicht begreiflicher, dafe es keiner noch
weiter eingehenden Darlegung desselben bedarf, und dafs einer Spöttelei
gegenüber unserer auf ihn gegründeten Vorstellung die Berechtigung fehlt.
^ Daubree hat schon im Jahre 1857 experimentell nachgewiesen, dafs sich Schrammung
und Politur ganz ebenso wie durch Eis auch durch andere Mittel erzeugen lassen. Es wurden
Kieselsteine in einen Holzblock eingelassen und dann unter verschiedener Belastung mit ver-
schiedener Geschwindigkeit über einen Granitblock fortbewegt. Wenn die Geschwindigkeit
geringer als o"V"i in der Secunde war, bedurfte es eines Druckes von wenigstens 100^ auf
den Kieselstein, um eine Schramme auf der Granitplatte zu erzeugen. Bei einer Geschwin-
digkeit von 40"™ in der Secunde genügte dagegen bereits ein Druck von 5^, um dasselbe
Ergebnifs zu erzielen. Diese Schrammen sind anfanglich in der Regel rauh , zerrissen , aber
der entstehende feine Staub wirkt bald glättend ein. (Recherches experimentales sur le
striage des roches. Annales des mines, 6« livraison 1857. Paris 1858 p. 9, 11).
Ein Autor, dem man wahrlich mangelnde Kenntnifs der glacialen Erscheinungen nicht
nachsagen kann, A. Penck(Penck, Pseudoglaciale Erscheinungen. Das Ausland 1884, S. 641
bis 646) hat schon 1884 seine Bedenken gegen eine glaciale Deutung dieser Erscheinungen
am Riese ausgesprochen und davor gewarnt, •Schliffe auf horizontalen Felsfl&chen, sowie
gekritzte Geschiebe und regellose Lagerung für ausschlieüslich glaciale Phänomene zu halten.
PhjfS.Äbh. 1902, L II
82 Branco:
Weiteres über die Buchberg -GeröUe wird bei Besprechung der Lauch-
heimer Breccie gesagt werden. (Siehe Abschnitt IV.)
In derselben Weise erledigt sich eine weitere Meinungsverschiedenheit.
Nach Koken liegen am Lauchheimer Tunnel die Buchberg -GeröUe über der
Schlififläche. Das gilt aber doch nur von den\jenigen Theile der GeröUe,
welcher secundär in die Lauchheimer Masse hineingearbeitet wurde. Dieser
Theil Uegt natürUch mit dieser Masse über der Schlifffläche. Primär da-
gegen liegen dieselben ( Abschn. IV) unter der Schlifffläche ; denn das feste
Gonglomerat mit Buchberg -GeröUen ist ja in Folge der Überschiebung, wie
wir zeigen werden, ebenso abgeschliffen, wie der Weifs-Jura. Das spricht
also ebenfalls für ein höheres Alter der Buchberg -GeröUe.
Wir können somit drei verschiedene Beweisgründe für die
Richtigkeit unserer Auffassung erbringen, dafs die Buchberg-
Gerölle ein mindestens mittelmiocänes Alter besitzen, dafs sie
also bereits vor Entstehung der Riesbildung auf der Alb abge-
lagert Waren: Sie finden sich bereits gekritzt im mittelmiocänen
liparitischen Tuffe bei Burg Magerbein. Sie liegen im wohl-
geschichteten, also nicht etwa zu diluvialer Zeit umgearbeite-
ten, mittelmiocänen Meeressande. Sie sind durch die Über-
schiebung der Lauchheimer Masse, die über sie hinwegging, als
Ganzes, als festes Conglomerat, an dessen Oberfläche geglättet
worden.
Die von Koken aufgestellten Sätze: Diese Buchberg-GeröUe
sind obermiocänen Alters; folglich mufs »eine Dislocation\
welche diese Gerolle verarbeitete, doch wohl nachmiocän«, d. h.
nothwendig nach der Riesbildung, erfolgt sein; ihre Kritzung
erfolgte in diluvialer Zeit durch glaciale Kräfte* — diese Sätze
sind nicht mehr haltbar.
^ A. a. 0. S. 462.
^ Koken sagt von dem Gerollsande mit den Buchberg -Gerollen: «Die Gletscherb&che
des vorrückenden Eises überschQtteten den Untergrund (Weifs-Jura der Alb) mit fluvio-
glacialem Material, das später wieder in die Grundmor&ne aufgenommen wurde , so dals
man es nur in Klüften des weilsen Jura eingeprelst erhalten findet oder als dünnen Über-
zug der SchlifTKläche. Die Anreicherung der Grundmoräne mit Quarzsand in ihren tiefsten
Lagen eiinoglichte die wundervolle Schrammung der Felsen«. Gletscherspuren im Bereiche
der schwäbischen Alb. 8. 38.
Das mdcamsche Vorries. 83
Damit aber fällt die hauptsRchlichste Stütze für eine Auf-
fassung, welche in glacialen Kräften die Ursache des Trans-
portes der grofsen überschobenen Massen am Riese erblicken
wollte.
2. Beiburg. Eine weitere Differenz der Auffassungen zeigt sich darin,
dafs wir die Weifs-Jura-Masse der Beiburg, welche nahe dem Buchberge
auf Weilj9-Jura ß liegt, f&r überschoben, also för eine Klippe, erklären;
wogegen Koken das als normale Lagerung ansieht.^
An und f&r sich könnte das völlig nebensächlich erscheinen, insofern,
als das Vorhandensein noch einer weiteren Überschiebung, bez. das Fehlen
einer derselben, nichts an der von beiden Seiten ja anerkannten Thatsache
der Überschiebungen ändern würde. Falls aber Koken jetzt wirklich ge-
neigt sein sollte^, die Braun -Jura -Masse des Buchberges dennoch als durch
Eis verfrachtet anzusehen, so erlangte gerade diese Weifs- Jura -Klippe der
Beiburg eine erhöhte Bedeutung in dieser Frage. Handelt es sich nämlich
bei der Beiburg-Klippe wirklich um eine, gleichviel wie weit, geschobene
Weils- Jura-Masse, die oben auf der Alb liegt, so wird man ganz unmög-
lich diese und die dazu gehörige Braun -Jura -Masse des benachbarten Buch-
berges, welche ganz zweifellos dorthin geschoben worden ist, auf glacialen
Transport zurückf&hren können; denn dazu sind diese beiden Massen zu-
sammen viel zu grois. Bereits die Braun-Jura-Kappe des Buchberges allein
ist viel zu umfangreich, als dafs man, unseres Erachtens, ihren Transport
auf einen hypothetischen, relativ kleinen Riesgletscher zurückfahren könnte.^
Wie viel weniger aber könnte das der Fall sein, wenn nicht allein diese
Braun -Jura -Masse, sondern zugleich auch jene Weifs-Jura-Masse der Bei-
burg geschoben wären.
Es stehen hier Behauptung gegen Behauptung. Oberer Weifs -Jura
liegt auf Unterem Weifs-Jura; die Frage ist also schwer zu entscheiden.
Nach Koken ist die Schichtenfolge dieser zerrütteten, vergriesten Oberen
Weifs-Jura-Masse der Beiburg bis auf den Unteren Weifs-Jura hinab eine
* A. a. O. S. 435.
' Wir verweisen hier auf das, was wir an anderer Stelle über die Schwierigkeit
sagen werden, eine ganz klare Vorstellung über Koken 's jetzige Ansicht zu erlangen, ob
er die Buchberg- Kappe nun wirklich für durch Eis überschoben ansieht oder nicht. Vergl.
Abschnitt VI. Schlulswort.
* Das vulcanische Ries. S. 76, Fig. 4; S. 79 ff.
n*
84 B R A N G o :
lückenlose , daher liegt keine überschobene Masse vor. Nach unserer An-
sicht ist das nicht der Fall ; daher liegt eine Überschiebung vor. Andere
müssen also entscheiden. Als Unterstützung ftlr unsere Ansicht können
wir anfuhren, dafs ein auf dem Grebiete alpiner Überschiebungen so er-
fahrener Forscher wie Rottpletz auf Grund eigener Untersuchimg der Lage-
rung die Beiburg-Masse ebenfalls f&r eine überschobene Klippe erklärte.
3. Ein weiterer Unterschied der Auffassungen besteht in der Frage,
ob man bestimmte Erscheinungen im Riese als durch glaciale ErSite her-
vorgerufen anzusehen habe. Für den Standpunkt, welcher die Überschiebung
der grofeen Braun -Jura -Massen auf der Alb durch Eistransport, der aus
dem Riese heraus erfolgt sei, erklären will, ist es natürlich eine unerlSis-
liche Noth wendigkeit , die Spuren dieses Eises vor Allem und zuerst im
Rieskessel bez. in den in ihn mündenden Thftlem nachzuweisen. Für den
gegentheiligen Standpunkt, welcher die Überschiebungen als das Ergebnifs
vulcanischer ErSite ansieht, ist es dagegen nebensachlich, ob sich Spuren
glacialer Thätigkeit finden oder nicht. Denn wenn in tertiärer Zeit diese
vulcanischen Vorgänge mit ihren Überschiebungen sich vollzogen hatten,
so ist es nicht von Belang, ob in diluvialer Zeit auch noch Eis vorhanden
gewesen ist oder nicht. Im ersteren Falle wird das Eis die Oberfläche
der überschobenen Schollen etwas umgearbeitet haben; im letzteren wird
dem Wasser diese Aufgabe zugefallen sein; aber in beiden Fällen hat diese
Umarbeitung nichts mit der Entstehxmg der Überschiebung zu thun.
So sind wir der Ansicht, dafs Spuren von Eiswirkung, wenn man
sie auch wirklich nachweist, nichts gegen die von uns vertretene Auf-
fassung beweisen.
Fragliche GnindmorSne. Bei seinen Forschungen nach dem Vor-
handensein solcher Gletscherspuren im Rieskessel und in den in ihn mün-
denden Thälern glaubte nun Eoken eine Grundmoräne gefunden zu haben.
Die Ortlichkeit befindet sich im Egerthale bei der neuen Papierfabrik
am Buchberge bei Bopfingen. Dort war beim Bau derselben die Bergwand
angeschnitten worden, so dafs eine wirr struirte Masse, gekritzte Buch-
berg-GeröUe fiihrend, blofsgelegt wurde. Wir konnten in derselben jedoch
keine Grundmoräne erblicken, sondern nur einen ganz tjrpischen Gehänge-
schutt, wie er allerorten am Rande der Alb sich findet; und wie die
^ Das vulcanische Ries. S. 147 ff.
Das vukanische Vorries. 85
thonigen Massen desselben von oben herabgerutscht waren, so waren,
unserer Auffassung nach, auch die in denselben liegenden Buchberg- Ge-
rolle in bereits gekritztem Zustande von oben herabgefallen.
In seiner neuesten Arbeit kommt Koken nochmals auf diesen Punkt
zurflck und meint S wir hfttten den Aufschluiä »vielleicht nicht frisch ge-
sehen. Die oberste Lage war allerdings eine Art Gehängeschutt«, aber
die tieferen I^iagen h&tten aus Grundmoräne bestanden. Wir können dem-
gegenüber nur aussagen, dafs wir den Aufschlufs im völlig frischen Zu-
stande bis in seine tiefste Lage hinab gesehen haben, und da& weder
wir beide noch Hr. Baurath Wundt — der in Folge seiner langjährigen
amtlichen Thätigkeit beim Bau der Staatsbahnen diese Gehängeschuttmassen
der Alb aus vielfachen Aufschlüssen kennt — hier etwas Anderes zu er-
kennen vermochten als Gehängeschutt.
Ablagemng zerprefster Gerolle und Schliffe im Wömitzthale. Ein
zweiter Punkt, der strittiger Natur zu sein scheint, befindet sich in dem
Thale der Wörnita , welche den Rieskessel entwässert und aus diesem gen S.
der Donau zuflieüst. Nahe der Stelle, an welcher die Wömitz den Kessel
verlassen hat und nun die das Ries umgebende Alb durchbricht, liegt im
Wömitzthale die Stadt Harburg. Gerade gegenüber letzterer findet sich
auf dem linken Gehänge des Flusses dos untenstehende, zum Theil durch
einen grofsen Steinbruch aufgeschlossene Profil. Es sei hier gleich voraus-
geschickt, dafs sich dasselbe oben am Gehänge zeigt, wogegen sich das
später zu besprechende andere Profil unterhalb des ersteren am Gehänge
über dem Flusse zeigt.
Wenn man in den Bruch' eintritt, so sieht man zur Rechten (S.)
und gerade vor sich, sowie unter den Füfsen, eine Ablagerung, die aus
zahlreichen rundlichen, zum Theil recht grofsen Weifs- Jura -Gerollen be-
steht. Dieselben zeigen in hohem MaXse alle Spuren einer gewaltsamen
Pressung. Sie sind geglättet, geschrammt, mit Eindrücken versehen und
vielfach zerbrochen, manche derselben mehrmals.
Die nächste Ursache dieser Erscheinung liegt in einer grofsen Klippe
aus Weiss -Jura {f, welche zur Linken (N.) im Steinbruche liegt und den
» A. a. 0. S. 463.
* Leider wird der Weifs -Jura -Kalk dessielben immer mehr abgebaut, so dafs schliels-
lich derselbe ganz verschwunden sein wird und nur die OeröUe noch übrig geblieben
sein werden.
86 Branco:
Cregenstand des Abbaues bildet. Diese Masse ist ungefthr von N. nach S.
bewegt und dabei gegen die Geröllablagerung gepreist und zugleich etwas
auf dieselbe hinaufgeschoben worden, denn ihre zerütteten Gesteinslagen
überlagern im Hintergründe des Bruches noch gegenwärtig die Gerolle,
während sie vom bereits von denselben durch Abbau entfernt worden sind.
Die Weifs- Jura -Klippe hat also von der Seite und auch von oben her
gegen die GerOlle gedrückt und dadurch alle jene Fressungsersch einungen
derselben bewirkt.
Auf diese Weils- Jura- f- Klippe ist nun wieder Braun-Jura, ebenfalls
von N. her, geschoben. Man sieht also von N. nach S. untereinander
liegend: Braun-Jura, WeUs-Jura, GierOlle. Je das Ältere liegt immer auf
OavlUfObaflä^x.
Steinbruch auf dem liaken Ufer der Wörnitz, gegenOber Harburg.
dem Jüngeren; denn die GrerOUe sind wohl tertiären Alters, vielleicht gleich-
altrig den Buchberg-GeröUen.
Wenn man bedenkt, da& das hier die Alb durchbrechende Wömitz-
tbal einen Grabenbruch oder doch mindestens ein Spaltenthal bildet, so
liegt, unseres Erachtens, nichts näher, als jene starke Zerpressung der
GeröUe sowie die Schichtenstörung überhaupt als Folge der Entstehung
dieser Versenkung zu erklären; wie denn zerpreCste, mit Eindrücken und
Schrammen versehene GerÖlle gar nicht seltene Folge gebirgsbildender
Vorgänge sind. Das ist unsere gewifs ungezwungene Deutung des Profiles.
Koken äufsert sich nicht völlig klar über seine Auflassung dieser Er-
scheinung. Wir glauben jedoch aus seinen Worten entnehmen zu müssen,
dals er, wenngleich der gewaltsame Einbruch des Thaies bei ihm betont
Das viilcanische Vorries. 87
—
wird, dennoch diese Überschiebung wie die Zerpressung der Gerolle filr
Wirkung des Riesgletschers , welcher durch das Wörnitzthal abflols , zu
erklären beabsichtigt.'
Wenn dem so sein sollte, dann würden auch hier wieder AufiTassung
und Auffassung gegenüberstehen; denn ein positiver Beweis för die eine
oder andere ist bisher von keiner Seite erbracht; nur das geologische Gre-
fiihl kann also entscheiden. Wir glauben aber, dafs dieses GreÄhl viel
eher sich dahin neigen mufs, den gewaltsamen Vorgang des Einbruches,
wie er hier quer durch den Körper der Alb hindurch sich vollzogen hat,
als Ursache dieser Uberschiebungs- und zugleich Pressungserscheinungen
aufzufassen, zumal da dieselben an dem Gehänge des Einbruchsthaies sich
zeigen, als dahin, in glacialen Kräften die Ursache dieser Uberschiebungs-
und Pressungserscheinungen zu erblicken.
Ganz dieselbe Sprache spricht wohl auch der weitere, ebenfalls von
Koken^ betonte Umstand, dafs dort die geschrammten Schichtenköpfe »blen-
dend« polirt sind und dafs an den Gerollen oft »Eindrücke« und »an
Stylolithen erinnernde feine Furchen , die för Juranagelfluhe charakteristisch
sind« , auftreten. Gerade die Harnische oder Rutschflächen sind ja in so
blendender Weise polirt; gerade die Eindrücke in GeröUen und die stylo-
lithenähnlichen Drucksuturen sind als Folge von Gebirgsdruck bekannt;
gerade die Juranagelfluhe, welche Koken als Analogen citirt, hat diese
selben Erscheinungen doch nicht durch Eisdruck, sondern durch Gebirgs-
druck erlangt.
Selbst wenn in diesem Thale ganz sichere Spuren eines Gletschers
nachgewiesen werden sollten, würden wir doch meinen, dafs obige Er-
scheinungen ungezwungener dem Gebirgsdrucke als dem Eise zuzuschreiben
wären.
Nach Koken sollen diese Gletscherspuren, zum Theil gerade hart
unterhalb jenes bisher besprochenen Profiles, am Gehänge vorhanden sein
^ Allerdings wird das in Koken's Arbeit a, a. 0. S. 449 nicht direct ausgesprochen.
Aber man wird den Sinn seiner Worte kaum anders deuten können, als dafs er die Ent-
stehung dieser Erscheinungen bei Harburg in diluviale Zeit verlegen , also auf glaciale Ej*äfte
zurückfiihren will. Es geht das aus dem Satze hervor, in dem gesagt wird: »Damit scheint
aber auch das Alter der . . . SchliffHäche . . . dem Tertiär entrückt zu sein«. Jedenfalls ist
in einer früheren Arbeit Koken's bereits gesagt worden, dafs er in diesem Theile des
Wörnitzthales Gletscherspuren deutlich erkennen könne.
» A.a.O. S. 8, 21.
88 B R A N c o :
und aus Rundhöckern sowie Schliffen mit Schrammen bestehen.
In der That sieht man, nur etwa 5" über dem Flusse, an dem steilen
Gehänge aui* dem abgebrochenen Weiüs- Jura -Kalke eine kleine Terrasse
mit Schlififläche. Das Ganze ist zwar überdeckt mit überschobenem Braim-
«
Jura -Schutt; indessen findet man nach Abräumung des letzteren leicht die
Schlifffläche mit Schrammen, welche parallel dem Thale, dort N. 40 W.,
verlaufen. Sie gleicht ganz den geschrammten Schlififflächen, welche unter
den überschobenen Schollen vom Buchberg, Hertsfeldhausen und Lauch-
heim auftreten.
Bei dem Versuche, mit der Hacke Stücke dieser Schlifffläche für die
Sammlimg herauszubrechen, ereignete sich nun aber das Auffallende, dalis
die Stücke sich parallel zu dieser Fläche ebenfalls mit einer gerieften Fläche
vom Gesteine ablösten.
Diese Stücke hatten demzufolge oben und unten je eine
Schlifffläche. Allerdings war nicht zu bestreiten, dafs die obere voll-
kommener war als die untere; sie war besser geschliffen, während die
untere nur eine Ablösungsfläche war.
Aber woher kommt diese letztere? In der Natur des WeiXs -Jura-
Kalkes liegt eine solche Absonderungserscheinung parallel der Schicht-
fläche nicht. Sie ist vielmehr sicher erst später durch Druck von oben,
verbunden mit Schub von vorn nach hinten, hervorgerufen worden.
Kennt man Derartiges als Erzeugnifs des Druckes und Schubes von
Gletschern? Wir wissen es nicht, uns ist es nicht bekannt. Andererseits
aber ist es leicht zu verstehen, dafs eine solche, parallel der Schichtfläche
sich vollziehende Ablösung, d. h. eine Spiegelbildung, durch dei^enigen
Druck und Schub sich herausbilden kann, der mit der gewaltsamen Ent-
stehung eines Grabenbruches verbunden ist. Wenn dann über die obere
Fläche noch die sandig -thonigen Braun -Jura -Massen hinweg geschoben
wurden, von welchen sie bedeckt ist, so erklärt es sich ebenfalls unge-
zwungen, dafs diese obere Fläche besser abgeschliffen und geschrammt
wurde als die untere im Gestein sitzende, also nur durch Bewegung von
Kalkstein auf Kalkstein hervorgerufene.
Zudem ist es auffällig, was Koken selbst bemerkt, dafs diese Schliff-
fläche nur in so geringer Höhenlage, nur einige Meter über dem Wasser-
spiegel der Wörnitz, sieh findet» Ein Gletscher, der dieses Thal erfüllte,
würde doch auch höher hinauf seine Schliffe hervorgerufen haben.
Das vuloanische Vorries. 89
Darum erfüllen uns auch diese Schliffe mit Bedenken gegen
ihre glaciale Natur.
Es ist nicht uninteressant, dafs herrliche pseudoglaciale Po-
lituren der Schichtenkopfe dieser selben Weifs-Jura-Schichten
sich ebenda finden. Sie sind zugleich rundhöckerartig abge-
schliffen, aber nicht auf ihrer oberen, sondern auf ihrer seitlichen Fl&che;
auch liegen sie alle in gleicher Höhe , etwa 40"^ über einem schmalen Pfade,
der am steilen GehSnge entlang zieht. Das Alles erklftrt sich leicht, denn
sie sind entstanden durch das Scheuem der Schweine, deren Herden am
Geh&nge geweidet werden. Auf einem dieser RundhOcker lag zum Be-
weise noch der frische, schwarze Schlamm, den ein kurz vorher dem mo-
rastigen Uferwasser der Wömitz entstiegenes Schwein sich dort abgescheuert
hatte. Auf einer Viehweide nahe Appetshofen im Rieskessel sahen wir einen
Weils- Jura -Block, der offenbar absichtlich dorthin gebracht war, um von
den weidenden Schweinen benutzt zu werden; er war bereits Ähnlich ge-
schliffen.
Andere, wirklich glaciale RundhOcker, von denen Koken schreibt,
sind ims in dem Wömitzthale bisher nicht aufgefallen.
Steile Schliffnäche bei Wemding. Es liegt auf der Hand, daCs man
in einem Gebirgsstücke , welches derartig zertrümmert und dessen Schollen
so verschoben wurden wie das Riesgebiet, überaus vorsichtig wird sein
müssen mit einer glacialen Deutung von Schliffflächen und Schrammen.
Koken schildert* an der äufseren Mühle bei Wemding im Riese eine sehr
steil einfallende Schlifffl&che im Weifs-Jura und bemerkt selbst, dafs
sie weder durch eine Bewegung des Gletschers aus dem Rieskessel hin-
auf zur Höhe, noch durch eine solche von der Höhe hinab in den Kessel
sich erkl&ren lasse, sagt aber doch: »der Laccolith kann uns hier auch
schwerlich fördern«.
Die Deutung dieser sehr steil einfallenden Schlifffläche als
einer Spiegelbildung, hervorgerufen durch die Gebirgsbewe-
gungen, liegt jedenfalls sehr viel näher als eine glaciale. Fafst
man nun den aufwärts gedrängten Schmelzflufs als letzte Ursache dieser
Gebirgsbewegungen im Riesgebiete, erst der Hebung, dann des Einsturzes,
auf, dann wird er, also der Laccolith , uns doch wohl diese Bildung leicht
erklären können. Denn selbst wenn hier bei der Bildung dieses Harnisches
' A. a. 0. S. 454.
Phys.Abh. 1902. I. 12
90 Bbanco:
eine grofee Explosion mitgewirkt haben sollte, auch die Ursache dieser
Explosion würde doch immer der aufgestiegene heiJCse Schmelzfluls sein.
Wir kommen nun zu einem Punkte, bei dem es zwar zunächst scheinen
könnte, dafs völlige Übereinstimmung bestehe, bei dem eine solche jedoch
noch durchaus zu fehlen scheint. — Es ist das
Die Frage, ob die überschobenen Massen rom Buchber^, von
Hertsfeldhauseu und rom Lanchheimer Tunnel gleichwerthig sind oder
nicht. Unsere bejahende Ansieht wurde bisher von Koken bekämpft, der
die ersteren beiden Massen för aufgeprefst, die letztere för durch Eis trans-
portirt ansah. Jetzt aber finden sich^ die Worte: »Es ist ohne Discussion
anzuerkennen, dafs Hertsfeldhauseu mit dem Buchberg zusammen gehört,
während am Lauchheimer Tunnel einige Züge dazu kommen, welche das
Bild etwas ändern . . . «. »Demnach wäre der Lauchheimer Tunnel in die
Gruppe Buchberg — Hertsfeldhauseu zu stellen.«
Diese Sätze bilden eine volle Bestätigung unserer oben ausgesprochenen
Ansicht von der Gleichwerthigkeit der drei Massen. Trotzdem aber er-
giebt sich sofort wieder ein fiir uns unlösbarer Widerspruch.
Einmal nämlich erkennt Koken an, dafs die Buchberg -Masse nicht
aufgeprefst sei, sondern den Weifs-Jura überlagere.' Folglich müfste nach
den oben citirten Worten Gleiches doch auch von Hertsfeldhauseu gelten.
Aber ganz im Gegentheil, Koken sagt an anderer Stelle: »Hertsfeldhauseu
ist sicher aufgeprefst«.
Abermals verstärkt wird der Widerspruch dadurch, dafe Koken die
Lauchheimer Masse durch glaciale Kräfte an Ort und Stelle transportirt
werden läfet.
Die Gleichwerthigkeit der fraglichen Massen am Buchberg,
bei Hertsfeldhauseu und am Lauchheimer Tunnel wird daher
von Koken zwar an einer Stelle voll anerkannt, an der anderen
aber ebenso bestritten. Wir werden daher die Frage im folgenden
Abschnitte nochmals* eingehend darlegen und an der Hand der von uns
neuerdings vorgenommenen Aufgrabungen besprechen müssen.
* A. a. O. S. 458. 460.
' A. a. O. S. 463.
• Das vulcanische Ries, S. 135 — 147.
Das vuloanische Vorries, 91
IV. Die Lauchheimer Breccie.
Im W. des Rieses liegen oben auf dem Weife -Jura ziemlich nahe
bei einander die beiden grofsen überschobenen Braun- und Weifs- Jura-
Massen von Buchberg und von Hertsfeldhausen. Beide haben gemeinsam,
dafs sie je als eine ganze im Schichten verband gebliebene Scholle auf
den Weifs -Jura geschoben sind; dafs folglich Gesteinsstücke obermiocänen
Alters unmöglich in ihnen vorkommen können (S. 96 ff.), sondern dafs sie,
wenn überhaupt, dann nur auf ihnen aufgelagert sein könnten.
Diesen beiden Schollen gegenüber steht eine dritte, ebenfalls in der
Nähe gelegene Scholle, die sogenannte »Lauchheimer Breccie«. Als wirr
struirte Masse, die aus Stücken und Fetzen zahlreicher Gesteinsarten , dar-
unter auch tertiärer, besteht, überlagert sie ebenfalls den Weife -Jura. Sie
war es, welche, im Verein mit der unter ihr zum Vorschein gekommenen
Schlififläche des Weife -Jura, Deffner zuerst den Gedanken erweckte, dafe
hier eine Wirkung diluvialer Gletscher vorliege; dafs aber nicht nur diese
»Lauchheimer Breccie«, sondern auch alle anderen Über Schiebungsmassen
durch Eis an Ort und Stelle geschoben seien.
Auch Koken hält für die Lauchheimer Breccie den Transport durch
Eis för sicher. Wir sehen in ihr eine überschobene Masse.
So sind also beide Theile zwar darin einig, dafs die Lauchheimer
Masse auf dem Weife -Jura liege. Aber die Frage nach der Krafl, durch
welche diese abnorme Lagerung bewirkt wurde, findet noch zwei völlig
entgegengesetzte Lösungen: Eis und Vulcanismus.
Seit jener Zeit, im Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhun-
derts, zu welcher Deffner diese »Lauchheimer Breccie« gesehen hatte,
war dieselbe dem Auge wieder entzogen worden; denn nachdem man sie
damals mit einem tiefen Eisenbahneinschnitte und einem Tunnel durch-
fahren hatte, wurden die Böschungen des Einschnittes unter Bedeckung
gehalten, die mehr und mehr heranwuchs. Penck^ sah, wie es scheint,
noch gröfsere Theile des Aufschlusses, Koken konnte vor einigen Jahren
ein durch Abrutsch ung zufällig entblöfetes Stück sehen. Ein gröfeerer Ein-
^ Das Ausland 1884.
12-
92 Bhanco:
blick aber in das Innere dieser umstrittenen Masse fehlte und war doch
im höchsten Malse wünschenswerth.
Zu aufrichtigstem Danke fühlen wir uns daher der General-Direction
der Königl. württ. Staatseisenbahnen verpflichtet, welche uns die Eriaub-
nüs gab, Grabungen an den Bahnböschungen vorzunehmen. Es wurden
in solcher Weise zwei grolse Profile freigelegt, an der O.-Seite des Lauch-
Fig. 10.
Profil östlich vom Laachbrimer Tniinel. Profil Im Bnchberg- Schachte.
heimer Eisenbahntunnels und an seiner W.-Seite.' Diese Profile zeigten
nun die folgenden Verhältnisse:
Die Unterlage der Lanchheimcr Breccie. Die an der O.-Seite des
Lauchheimer Tunnels aufgedeckte Auflagerungsfl&che der fraglichen »Lauch-
heimer Breccie« auf dem Weifs-Jura ß liefs deutlich erkennen, dafs der
letztere hier keine ebene Fläche gebildet hatte. Derselbe war vielmehr
in N. 70. O.-Richtung zerklüftet, und die so entstandenen kleinen Sehollen
waren vertical ein wenig gegen einander verschoben. Profil loa und li
geben ein Bild dieser Verhältnisse.
* Wiederum hatten Hr. Baurath Wundt, dessen Verwendung wir die Erwirkung
der oben erwShnten Erlaubnifs verdanken, sowie Hr. College Sauer die Li ebens Würdigkeit,
nach Ltiuchheim zu reisen , um bei der Feststellung der Lagerongs Verhältnisse der erforderlichen-
falles schnell wieder zuzuschüttenden Au&dilQsse als unparteiische Zeugen mitzuwirken.
Das vubxmische Vorries. 93
Die in solcher Weise unebene Oberfläche des "Weifs-Jura ß erwies sich
nun ganz ebenso glatt geschliffen, wie wir das in unserem Schachte auf
dem Buchberg festgestellt hatten; nur mit dem Unterschiede, da& auf
dem Buchberg der Weils-Jura ß keine Zerklüftung erkennen liels, sondern
eine ebene Oberfläche besals.'
In den Kluftfugen, sowie in den Vertiefungen, welche durch die etwas
tiefer liegenden kleinen Schollen des zerklüfteten Weils-JuTa ß gebildet
rig.it
gegUtieie Flilclie
lertinrea Conglomenit
Aarschlnlj bn Einschnitt ftn d«r Bahnltote Ssttieh vom I^nchheimer Tunnel.
waren, also in kleinen Mulden dem Weifs-Jura ß aufgelagert, fand sich
ein sehr festes Conglomerat. Dasselbe war gebildet durch gerundete Weifs-
Jura-Gerölle, welche in einer quarzsandigen, auch thonigen Grundmasse
eingebettet lagen. Diese GeröUe bestanden aus den sogenannten ■Buchberg-
Geschieben* Koken 's und aus Oberem Weifs-Jura. Bemerkenswerth ist
der Umstand, dafe die Oberfläche dieses festen, den WeUs-Jm-a ß über-
lagernden Conglomerates sich als ganz ebenso geglättet und geschrammt
erwies, wie die Oberfläche des Weife-Jura ^ es an deiyenigen Stellen war,
' Siehe diese Sitsungsberichte 1901. S. 505.
94 Branco:
an welchen sie von dem Conglomerate nicht bedeckt wurde. Im Innern
des letzteren waren die Gerolle, offenbar in Folge des Druckes, den die
Überschiebung der darüber liegenden Masse ausgeübt hatte, vielfach zer-
borsten oder mit Spiegeln und Facetten versehen.
Während auf der O.-Seite des Lauchheimer Tunnels unter der Breccie
sich das besprochene feste Conglomerat fand, zeigte sich in den Aufgra-
bungen der W.- Seite des Timnels unter der Breccie nur eine lose Masse.
Dieselbe war gebildet durch vorherrschenden weifsen und gelben Sand,
in welchem Buchberg -GeröUe lagen. Aber letztere waren hier nicht ge-
kritzt. In der darüber liegenden Lauchheimer Breccie fanden sich da-
gegen gekritzte Buchberg- GeröUe, ganz wie das auch an der O.-Seite der
Fall war.
Diese Erscheinung erklärt sich leicht, wenn man erwägt, dafs die
Laucliheimer Breccie von 0. nach W. über eine kleine Höhe hinwegge-
schoben worden ist. An der O.-Seite der letzteren, beim Anstieg, pflügte
sie unter sich die soeben geschrammten GeröUe auf und brachte sie mit
auf die W.- Seite; hier aber war ihre Vorwärtsbewegung, wenigstens an
der betreffenden aufgegrabenen Stelle, nicht mehr stark genug, um die
Unterlage derart zu pressen und zu bewegen, dafs die GeröUe geschrammt
wurden.
Man braucht nicht anzunehmen, dafs sich das an der ganzen W.-
Seite des Tunnels nothwendig in gleicher Weise verhalten müsse. Dicht
neben dieser zufallig aufgegrabenen Stelle könne der Druck sehr wohl
stark genug gewesen sein, imi dennoch die Unterlage zu bewegen und die
GeröUe zu kritzen. Bei dem grofsen Gewichte, welches diese Lauchheimer
Breccie, ebenso auch die anderen überschobenen Massen, besitzen, mufe
erklärlicherweise in der Regel bereits eine geringe Bewegung derselben
genügt haben, um unter ihr auch die Geröll sandmassen in Bewegung zu
versetzen und so die KalkgeröUe durch den Quarzsand zu kritzen. Die
Kritzung dürfte sich vieUeicht sehr schneU, in einem Augenblicke voll-
zogen haben; so läfst sich denken, dafs der vorderste Theil der über-
schobenen Lauchheimer Masse die Kritzung bewirkte, während der hin-
tere Theil der Masse die soeben gekritzten GeröUe emporrifs und in sich
einwickelte.
Aus dem, was diese beiden grofsen, neuerdings hergestell-
ten, künstlichen Aufschlüsse am Lauchheimer Tunnel zeigen.
Das vulcanische Vorries. 95
ergeben sich nun für uns die nachstehenden Folgerungen, die
eine Ergänzung zu dem vorher (S. 78 — 82) über die Buchberg-
Gerölle Gesagten bilden.
Das unter der Lauchheimer Breccie liegende, feste Conglomerat ist
ident mit dem Geröllsande, welcher sich auch an verschiedenen anderen
Orten (Buchberg, Hertsfeldhausen) unter den überschobenen Massen findet;
es bildet lediglich einen verfestigten Geröllsand mit Buchberg-Geröllen gegen-
über jenem losen. Das von dem festen Conglomerate zu Sagende gilt da-
her auch von dem losen Geröllsande.
Das Gonglomerat bez. diese Geröllsande sind älter als die über ihnen
liegenden, durch irgend eine Kraft überschobenen Massen. Sie bildeten
also in der That ehemals eine weiter ausgedehnte Ablagerung, eine Decke
auf dem Weifs-Jura. Dafs diese Decke von Geröllsanden zu der Zeit, in
welcher sich die Überschiebungen vollzogen, bereits zum gröfseren oder
geringeren Theile durch Erosion wieder entfernt gewesen sein mag, würde
nichts an ihrem ehemaligen allgemeineren Vorhandensein ändern.
Erst durch die Überschiebungen bez. durch den Druck der überscho-
benen Massen erfolgten die Glättung und Schrammung dieses Conglome-
rates an seiner Oberfläche, sowie die Facettirung seiner Gerolle in seinem
Innern, erfolgten die Kritzung und Schrammung, sowie die Facettirung
und Zerbrechung der GeröUe in den Geröllsanden. Die KalkgeröUe, welche
in Quarzsand eingebettet lagen, wurden noth wendig gekritzt, sowie der
Druck der darüber hinweggehenden »Riesen walze« sie in Bewegung setzte —
wie das bereits früher eingehender dargelegt ist (S. 80).
Auch in der über dem Conglomerate liegenden Lauchheimer Breccie
finden sich wiederum gekritzte und geglättete Buchberg- Gerolle. In dieser
liegen sie aber unserer Ansicht nach bereits auf secundärer Lagerstätte,
d. h. ihre Kritzung und Glättung entstand nicht etwa erst in der Breccie,
wie das der Fall wäre, wenn es Geschiebe wären, wenn also die Breccie
eine Grundmoräne wäre; sondern sie entstand schon vorher an anderer
Stelle auf die im Vorhergehenden geschilderte Weise unter der überschobe-
nen Masse durch deren Druck; und dann erst wurden die so gekritzten
Gerolle von der Schuttmasse der Breccie aufgepflügt, aufgenommen und
mit der Breccie hierher geschoben.
Auf ganz dieselbe Weise wurden aber auch umgekehrt in den Geröll-
sand an anderen Orten Tlieile der überschobenen Masse hineingeprefst.
96 Brango:
So erklärt es sich, dafs am Buchberge der dort jedenfalls schon eine
Strecke weit vorwärts geschobene Geröllsand eckige Stücke von Weife-
Jura -Kalk u. s. w. enthielt.
Dafs nicht das Eis, sondern nur der Druck der Uberschiebungsmassen
hier wirksam waren, wird recht wahrscheinlich durch die Zerpressung der
Gerolle, die hier wie an verschiedenen anderen Stellen des Riesgebiete«
ebensowohl von uns beiden, wie von Koken und von Knebel beobachtet
worden sind; denn zerprefste GeröUe und Gesteine sind eine ebenso häu-
fige Erscheinung da, wo der Gebirgsdruck gewirkt hat, wie sie selten
sind in Moränen. Auch die beginnende Facettirung, welche diese GeröUe
nicht selten erkennen lassen, spricht unserer Ansicht nach gegen Eis.
Vor Allem aber geht das hervor aus dem Umstände, dafe das feste Con-
glomerat unter der Lauchheimer Breccie selbst, weil es eben fest war, an
seiner Oberfläche ebenso wie der Weifs-Jura abgeschliffen und geschrammt
ist. Es kann mithin keine zu diluvialer Zeit erst dorthin geschobene Grund-
moräne sein, sondern stellt eine alte verfestigte, aus dem Wasser abge-
setzte Schotterablagerung dar, die schon lange an dieser Stelle lag. Dafs
diese Ablagerung aber nicht etwa obermiocän war (Koken), d. h. erst
nach der Riesbildung abgesetzt wurde, sondern mittel- oder altmiocän,
das wird mit Sicherheit bewiesen durch den grofsen Einschluls eines
Fetzens dieser Schottermasse, den von Knebel mitten im vulcanischen
Tuffe von Burgmagerbein fand (S. 66); denn dieser Tuffausbruch fand zu
mittelmiocäner Zeit statt; es mufs also damals bereit« fiber ihm der Geröll-
sand mit Buchberg -Gerollen gelegen haben. Dasselbe geht auch weiter
hervor durch das Auftreten von Fetzen von Buchberggeröllsand im mittel-
miocänen marinen Sande, welche ebenfalls von Knebel fand. (S. 66).
Aus allen diesen vorhergehenden Schlüssen ergiebt sich also hinsicht-
lich der gekritzten und geglätteten, bisweilen facettirten und zerprefsten
Buchberg -Gerolle för uns weiter das Folgende:
Gleichviel, ob die Buchberg-Gerölle heute noch in dem Ge-
röllsande liegen oder ob sie bereits aus demselben herausge-
spült sind. Gleichviel ob sie heute noch unter den überscho-
benen Massen liegen, wie am Lauchheimer Tunnel, am Buch-
berg und bei Hertsfeldhausen; oder ob sie nach Abtragung
dieser Massen durch die Erosion heute schon an die freie Tages-
fläche gelangten, wie an vielen Orten dort der Fall ist; oder
Das vulcanische Vorries. 97
ob sie, von oben her an den Gehängen herabgestürzt, heute am
Fufse der letzteren in Gehängeschuttmassen gefunden wurden,
wie bei der Papierfabrik Bopfingen; oder ob sie von der über-
schobenen Masse der »Lauchheimer Breccie« an anderer Stelle
aufgepflügt und umhüllt hierher geschoben wurden: Überall
sind diese Ralkgerölle nur durch den Druck der über sie fort-
geschobenen Massen, und zwar vom Quarzsande, in dem sie
liegen, geschrammt, bez. etwas facettirt oder zerbrochen wor-
den; nirgends sind sie erst in diesen Massen, bez. im Geh&nge-
schutt, geschrammt, bez. facettirt oder zerbrochen worden;
nirgends also darf man aus ihrer Kritzung u. s. w. den Schlufs
ziehen, dafs sie Geschiebe seien; nirgends können mithin die
überschobenen oder die Gehängeschuttmassen, in denen sie
etwa gefunden werden, durch die Führung dieser gekritzten
Gerolle zu Moränen gestempelt werden. Man nenne diese Bil-
dungen daher pseudoglacial, aber nicht glacial.
Das Gestein der Lanchheimer Breceie. Über dem soeben besprochenen
Conglomerate bez. Geröllsande liegt nun die Masse, welche man als Lauch-
heimer Breceie bezeichnet hat. Dieselbe wird gebildet durch eine erdige
Masse, welche erfüllt ist einerseits von nicht abgeschliffenen, nicht ge-
schrammten , eckigen Bruchstücken bez. Thonfetzen der verschiedensten Ge-
steinsarten von geringer bis zu bedeutendster Gröfse und andererseits von
gekritzten Buchberg -Gerollen, welche letztere aus dem Conglomerat bez.
dem Greröllsande im Liegenden der Breceie stammen.
Die Buchberg -Gerolle sind von oben bis unten gleichmäfsig (aber
doch spärlich) durch die Breceie vertheilt und erreichen zum Theil recht
bedeutende Grölse. Aufser diesen relativ seltneren Buchberg-GeröUen fanden
sich grofse Massen von WeÜs-Jura, hauptsächlich den oberen Kalken des-
selben angehörig, aber auch aus den tieferen Horizonten stammend. Braun-
Jura war seltener und ebenso Lias, Keuper und Urgestein; doch war die
mächtige Gröfee der Schichtenfetzen aus diesen Horizonten bemerkenswerth.
Von besonderem Interesse erscheinen die keineswegs seltenen tertiären
Gesteine in der Breceie, von welchen am häufigsten röthlicher, pisolithischer
Kalk und sogenannter »Bohnerzkalk«, d. h. durch Kalk verhärtete Bohn-
erzthone gefunden wurde. Koken hält diesen Pisolith ffir ein obermio-
c&nes Riesgestein . und folgert daraus für die Lanchheimer Breceie einen
Fhys.Ahh, 1902, L 13
98 Brango:
Transport zu diluvialer Zeit. Er bleibt aber den paläontologischen Beweis
dafür schuldig. Wir sprechen den Pisolith für unterstes Miocän bez. Oligocän
an; denn allenthalben auf der Alb und besonders in der Ulmer (Jegend
tritt der pisolithische Kalk in derselben Ausbildungsweise im Liegenden
der unteren Süfewasserkalke auf. Für diese luisere Auffassung spricht auch
weiter der Umstand, dafs der gleichfalls in der Breccie liegende Bohnerz-
kalk dem Ober-Eocän oder Oligoc&n, der sogenannten Nagethierschichte
auf der Alb, angehört.
Von Wichtigkeit und sehr auffallend sind drei Thatsachen: einmal,
dafs weder von uns noch von Koken die von Deffner erwähnten und
hervorgehobenen obermiocänen Braunkohlen und deren Thone oder die
Cyprisschiefer gefunden wurden; obgleich natürlich von beiden Seiten
gerade auf diese ein besonderes Augenmerk gerichtet wurde.
Sodann zweitens, dafe weder in Stuttgart noch in Tübingen Beleg-
stücke dieser Gresteinsarten aus der Lauchheimer Breccie liegen; obgleich
doch bei der grofsen Wichtigkeit derselben für die Altersbestimmung der
Lauchheimer Breccie durch Deffner und Quenstedt Vertreter derselben
gesammelt sein mü&ten.
Endlich drittens, dafe unser gerade an der Stelle gemachter Schürf,
an welcher Deffner in seiner Originalaufhahme Cyprisschiefer und Braun-
kohlenthon einzeichnet, nicht diese fand, wohl aber eine grofse Scholle
dunkelen Omatenthones mit den charakteristischen zerprefsten und wieder
verkitteten Fossilien, besonders Belemniten aus der Gruppe des Belemnäes
semihastatus imd fasiformis.
Wir möchten daher doch meinen, daßs hier eine irrthümliche Beob-
achtung Deffner's vorliege, indem er sich durch die dimkle Färbung der
oberen Braun -Jura -Thone täuschen liefs; denn der Braunkohlen -Thon des
Rieses ist doch wohl nichts Anderes als umgelagerter Jura -Thon, daher
diesem sehr ähnlich.
Dagegen liegen allerdings sowohl uns wie Koken die leider sehr
schlecht erhaltenen Steinkeme einer Helix vor, welche theils aus einem
weifsen Kalkstein, theils aus grauem Kalkmergel stammen und von uns
an der W.-Seite des Tunnels in der Breccie gefunden wurden; während
die in der Tübinger Sammlung liegenden noch aus jener Zeit herrühren,
in welcher die Eisenbahn gebaut ward. Eine genaue Bestimmung ist kaumi
möglich, doch ist ihre Ähnlichkeit mit HeUx syhana oder noch mehr
Das tmloamsche Vorries. 99
mit HeUx platechyhides nicht zu bestreiten. Die Bestimmung ist aber
unsicher, denn wer wollte die subtilen Unterschiede zwischen den ver-
wandten unter* und obermiocänen Helix- Arten an schlecht erhaltenen Stein-
kemen feststellen?
Selbst wenn die fraglichen Steinkeme zu der Gruppe der Helix sylr
vana gehören, was wftre dann hinsichtlich des Alters derselben bewiesen?
Nicht das mindeste, da Formen aus der Gruppe der Helix sylvana nicht
allein auf das Obermiocän beschränkt sind, sondern bereits in den unter-
miocänen Rugulosakalken auftreten, wie Koken selbst ja zu wiederholten
Malen hervorhebt.^
Wir glauben daher auch in diesem Falle nicht, daSa man den Beweis
für das obermiocfine Alter der Lauchheimer Breccle in Händen habe, welchen
Koken in seiner vorletzten Arbeit verhiefis, indem er zugleich in scharfer
Weise Verwahrung gegen unsere abweichende Ansicht einlegte.*
Um zu einem Urtheil über die Bedeutung, Herkunft, Entstehungsweise
dieser »Lauchheimer Breccie« gelangen zu können, müssen wir dieselbe
mit gewissen anderen Gesteinsmassen, die am Ries bez. anderwärts auf-
treten, vergleichen; und zwar könnten in dieser Hinsicht in Betracht
kommen: die sogenannte »Bunte Breccie«, die überschobenen Braun -Jura-
Massen und echte Grundmoränen.
Vergleich der Lauchheimer Breccie mit der Bnnteii Breccie. Zu-
vörderst muis hier nochmals daran erinnert werden^, dass man als »Bunte
Breccie« zwei ganz verschiedene Dinge bezeichnet hat. Ein Theil dieser,
^ Centi'alblatt £. Mio., GeoL, Pal. 1900, S. 149 und 151. Ro liier vertritt in seinen
Arbeiten, so auch wiederum in einer soeben erschienenen, gleichfalls ganz entschieden die
Ansicht, dafs HeUx sylvana dem Ober- wie Untenniocän angehöre (Bulletin soc. geol. France
1902, 4™« s6r. T. 2). K. Miller (Centralblatt f. Min., GeoL, Pal. 1901, S. 129) bestreitet
das zwar für Hdix ayhana und hebt hervor, dafs diejenigen Arten, welche wirklich dem
Unter- und Ober-, bez. Mittelmiocäh gemeinsam w&ren, wesentlich solche seien, die im
Wasser gelebt hätten, wogegen die Landschnecken viel empfindlicher für klimatische Ver-
änderungen, mithin sehr niveaubestandig seien. Indessen wenn auch für die Schale der
obermioc&nen Helix sylvana gewisse Merkmale so kennzeichnend sind, dafs sie von älteren
Formen dieser Gruppe unterscheidbar ist, im vorliegenden Falle handelt es sich leider nui*
um Steinkeme. Vergl. auch Miller in Jahresh. d. Vereins t vaterl&nd. Naturkunde in
Württemberg 1900, S. 395.
' Neues Jahrb. f. Min. 1901, II. S. 128.
' Das vulcanische Ries. S. 127.
13*
100 Branco:
wesentlich aus Keuper und Jura-Thonen bestehenden Bildungen ist sedi-
mentärer Natur. Als der Rieskessel in obermiocaner Zeit — also nach
Verlauf der Riesbildung, der Überschiebungen, der Breccien- (Gries-) Bildung,
der Tuflf- und Schlacken - Eruptionen — sich mit Wasser erfüllte, da arbeitete
dieses zunächst die Gresteinsmassen um, welche sich auf dem Boden des
Kessels fanden. So entstand vielerorten als unterste Schicht dieser ober-
miocänen Sülswasserbildungen eine Ablagerung, die aus dunklen Jura- und
rothen Keuper -Thonen, dazu auch aus Stücken von Stubensandstein , von
Weifs-Jura und granitischen Gesteinen bestand.
Diese Aufarbeitung des Untergrundes, d.h. die im Obermiocän ent-
standene Abrasionsfläche des Granites und der ihm noch aufgelagerten
Keuper-Jura-SchoUen, wurde dem Namen nach von Gümbel zusammen-
geworfen mit der »Bunten Breccie«, welche als Reibungsbreccie zwischen
dem Anstehenden und den dislocirten Schollen entstanden ist. Wir
hoben den Unterschied hervor, es wurde das aber von uns vielleicht noch
nicht genügend scharf zum Ausdruck gebracht und soll deshalb, um jeden
Irrthum zu vermeiden, nochmals besonders betont werden. Die »Bunte
Breccie« Gümbel's unter den miocänen Auflagerungen im Rieskessel ist
also zum gröfseren oder geringeren Theile ein Sediment, analog z. B. den
den Arkosen zwischen dem Buntsandstein und Urgebirge im Schwarzwald.
Was wir aber unter »Bunter Breccie« verstehen, ist nur die Reibungs-
breccie, wie sie namentlich am Rande des Rieskessels (z. B. Edemheim,
Fluetschenhäuserhof) sehr häufig als ein Product der Aufackermig und
Schleppung zwischen einer überschobenen Scholle und dem anstehenden
Gebirge auftritt; und im Vorriese als ein Product der Au^ressimg. Auch
durch Auswurf (S. 15, 64) entstanden solche Massen. Diese sind allerdings
nicht mehr »Bunte Breccie«, d. h. Reibungsproduct ; aber sie lassen sich
von letzterer sehr schwer oder gar nicht unterscheiden (s. Abschn. V).
Nur mit dieser »Bunten Breccie« können wir die Lauchheimer Breccie
vergleichen; imd zwar speciell eignet sich, des relativ günstigen Auf-
schlusses wegen, hierzu besonders das Vorkommen am Fluetschenhäuserhof.*
Dort finden wir wirr dmrcheinandergeknetet dunkle Jura- und rothe Keuper-
Thone, durchsetzt von Stücken altkrystalliner Gesteine.
Dieser Bunten Breccie gleicht mithin die Lauchheimer Breceie völlig
in Structui- und zum Theil in Zusammensetzung. In letzterer Beziehung
^ Das vulcanische Ries. S. 133.
Bas vuhamische Vorries. 101
waltet nSmlich der Unterschied ob, dals Stücke tertiärer Gesteine und
Buchberg- Gerolle, wie sie in der Lauchheimer Breccie auftreten, in jener
Bunten Breccie nicht gefunden wurden.* Dieser Unterschied wird sich
dadurch erkl&ren lassen, daüs die Lauchheimer Breccie eine Mischimg von
Bunter Breccie und überschobener Scholle darstellt, welche letztere bei
dem weiten Transporte den inneren Verband und Zusammenhang völlig
verloren hat, den die überschobenen Schollen vom Buchberg und Herts-
feldhausen so vollständig bewahrt haben.
Vergleich mit anderen übersehobenen Schollen. Wir wollen nun
die Richtigkeit der Auffassung, da£s die Lauchheimer Masse ebenfalls eine
überschobene Scholle sei, durch ihren Vergleich mit jenen soeben genann-
ten überschobenen Schollen prüfen, indem wir die beiderseitigen Profile
gegenüberstellen.
Vorausgeschickt sei ein Vergleich des Profiles vom Buchberge mit dem
von Hertsf eidhausen ; von Knebel hat das Letztere durch seine Untersuchung^
festgestellt. Es zeigt sich von oben nach unten:
Hertsfeldhausen. Buchberg.
^JfJ 'c ^^ Weifs-Jura, meist \
\ überschoben schon weggewaschen > überschoben
Braun -Jura) -n t \
Braun -Jura ;
Buchberg-Geröüe gekritzt Buchberg -GerOlle gekritzt
Überschiebungsfläche auf anstehen- Übersehiebungsfläche auf anstehen-
dem Weifs-Jura. dem Weifs-Jura.
Aus den obigen Profilen ergeben sich die folgenden Schlüsse:
Beide Schollen sind darin gleich , dafs sie nicht nur aus Braun- , son-
dern auch aus Weifs-Jura bestehen und dafs sie beide mehr oder weniger
den inneren Verband bewahrt haben.
Beide Schollen liegen oben auf dem Weife -Jura, sind folglich über-
schoben, nicht aufgeprefst.
^ Auch Hefs sich, weil der Aufschlufs nicht tief genug war, die Frage nicht entscheiden,
ob die Bunte Breccie direct, oder mit Zwischenlagerung von Buchberg-Gerollsand, den Weifs-
Jura am Fluetschenh&userhof Oberlagert
' Beitrige zur Kenntnils der Überschiebungen am vulcanischen Ries. Inaug. - Dissert.
Berlin 1902. Zeitachr. d. D. Geol. Ges. 1902.
102 Brango:
Unter beiden Schollen liegt in gleicher Weise der Geröllsand mit den
gekritzten BuchberggeröUen , der folglich hier wie dort eine, bereits vor
der Überschiebung vorhanden gewesene Ablagerung darstellt.
Unter beiden Schollen, bez. Geröllsandmassen, ist die Oberfläche des
anstehenden Weifs-Jura geglättet und in derselben, ungefähr 0. — W. laufen-
den Richtung geschrammt.
Beide Schollen sind daher in derselben Richtung und offenbar doch
durch dieselbe Kraft vom Riese her auf die Alb hinaufgeschoben worden.
Diesen beiden Profilen wollen wir nun das Profil der Lauchheimer
Breccie gegenüberstellen.
Buchberg, Hertsfeldhausen. Lauchheimer Breccie.
1. Braun- und Weifs-Jura, deutlich Breccie, wirres, ungeschichtetes Ge-
geschichtet, daher ohne Buchberg- menge mit Buchberg- Gerollen und
GeröUe imd Tertiär- Gesteine im Tertiär -Gesteinen im Innern der
Innern. Masse.
2. Gekritzte Buchberg -G^rölle und Buchberg -GeröUe imd Sand, zum
Sand als loser Geröllsand; das Theil als festes Conglomerat , letzte-
Ganze vorwärts geschoben und res ist an seiner Oberfläche geglättet
dabei Stücke von Jura -Gestein in und geschrammt; kein Jura-Grestein
den Sand gepreist. in das harte Conglomerat hinein-
geprefet.
3- Anstehender Weifs-Jura mit ehe- Anstehender Weife - Jura )8 mit un-
ner Oberfläche, geglättet und ge- ebener Oberfläche, geglättet und
schrammt. geschrammt.
Wie man sieht, findet bezüglich der Lagerung hier wie dort völlige
Übereinstimmung statt, denn wir haben von oben nach unten: überge-
schobene Masse, Buehberg- Geröllsand, Weifs-Jura mit geglätteter und ge-
schrammter Oberfläche.
In Structur und Zusammensetzung der beiderseitigen überschobenen
Massen aber mangelt jegliche Übereinstimmung: dort liegt je eine aus
Braun -Jura und Weifs-Jura bestehende Scholle, welche ziemlich intact, mit
erhaltener Schichtung und Reihenfolge seiner Glieder, als ein Ganzes und
ohne dafs fremde Gesteinsstücke in die Scholle aufgenommen werden konnten,
hierher geschoben wurden.^
^ Durch spätere Erosion sind dann freilich am Buehberg die oberen Schichten des
Braun -Jura und des Wdfs-Jura fast ganz entfernt worden, so dafs wesentlich nur Braun-
Das vuloanische Vorries. 103
Hier, am Lauchheimer Tunnel, besteht die Überschiebung aus einer
chaotischen, durcheiuandergemengten Masse von Braim-Jura, Weifs-Jura,
Tertiär und tertiären, gekritzten Buchberg- Gerollen.
In Folge dieser Unterschiede in Structur und Zusammensetzung ent-
steht nun die Frage:
Ist die ganze Lauchheimer Breccie gleichwerthig nur dem Geröllsande
im Buchberg- Schachte, und zwar das lediglich darum, weil einerseits sie
gekritzte Buchberg -Gerolle fuhrt, welche sie aus dem Geröllsande von unten
her aufiiahm, und weil andererseits im Buchberg -Schachte der unterliegende
Geröllsand von oben her hineingeprelste Jura- Gesteinsstücke aufnahm und
zugleich wohl auch etwas vorwärts geschoben wurde? Wenn ja, dann
wOrde am Lauchheimer Tunnel eine dem Braun -Jura des Buchberges ent-
sprechende Scholle überhaupt ganz fehlen.
Oder ist die Breccie vom Lauchheimer Tunnel eine über die Buch-
berg-GreröUe geschobene Masse, also lediglich gleichwerthig der Braun -Jura-
Scholle des Buchberges , nur aus anderen Materialien bestehend und anders
behandelt, daher anders struirt wie diese; ist sie also lediglich über-
schobener Schutt anstatt einer dort überschobenen festen Scholle?
Oder endlich ist die Lauchheimer Breccie gleichwerthig der über-
schobenen Braun -Jura- Scholle des Buchberges plus dem ein wenig vor-
wärt.s geschobenen Geröllsande im Schachte?
Die Bejahimg der Frage im letzteren Sinne würde vielleicht am ge-
nauesten das Richtige treffen, da die Lauchheimer Breccie offenbar Theile
des Geröllsandes in sich aufgenommen hat ; diese sind mithin ebenso dislo-
cirt, wie der Geröllsand unter der Buchberg -Kappe etwas vorwärts ge-
schoben, also dislocirt ist. Aber eine Entscheidung entweder zu Gunsten
der zweiten oder zu der der dritten Frage liefe auf Spitzfindigkeiten hin-
aus. Es genügt, die erste Frage jedenfalls zu verneinen und die
Lauchheimer Breccie für eine überschobene Masse, also als
gleichwerthig mit jenen vom Buchberg und Hertsfeldhausen
hinzustellen, nur anders behandelt, daher anders struirt als
diese, aber doch durch dieselbe Kraft überschoben.
Jura a und ß übng blieben. Jedoch gehört die überschobene Weifs- Jura -Scholle der Bei-
biirg ja ebenfalls mit tax dieser Buchberg- Masse, wenn sie auch räumlich von derselben
etwas getrennt liegt.
104 Brango:
Welche Kraft? Chaotische Structur ist freilich den Moränen eigen.
Aber sie kommt doch nicht allein diesen zu, sondern auch mancherlei
anderen Bildungen. Jeder Bergsturz, sei er nur durch die Schwere ver-
ursacht, oder habe er seinen ersten Anstofs durch eine Explosion erhalten,
jede durch Regengüsse erzeugte Mure, jede durch Lawinen plötzlich zu
Thal gebrachte Schuttmasse, jede ganz allmählich angesammelte Gehäuge-
schuttbildung, jedes unter einer übersehobenen Gebirgsmasse zerdrückte und
gequälte Gestein besitzen mehr oder weniger eine ebensolohe wirre Structur.
Wirre Structur ist also so wenig ein ausschlielsliches Merkmal einer
Moräne, dais ihr Vorhandensein in der Lauchheimer Breccie keineswegs als
ein irgeiidwie sicherer Beweis fiir deren Moränen -Natur betrachtet wer-
den kann.
Das Auftreten gekritzter GerGUe in einer wirr durcheinandergemengten
Masse ist aber ebenfalls für die Moränen -Natur der Masse durchaus nicht
anstandslos beweisend, weil solche GeröUe sehr wohl im bereits gekritzten
Zustande von der Masse aufgenommen worden sein können.
Dazu gesellt sich ein weiterer Grund, welcher das Zeugnifs, das diese
gekritzten GeröUe etwa doch für einen glacialen Ursprung geben könnten,
noch mehr verdächtigt. Es ist das die Thatsache , dafs neben jenen gekritzten
KalkgeröUen auch zahlreiche andere Kalksteine in dieser Lauchheimer Breccie
sich fanden, welche durchaus eckig und nicht gekritzt waren. Falls nun
wirklich die Buchberg- GeröUe erst in der Lauchheimer Breccie, als einer
Grundmoräne , gekritzt und abgerundet worden wären , dann hätte doch jene
zahlreichen anderen ICalkstücke in derselben wenigstens mehr oder weniger
ein gleiches Loos getroffen haben müssen. Das war aber nicht der FaU ; und
das erklärt sich sehr einfach dadurch, dals die Buchberg-GrerOUe ihre Rundung
und Eritzung eben nicht erst in der Breccie erhielten.
Noch ein anderer, wie uns scheint sehr gewichtiger Grund spricht dafür,
dafs die Lauchheimer Breccie keine Untergrundmoräne sein kann. Er Uegt
in den ganz eigenthümlichen Structurverhältnissen derselben, welche trotz
des Chaotischen dennoch von demjenigen weit abweichen, was fftr Unter-
grundmoränen die Regel ist. Wir fuhren im Folgenden die darauf bezügUchen
Worte des Hm. CoUegen Sauer an, mit welchen er* seine bei den Auf-
grabungen am Lauchheimer Tunnel gemachten Beobachtungen aufzeichnete
und uns freundUchst zur Verfugung stellte.
^ S. 92 Anm.
Das tmlcanische Vorries. 105
Die angebliche Moräne, sagt Sauer, welche als Lauchheimer Breccie
bezeichnet wird, »fuhrt reichlich gekritzte Geschiebe, ist genau so sandig-
thonig wie ein gewöhnlicher Greschiebelehm, eher vielleicht noch etwas tho-
niger und gleicht einem solchen auch in seiner schmutzig bräunlich -grauen
Farbe. Die zu dieser chaotisch struirten Masse verwirthschafteten Bildungen
scheinen Bunte Keuper- Mergel, verschiedene Jura-Thone, die Jura-Nagel-
fluh, die wohl vorwiegend die gro&en WeÜs-Jura-Grerölle geliefert hat und
Sande gewesen zu sein, die als Facies dieser Nagelfluh auftreten. Bei der
Untersuchung fiel mir gleich Anfangs etwas in der Structur fiir eine Grund-
morSne Fremdartiges auf«.
»Das Abweichende beruht in einer besonderen Art der Einbettung des
gesammten gröberen Antheiles der Masse bis zu den Sandkörnern herab. Bei
einer echten Grundmoräne, wenigstens soweit mir dieselbe aus meiner lang-
jährigen Beschäftigung mit dem nordischen Diluvium bei Halle und in Sachsen
bekannt geworden ist, zeigt sich gröbstes, grobes, sandiges und thoniges
Material zu einer fast betonartig festen Masse verbunden. Demgegenüber
läfst nun die moränenartige Masse am Lauchheimer Tunnel eine gewisse,
recht feste Packung zwar auch nicht vermissen. Aber es fehlt für die Ge-
schiebe, ja man kann sagen, für das gesammte Geschiebematerial bis zu den
Sandkömchen herab , jene innige Verkleisterung mit dem thonigen Cement,
wie wir das als charakteristisch fbr die Structur der echten glacialen Grund-
moränen erkennen. Dieses Fehlen des festen Verbandes äufsert sich hier
darin, dals GeröUe, GeröUchen und Sandkömchen sich meist ziemlich leicht
aus der thonigen Matrix herauslösen lassen, wobei man erkennt, dafs sie
einen glänzenden Abdruck hinterlassen , gewissermafsen von einem Spiegel
umgeben sind.«
»Besonders bei gröfseren Geschieben wird das bisweilen recht auffällig.
»Hohlspiegelstructur« scheint mir daför ein geeigneter Ausdruck zu sein.«
»Hat man sich erst einmal mit dieser eigenartigen Erscheinung vertraut
gemacht und den Blick dafilr geschärft, dann gelingt es, dieselbe auch noch
in mikroskopischen Dimensionen beim Mustern der Stücke mit der Lupe zu
erkennen, und man findet, dafs fast jedes Sandkömchen sich, einen spie-
gelnden Eindruck hinterlassend, herauslöst.«
»Auch bei Schmähingen habe ich Ähnliches gefunden.«
»Etwas Ähnliches ist mir bei der Structur einer echten glacialen Grund-
moräne bisher noch nicht aufgefallen oder bekannt geworden, ja es kann
Phys.Abh. 1902, I. 14
'
106 Branco:
und darf meines Eraehtens bei dieser der Regel nach nicht auftreten; und
zwar, wie ich meine, aus folgenden Gmnden. Die glänzende Beschaffenheit
des Abdruckes aller festen widerstandsfähigen GerÖlle und GeröUchen in der
moränenartigen Masse am Lauchheimer Tunnel ist hervorgebracht zu denken
durch einen starken Druck, der in einer vorherrschenden zähplastischen,
vielleicht fast trockenen, vielleicht nur bergfeuchten Thonmasse grobes und
feines , hartes Material verknetete. Wie man mit einem harten Gegenstande
durch Druck auf einer rauhen Thonmasse, sofern diese trocken oder nur
mäCsig feucht ist, einen Spiegel erzeugen kann, so ist auch anzunehmen,
dafs bei Verknetung von Thonsubstanz ähnlicher Beschaffenheit mit festen
Gesteinsbrocken unter groljsem Druck um diese herum um so eher ein glatter
Abdruck entstehen mufs, als die speckige Beschaffenheit der Thonmasse
selbst eine gewisse Glättung dieser Brocken an ihrer Oberfläche bewirkt.
Um derartige Wirkungen hervorzubringen > darf aber die Thonmasse nicht
stark wasserhaltig, nicht schmierig oder gar breiig sein.«
»Dem gegenüber dürfte es wohl zunächst keinem Zweifel unterliegen,
dafs eine jede echte glaciale Grundmoräne bei ihrer Bildung sich im Zustande
reichlichster Durchtränkimg mit Wasser befunden haben mufs. Man wird
daher im Allgemeinen nicht erwarten dürfen, ähnliche Druckwirkungen, wie
die kurz geschilderten, bei einer solchen anzutreffen. Meines Wissens sind
sie bisher auch noch nicht beschrieben worden.«
»Solche glatte Ablösungsflächen sind nun aber, wie gesagt, die Regel
fEkr die Geschiebe jeder Gröfse bis hinab zu den kleinsten Sandkömchen in
der moränenartigen Bildung am Lauchheimer Tunnel. Ihr Vorkommen be-
weist daher, dafs die gesammte Gesteins- und Thonmasse mehr oder weniger
trocken verarbeitet wurde und daher bei aller sonstigen Ähnlichkeit mit
einer glacialen Grundmoräne genetisch scharf von dieser zu trennen ist.«
» Zuletzt mag noch kurz darauf hingewiesen werden — ich deutete das
schon an — , dafs bei dieser trockenen oder nur schwach feuchten Verknetung
alle harten Gesteinsbröckchen, trotz vielfach ganz irregulär, eckig-splitteriger
Begrenzung eine fett- bis firnisglänzende Oberfläche erhalten haben , die auch
dem Geschiebematerial der echten glacialen Grundmoräne fehlt. Dagegen tritt
sie bemerkenswertherweise wiederum auf, nach Noetling's Beschreibung,
an den Geschieben der indischen paläozoischen moränenartigen Bildungen.«
»Ich bezweifle es keinen Augenblick, dafs auch in einer echten Grund-
moräne derartige Erscheinungen sich zeigen können, ja unter besonderen
Das mUoanische Vorries. 107
Umständen sich zeigen müssen, und halte die Bedingungen dazu ftir gegeben,
wenn die Grundmoräne local thonige Massen , z. B. Septarienthon , Keuper-
mergel u. s. w. aus dem Untergrunde aufnimmt und denselben nur unvoll*
kommen verarbeitet. Werden dann etwa noch Gerolle zwischen die von der
Grundmoräne nicht assimilirten Thonfetzen geknetet, dann könnte ich mir
vorstellen, dafis Spiegel um jene entstehen«.
»Eine derartige Facies der Grundmoräne wird aber doch immer nur ganz
local sein können und sich nur auf die eingeschlossenen trockenen bis halb-
trockenen Thonfetzen erstrecken; während, wie schon bemerkt, eine Bildung
von Spiegeln vun die Gerolle in der normalen , also gleichmäfsig mit Wasser
durchtränkten Hauptmasse der Grundmoräne för nicht wahrscheinlich zu
halten ist, weil sie mit ihrer Entstehung im Widerspruche steht.«
Wir glauben, dafs man gegen diese Darlegung des Hm. Collegen Sauer
sich nicht wird verschliefsen können.
Doch noch ein Grund läfst sich gegen einen Eistransport dieser Massen
anf&hren: Koken \s eigene, wiederholt in immer festerer Weise ausge-
sprochene, bisherige Überzeugung, dafs es ein grofser Fehler wäre, die
Schollen vom Buchberg und Hertsfeldhausen als durch Eis verfrachtet an-
sehen zu wollen. Seine unten citirten Worte lassen das erkennen.* Ob
er diese Ansicht nun gänzlich oder nur zum Theil aufgegeben hat, darüber
vennögen wir uns aus seinen Äufserungen leider kein klares Bild zu
machen.
' »Der Gletscher fand die aus Bi*auneiii Jura und Impressa-Thon bestehende Kappe
auf dein Buchberg schon vor«. (Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie u. s. w. Jahrg. 1899.
XII. Beilageband. S. 479 und 483.)
•Genaue Begehungen des Terrains im Jalire 1900 haben im vollen Umfange zunäcliat
die Unabhängigkeit des glacialen Phänomens von den Lagerungsverhältnissen erwiesen . . . «
• Die vollste Unabhängigkeit (des glacialen Phänomens) von den tektonischen Verschiebungen
springt in die Augen«. (Zeitschrift d. Deutschen Geolog. Ges. 1900. S. 65.)
•Die Existenz dieses senkrecht aufsteigenden (vulcanischen) Schlotes, der haarscharf
an den dislocirten Braunen Jura- und Keuperschichten (der Nordlinger Wasserleitung) ab-
stofst, ist beweisend für das (höhere) Alter der Dislocationen gegenüber dem jugendlichen
Alter des Moribenschuttes am Buchberg«. (A.a.O. 8.66.)
• Von jeher ist von mir behauptet worden, dafs das glaciale Phänomen mit der ab-
Dormen Lage des Braunen Jura auf der Uohe des Buchs (über Weifsem Jura) nichts zu
schaffen habe, und dafs man den tektonischen Vorgang, welcher den Braunen Jura dislocirte,
und den glacialen, welcher den dislocirten Braunen Jura randlich und oberflächlich verar-
beitete, sorgfältig zu trennen habe«. (Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie, Paläontologie.
Beilageband XIV. S. 161 und 163.)
14*
108 Branco:
Znsammenfassiing der für die Beurtheilnng der Lauehheimer Breccie
geftindenen Anhaltspunkte. Die chaotische Structur derselben giebt, da sie
keineswegs ein ausschliefslich den Grundmoränen zukommendes Merkmal ist,
keinen sicheren Anhalt für ihre glaciale Entstehung.
Die gekritzten Buchberg -Gerolle, welche in der Lauehheimer Breccie
liegen, sind, wie schon früher dargelegt, nicht erst in derselben gekritzt
worden, sondern in schon geschrammtem Zustande von ihr aufgenommen.
Sie wurden geschrammt durch den Druck einer über sie hingeschobenen
Masse. Ihr Vorkommen in der Lauehheimer Breccie giebt mithin ebenfalls i
keinen Beweis für deren glaciale Herkimft.
Die anderen in der Lauehheimer Breccie liegenden Gesteinsstücke sind
eckig und ungekritzt, was sogar gegen eine glaciale Bildung der Breccie spricht.
Die Hohlspiegelstructur der letzteren ist ein Kennzeichen, welches auf
trockene , somit in sehr viel höherem Mafse auf nicht glaciale Entstehungs-
weise der Breccie hindeutet als auf glaciale.
Das Profil am Lauehheimer Tunnel stimmt so sehr mit dem Profile am
Buchberg und bei Hertsfeldhausen überein, dals man noth wendig gleiche
Bildungsweise für diese drei Massen annehmen mufs. Unmöglich kann man
letztere beide als durch Eis verfirachtet ansehen. Folglich auch nicht erstere.
Der Unterschied zwischen den beiderseitigen Massen ist wesentlich
ein structureller, hervorgerufen dadurch, dafe nach dem Buchberg und
nach Hertsfeldhausen zusammenh&agende GebirgsschoUen, nach Lauchheim
aber eine Schuttmasse geschoben wurden.
Das Vorhandensein obermiocaner Gesteinsstücke in der Lauehheimer
Breccie ist bisher durch keinerlei handgreifliche Belegstücke erwiesen.
Selbst wenn es aber erwiesen wäre, so würde auch dann noch keines-
wegs ein Transport der Breccie zu diluvialer Zeit und noch viel weniger
ein solcher durch Eis damit bewiesen sein. Einmal folgt auf das Ober-
miocän zunächst das Pliocän, in welchem dann die Entstehung der Laueh-
heimer Breccie erfolgt sein könnte. Ferner sind obermiocäne Ablagerungen
bez. Gesteinsstücke doch nicht auf das Ries beschränkt, sondern haben
auch auf der Alb sich gebildet; sie könnten also — falls Stücke derselben
in der Lauehheimer Breccie lägen — sehr wohl von der Alb herstammen.
Man sieht, dafs selbst bei einem Vorhandensein obermiocaner Gesteins-
stücke in der Lauehheimer Breccie ein glacialer Transport derselben aus
dem Riese heraus nicht im mindesten erwiesen sein würde.
Das viUcanische Vorries. 109
V. Die grofsen Massen Bunter Breeeie nördlich von Donauwörth
auf der Alb.
Im S. des Rieses, östlich des Wömitzthales und von Ebennergen,
auf der waldigen Albhöhe, werden gegenwärtig Probeschächte för die
neue Eisenbahnlinie Donauwörth -Treuchtlingen gemacht; diese erschliefsen
bis zu ihren verschiedenen Tiefen von 5* bez. 10", ja 17" überall das-
selbe Bild eines wirr durcheinandergequälten, weichen, schmierigen Ge-
steines, in dem sich Eeuperthon, Braun- Jura -Thon und seltene Weifs-Jura-
Stücke erkennen lassen. Letztere sind nie an Ecken und Kanten gerundet,
nie geglättet oder gekritzt, abgesehen von vielleicht sich noch findenden
Buchberg -Gerollen. Auch ein WasserrÜs, der in das Wömitzthal hinab-
zieht, zeigt einen schönen Aufschluls in dieser selben Masse und läfst grolse
Fetzen Braun -Jura, vielleicht auch von Lias 8 (schwarze harte Ealkknauem
und Schwefelkies) erkennen. Von Tertiär-Gesteinen aber fitnd sich keine Spur.
Diese Masse gleicht der Lauchheimer Breccie bez. der Bunten
Breccie dem Wesen nach vollständig, wenn auch die Zusammen-
setzung der Lauchheimer Masse eine complicirtere ist. Sie be-
deckt offenbar das dortige Albplateau überall und in grofser
Mächtigkeit.
Leider war bisher nirgends das Liegende dieser Masse aufgeschlossen,
so dals es also vor der Hand unentschieden bleiben mufs, ob unter der-
selben, wie bei Lauchheim , Buchberg-Geröllsand und geglätteter geschramm-
ter Weifs-Jura liegen. Wir hoffen, diese Frage durch weiteres Schürfen
bald entscheiden zu können.
Durch Eis, als Grundmoräne kann diese Masse nicht fortgeschoben sein;
denn dann würden die Kalkstücke in derselben sicher an Ecken und Kanten
gerundet und geschliffen sein, und das ist nicht der Fall.
Aus dem Riese bez. Vorriese stammt sie wohl sicher; daför spricht
ihre derjenigen der Bunten Breccie ähnliche Zusammensetzimg.
Sie scheint auch bereits vor der Obermiocänzeit hierher geschoben zu
sein; sonst würde sie obermiocäne Gesteine fähren, die wir, bis jetzt we-
nigstens, vergeblich in ihr suchten. Auch das Vorkommen von Fetzen
110 Branoo:
diCvser selben Masse, d. h. von Keuper- und Jura-Thon, im mittelmiocänen
oberen Meeressande, westlich von Donauwörth (S. 15, 64), spricht ebenfalls
dafär, dafs sie bereits in mittelmiocftner Zeit an die Alb -Oberfläche be-
fördert worden ist.
Auf welche Weise? Während die letztgenannten Fetzen bei der Ex-
plosion sehr wohl ausgeschleudert sein können, ist das bei dieser ausge-
dehnten sehr mächtigen Masse schwer anzunehmen.
Liegt hier eine grofse Uberschiebungsmasse vor, die mit Hülfe der
Explosion vom Riesberge nach SO. abgeglitten wäre, so würde sich för
dieselbe eine Entfernung von 6^ vom Riesrande ab ergeben; also eine
gleiche Wegstrecke, wie sie die am weitesten vorgeschossenen, im W. des
Rieses gelegenen Uberschiebungsmassen zurückgelegt haben.
Es ist aber hierbei auch zu erwägen, ob diese offenbar weiter ver-
breitete thonige Masse sich überhaupt noch auf der secundären Lagerstätte
befindet, auf die hin sie abgefahren war; ob sie nicht vielmehr schon auf
tertiärer Lagerstätte liegt, insofern, als sie durch die Atmosphärilien weiter
und weiter verbreitet und zugleich eingeebnet worden ist. Sobald man
diese Möglichkeit in's Auge fafst, verliert aber auch die erstgenannte Alter-
native mehr an Un Wahrscheinlichkeit; denn von einer solchen späteren Ver-
breitung durch Atmosphärilien könnten natürlich auch sehr wohl die bei
der Explosion ausgeschleuderten Massen betroffen worden sein.
Für eine solche spätere Ausbreitung, also f&r eine Überführung auf
tertiäre Lagerstätte, in diesem oder jenem Falle könnte vielleicht die relative
Seltenheit an Stücken von Weifs -Jura-Kalk sprechen; denn bei einem Auf-
bereitungsprocesse mufsten die thonigen Massen von den Kalkstücken mehr
und mehr geschieden werden. Wogegen bei den durch Auswurf oder Ab-
rutschung auf secundäre Lagerstätte beförderten Massen, so weit sie wirr
struirt waren , wohl eher eine Durchmengung verschiedenartiger Gesteins-
arten eintreten mu&te.
Gegenüber einer so weit ausgedehnten thonigen Masse am Riese ist
aber auch die Vorstellung nicht ohne Weiteres abzulehnen, dafs hier ein
grofser Schlanunstrom vorliegen könnte. Da, wo bei Vulcanausbrüchen
gröfsere Wassermassen vorhanden sind, entstehen nicht so selten Schlamm-
tuffströme.^ Das gänzliche Fehlen vulcanischen Tuffmaterials in dieser frag-
' W. Br an c o , »Schwabens Vulcan- Embryonen. Theil IlT S. 683 — 702 : Die verschiedenen
Arien von Tuffen.
Das tmhafMche Vorries. 111
liehen Masse bei Ebennergen könnte fireilich sofort gegen die Möglichkeit
eines solchen Gedankens sprechen. Indessen mufs man sich vergegenwär-
tigen, dafs im Riese die vulcanischen Tuffe überhaupt in den Hintergrund
treten, und dais zudem, wie wir uns zu zeigen bemühen, die grofse Ex-
plosion ganz unabhängig von solchen Tuff-Eruptionen gewesen sein dürfte,
da letztere derselben erst nachfolgten. Man mufs sich femer vergegen-
wärtigen, dafis diese grofse Explosion schwerlich durch die vom Magma
absorbirt gewesenen Gase hervorgerufen worden sein kann, sondern wohl
durch die plötzliche Verwandlung grofeer unterirdischer Wassermassen in
Dampf entstanden sein kann. Hier hätten wir also die genügenden Wasser-
massen zur Verfugung; bei der Explosion wären sie gleichzeitig mit den
thonigen Gesteinsmassen als dicker Brei herausgestoüsen worden. Auf solche
Weise würde sich auch die geringe Beimengung von Weifs-Jura-Kalk erklären.
Es giebt indessen noch eine weitere Möglichkeit. Man könnte daran
denken, dats diese hart östlich des Wörnitzthales auflretenden thonigen
Massen ihre Entstehung deijenigen dieses Thaies verdankten. Letzteres ist
durch eine grabenfSrmige Einsenkung entstanden. Bei diesem Vorgange
könnten die Keuper- und Jura-Thone heraufgequetscht worden sein.
Auch von S. her, vom Donau -Abbruche der Alb, könnte man diese
Massen durch einen entsprechenden Vorgang ableiten wollen, indem sie
zwischen der absinkenden und der stehengebliebenen Albscholle herauf-
geprelst worden wären.
Man wird nicht einwerfen dürfen, derartiges sei ganz unmöglich, da
diese Jura- und Keuper-Thone ja erst in ziemlicher Tiefe imter der Erdober-
fläche anständen. Die plastische Beschaffenheit der Thone macht einen solchen
Vorgang immerhin denkbar. C. Diener' hat solche Aufpressungen unter-
liegender thoniger Massen in den Alpen theils wahrscheinlich gemacht, theils
kennen gelehrt.
Indessen eine solche Erklärung, wenn auch an sich möglicli, kann
doch aus folgendem Grunde nicht gut aufrecht erhalten werden. Wir haben
im W. des Rieses, so z.B. am Fluetschenhäuserhof*, schön aufgeschlossen.
^ 0. Diener, Über den Eintliirs der Erosion auf die Structur der sudosUiroIisclien
Dolomitstocke. Mittheilting der k. k. Geogi*. Ges. Wien 1900. 8. 28. Ferner: F2in Beitrag zur
Geologie des Centralstockes der Julischen Alpen. Jahrbuch der k. k. Geolog. Reichsanstait.
Wien. 34. Bd. 1884. 8.692.
' Das vulcanische Ries. S. 131.
112 Brango:
ganz analoge Massen Bunter Breccie oben auf der Alb. Diese aber liegen
theils von jenen Spalten doch zu weit entfernt, um auf sie zurückgeführt
werden zu können; theils aber fuhren sie auch Granitstücke, sind daher
wohl auf Auswurf oder Überschiebung zurückzufahren.
Die Entstehungs weise dieser ausgedehnten und mächtigen, wirr stru-
irten thonigen »Bunten Breccie« auf der Albhochflftche bei Ebermergen
könnte also auf sehr verschiedene Ursachen zurückgeführt werden:
Eis als wirkende Ejraft anzunehmen, erscheint unmöglich, da sonst
die Kalkstücke in dem Thone gegl&ttet sein müfsten.
Aufquetschung auf der Wömitz- oder der Donau -Spalte dürfte eben-
falls ausgeschlossen sein, weil man die im W. des Rieses liegenden gleich-
artigen Massen wegen ihrer Entfernung von jenen Spalten schwer auf diese
Ursache zurückführen kann.
Theils Herausschleuderung bei der Explosion, theils Ab-
rutschung und Überschiebung erscheinen als die am meisten
einleuchtenden Ursachen. Möglich wftre aber auch Ausstossung
eines wäfsrigen Breies, eines Schlammstromes, bei der Explo-
sion. Laut der S. loo gegebenen Definition wftre das dann keine
echte »Bunte Breccie« mehr. Später dürften diese thonigen
Massen durch die Atmosphärilien weiter ausgebreitet worden
sein, als das ursprünglich der Fall war.
Wir haben in unserer ersten, soeben citirten Arbeit die An-
sicht ausgesprochen, dafs diese thonigen Massen Bunter Breccie
einst eine weite Verbreitung auf der Alb gehabt haben mögen.
Durch die Aufschlüsse bei Ebermergen findet diese Ansicht eine
überraschende Bestätigung. Es wird dadurch aber weiter wahr-
scheinlich, dafs auch noch an anderen Orten, an denen oberfläch-
lich ebenso wenig davon zu sehen ist wie bei Ebermergen, die
Bunte Breccie auch heut noch die Albhochfläche bedecken mag.
Das vuloanische Vorries. 113
VI. Weitere Beweisgründe allgemeiner Natur gegen einen
glacialen Transport der groüsen übersehobenen Schollen.
In Abschnitt m haben wir die Bedenken geäufsert, welche wir gegen
eine glaciale Deutung gewisser specieller Erscheinungen im Riesgebiete hegen
zu müssen glauben.
Da& auch eine Reihe von Gründen allgemeiner Natur vorhanden ist,
welche gegen die Annahme eines glacialen Transportes der grolsen Schollen
sprechen, die unserer Deutung nach durch vulcanische Kraft überschoben
sind, das haben wir bereits in unseren früheren Arbeiten eingehend dar-
gelegt.*
Nun hat jedoch Koken neuerdings der Ansicht Ausdruck gegeben,
dafs er am Riese jetzt* die Wirkung von Gletscherspuren nur in um so
höherem Ma&e erkennen müsse.*
Es tritt daher an uns die Noth wendigkeit heran, durch weitere Gründe
die Vorstellimg zu widerlegen, dafs die Buehberg- Seh olle, und damit auch
irgend welche andere grofse überschobene Schollen, durch Eis an Ort und
Stelle verfrachtet sein könnten; oder dafs sie auch nur, wenn auch durch
andere Ki&fte dorthin verfrachtet, später durch Eis noch in toto so weit
«
vorwärts geschoben sein könnten, dafs dadurch unter ihnen die Glättung
und Schranmiung der Buchberg- GeröUe und des Weifs-Jura bewirkt worden
wären. Diese Gründe sollen im Folgenden erörtert werden.
Mangel an glacialen Spuren im RieskesseL Wäre der Rieskessel
mit Eis erfüllt gewesen, so müfsten sich doch vor Allem, d. h. in viel
^ Das vulcanische Ries. S. 78 — 84, 135, 140; Beweis fllr die Richtigkeit unserer
Deutung S. 8 [508].
' D. h. nachdem die Ol&ttung und Schranunung des Weifs-Jura ß und das Vor-
handensein gekritzter Buchberg- Gerolle unter der ganzen Braun -Jura -Kappe des Buch-
berges dargethan ist.
' >F(ir mich sind hierdurch die Druckwirkungen des diluvialen Eises in einer Weise
bestätigt, die noch über meine früheren Annahmen hinausgeht.« Neues Jahrb. f. Min., Geol.,
Pal. 1901. II, S. 128.
Vollkommen klar sind diese Worte freilich nicht. Auch das, was in der neuesten
Arbeit Koken 's (ebenda, Beilage -Band XV) auf S. 468 darüber gesagt ist, bleibt ähnlich
unklar.
Phys.Abh. 1902. L 15
114 Branco:
liöherera Grade als oben auf der Alb, unten auf dem Kesselboden an vielen
Orten Glättung, Schrammung und Grundmoränen finden. Koken selbst
hebt das Fehlen der Glättung und Schrammung hier hervor.
Der etwaige Einwand, die Gesteine seien nicht hart genug gewesen,
wäre auch nicht stichhaltig, da genügend harte Schollen von Weifs-Jura-
Kalk und auch härterer Tertiär-Kalk vorhanden sind. Und wo ist die Grund-
moräne, die den ganzen Riesboden bedecken müfste?
Mango] tcrtiürer, durch Eis transportirter Gesteinsmassen des Rieses
oben auf der Alb. Während obermiocäner Zeit war der Rieskessel von
einem See oder von Sümpfen erfüllt; auf deren Boden schlugen sich die
Schichten dieser Epoche in Form von Braunkohlen, den diese begleitenden
Thonen, von Cypris-, Sehnecken- und Sprudelkalken nieder, welche sich
jetzt noch in dem Kessel finden. Zu Beginn der diluvialen Zeit bildeten
sie folglich die Decke des Rieskessel -Bodens, denn pliocäne Bildungen hat
man zwischen den obermiocänen und den diluvialen nicht gefunden bez.
nicht ausscheiden können.
Wenn nun in diluvialer Zeit das Eis diesen Kessel erfüllt und
aus seinem Boden die grofsen Jura-Schollen herausgebrochen und
auf die Alb hinaufgeschoben hätte, so würde es doch vor Allem
zuerst die oben aufliegenden tertiären Bildungen aus dem Kessel
heraus transportirt haben müssen.
Auf der Alb müfsten mithin viel mehr noch grofse Schollen dieser ober-
miocänen Gesteine liegen , als jurassische. Das ist aber nicht der Fall. Nur
in der Lauehheimer Breccie sollen solche vorhanden sein.^
Wie ist diese negative Thatsache zu erklären? Doch am ungezwim-
gensten dahin, dafs in diluvialer Zeit überhaupt kein Transport von Ge-
steinsmassen aus dem Rieskessel auf die Alb hinauf erfolgt ist, dafs also
die auf die Alb geschobenen Jura -Schollen bereits vor der diluvialen Zeit
aus dem Ries auf die Alb transportirt waren. Wenn dem so ist, dann
können diese Jura-Schollen natürlich nicht durch Eis dorthin verfrachtet sein.
Damit ist selbstverständlich über die Frage eines etwaigen Vorhanden-
seins von Eis im Rieskessel zu diluvialer Zeit noch keinerlei Urtheil ge-
fallt, sondern nur über eine transportirende Wirksamkeit desselben gegen-
über den fraglichen grofsen Schollen; und auf diese Frage allein kommt
* Vergl. darüber den Abschnitt IV. «Die Lauehheimer Breccie«.
Das vtUcanische Vorries. 115
es hier an. Wird dennoch das ehemalige Dasein von Gletschern im Ries-
kessel wirklich nachgewiesen , so folgt daraus noch keineswegs nothwendig
ein Transport jener grolsen Schollen auf die Alb hinauf durch dieses Eis.
Das oben Gesagte könnte als im Widerspruch stehend erscheinen mit
den Aussprüchen Koken 's, in denen er sagt, dafs in den überschobenen
Massen Tertiär- Gesteine lägen*; und dafs man aus diesem Grunde »in der
Erinnerung behalten müsse, dafe die angeblichen Überschiebungen nach-
miocän« sind. »Schon jetzt aber mufs ich Einspruch erheben gegen die
(von uns angeblich geübte) Ausmerzung tertiärer Gesteine in den über-
schobenen Massen.«
Diese Worte werden im Leser nothwendig die Vorstellung erwecken
müssen, dafs in den überschobenen grollen Schollen, im Gegensatze zu
unserer Aussage, stets tertiäre Gesteine vorkämen; und dafs wir deren
Dasein nur »ausmerzen« wollten. Beides wäre jedoch eine durchaus un-
richtige Vorstellung,
Es ist daher nöthig, demgegenüber zunächst abeimals klarzustellen,
was wir schon früher geltend machten^, dafe tertiäre Gesteine natürlich
in die überschobenen Schollen, soweit diese ihre Schichtung bewahrten,
also eine geschlossene Masse bildeten, überhaupt nicht hineingelangen konn-
ten. Das gilt also gerade von den beiden hauptsächlich in Frage stehenden
Schollen vom Buchberg und von Hertsfeldhausen* und es gilt ebenso von den
überschobenen Weiijs- Jura-Klippen, soweit sie als Ganzes, nicht etwa als
Trümmerwerk transportirt worden sind.
Aber noch mehr: Da Koken damals die beiden ersteren Schollen (Buch-
berg, Hertsfeldhausen) fär aus der Tiefe, durch die Alb hindurch aufgepreJfet
erklärte, so sagte er selbst damit indirect ebenfalls aus, dafs in diesen Schollen
unmöglich Tertiär -Gesteine liegen können; denn unter der Albhochfläche
konnte kein Tertiär liegen und aufgeprefst werden.
Zunächst ist also gegenüber jenen Worten Koken's festzu-
halten, dafs, selbst wenn wir die Absicht gehabt hätten, jene
Tertiär-Gesteine aus den hauptsächlichsten überschobenen
Schollen »ausmerzen« zu wollen, uns dazu die Möglichkeit
^ Das SchlifTproblem. 8. 91.
' Das vulcanische Ries. S. loi — 103.
^ Ob die Braun-Jura-Scholle von Unter-RifHngen ihre Schichtung bewahrt hat, liefse
sich nur durch eine Grabung in derselben feststellen.
15*
116 Branco:
gefehlt haben würde, da in diesen Schollen überhaupt kein
Tertiär liegen kann, welche negative Thatsache zudem auch
durch Koken's Aufpressungshypothese dieser Schollen indirect
zugegeben wird.
Nur im Innern der wirr struirten Lauchheimer Breccie könnten Stücke
tertiärer Gesteine liegen.
Freilich, oben auf den überschobenen Schollen, oder in Spalten und
Taschen derselben, oder in verstürzten, daher wirr struirten Theilen dieser
Schollen kann hie und da etwas Tertiär obermiocänen Alters liegen.
Aber würde durch diese Thatsache etwa mit irgend welcher Sicherheit
bewiesen, dafs dieses Obermiocän bereits vor der Überschiebung der Schollen
auf ihnen gelegen habe und mit ihnen zugleich transportirt sei; dafs es also,
wie diese Schollen, aus dem Innern des Ries stamme? Nicht im mindesten;
denn diese obermiocänen Ablagerungen könnten sich ja ebensowohl auch erst
nach der zu mittelmiocäner Zeit erfolgten Überschiebung der Schollen oben
auf der Alb auf denselben gebildet haben.
Warum sollten denn tertiäre Süfswasserbildungen zu obermiocäner Zeit
gerade nur unten, im Rieskessel möglieh gewesen sein? Warum nicht auch
oben auf der Alb? Thatsächlich finden sich ja hart am Riese oben auf der Alb
noch heut obermiocäne Süfewasserbildimgen , so im 0. bei Wemding, wo
Braunkohlenbildungen liegen; und im S.W. oberhalb Edemheim, wo Land-
schneckenkalke auftreten; au&erdem aber in etwas weiterer Entfernung vom
Riese an vielen Orten im Vorriese.
Solche etwaigen, oben auf den überschobenen Schollen sich
findenden Tertiär-Gesteine brauchen mithin durchaus nicht aus
dem Riese zu stammen, können vielmehr auch von der Albhoch-
fläche herrühren; und lange nach der Überschiebung der Schollen können
sie dann entweder direct auf den letzteren sich gebildet haben, oder von
anderer Stelle her auf dieselben und oberflächlich in sie hinein gelangt sein
durch Auswurf bei einer Explosion, oder durch Verstürzung von höher
gelegenen Orten herab durch Wasser oder durch Lawinen. Falls übrigens,
wie Koken will, eine Vergletscherung stattgefunden haben sollte, so
wäre eine solche oberflächliche Mischung obenniocäner, auf der Alb ent-
standener Gtesteine mit den dort lagernden, durch andere Kraft schon
vorher überschobenen Schollen sogar der erklärlichste Vorgang, den man
sich denken kann.
Das tmloanische Vorries. 117
Ein etwaiges Vorkommen tertiärer Gesteinsstücke oben auf bez. ober-
flächlich in einigen überschobenen Schollen der Albhochfläche könnte mithin
durchaus nicht mit irgend welcher Sicherheit beweisen, dass diese Schollen
imd dieses Tertiär gleichzeitig durch Eis aus dem Riese auf die Alb geschoben
seien, dafs also, wie Koken sagt, die angeblichen Überschiebungen nach-
miocän sind.
Es bleibt somit von allen Schollen, so viel wir übersehen können, nur
die wirr struirte Lauchheimer Breccie übrig, in deren Innern neben Fetzen
von Braun- und Weifs-Jura auch solche von obermiocänen Gesteinen liegen
sollen (s. darüber S. 97,98).
Mangel von aus dem Riese stammenden Schollen im Norden des
Rieses. Ein weiterer Grund, welcher die Annahme glacialer Kräfte zur
Erklärung der Überschiebungen jener grofsen Schollen nicht nur unwahr-
scheinlich, sondern sogar völlig unhaltbar machen könnte, ergiebt sich aus
dem Folgenden:
Wir haben gesagt, dafs der Rieskessel so hart an den Nordrand der
Alb gerückt ist, dafs er nur im 0., S., SW. von der Alb umgeben wird.
Im N. und NW. dagegen öflBttet sicli der Kessel durch eine breite Scharte
seiner Umrandung in die dem N.-Abhange der Alb vorgelagerte Keuper-
Lias-Braun-Jura-I^ndschaft.' Diese Scharte aber mufs bereits zu mittel-
miocäner Zeit vorhanden gewesen sein , wie das aus der Thatsache hervor-
geht, dafs damals die grofsen Weifs- Jura-Klippen^ auf den in der Scharte
schon zu dieser Zeit durch Erosion freigelegten Unteren Braun-Jura ge-
schoben werden konnten.
Wie hätten nun wohl aus dem mit Eis erfiillten Kessel die Jura-Schollen
durch das Eis an dem steilen Gehänge bez. auch im Egerthale auf die Alb-
hochfläche hinauf in die Höhe geschoben werden können, wenn doch der
Kessel im N. eine breite, tiefe Scharte hatte? Mit demselben Rechte würde
man ja sonst erwarten müssen , dafs ganz allgemein die Gletscher aus ihrem
Sammelbecken, der Fimmulde, an den Gehängen dieser letzteren bergauf
in die Höhe steigen müfsten, anstatt durch die Scliarte der Mulde, d. h.
ihre Öffnung in das Gletscherthal, in letzteres hinaus zu fliefsen.
Ein den Rieskessel erfüllender Gletscher hätte also viel-
mehr durch die breite nördliche Scharte der Kesselwand nach
* Das vulcanische Ries. S. 45, Taf. II .
■ A. a. O. S. 43, 95.
118 Branco:
N. geflossen sein müssen; in das niedrige nördliche Vorland
der Alb hätte er den steinernen Kesselinhalt, die Granit-,
Keuper-, Jura-Schuttmassen, das Riestertiär und die grofsen zu-
sammenhängenden Gebirgsschollen geschoben haben müssen,
falls er überhaupt letztere hätte verfrachten können, was wir bestreiten.
Dort im N., in gröfserer oder geringerer Entfernung vor dieser Scharte,
also vor dem Albrande , nicht aber oben auf der Alb , müfste der ehemalige
steinerne Inhalt des Rieskessels heute sich finden, wenn eben ein Ries-
gletscher alle diese überschobenen Schollen wirklich verfrachtet hätte.
Gegen diese Schlufsfolgerung würde wohl nur eine Einwendung ge-
macht werden können: nämlich die, dafe in diluvialer Zeit alle orographi-
schen Verhältnisse noch andere gewesen seien wie heute; so z. B., dafe an
Stelle des heutigen Rieskessels sich damals noch der Riesberg befunden
habe, von dem herab das Eis die Schollen auf die Alb geschoben hätte.
Koken hat in der That eine solche Ansicht einmal aufgestellt. Aber er
war doch vorher zu der gerade entgegengesetzten "Überzeugung gelangt.,
dafs in diluvialer Zeit der Rieskessel als solcher schon vorhanden ge-
wesen sei, und er ist nachher wiederum zu dieser ersten Ansicht zurück-
gekehrt; auch wenn er jetzt in seiner neuesten Arbeit betont, dafs immer-
hin noch Bewegungen des Rieskesselbodens in diluvialer Zeit stattfanden,
so ist damit doch noch keineswegs eine völlige Umkehrung der heutigen
Verhältnisse ausgesprochen. Es wäre also wohl selbst auf glacialer
Seite wenig oder keine Neigung mehr vorhanden, eine solche Einwendung
zu erheben.
Das zeitlicbe Moment als schwerwiegender Grund gegen glazialen
Transport. Die folgende Reilie zwingender Schlufefolgerungen wird zeigen,
dafs auch das zeitliche Moment es nicht gestattet, Schollen, wie die des
Buchberges, als durch Eis transportirt aufzufassen.
Die Vergriesung des Weifs-Jura geht im Riese an verschiedenen
Stellen nach oben in obermiocänen Süfswasserkalk über*, d. h. der Gries
wurde hier in obermiocäner Zeit durch Kalk verkittet und nahm gleich-
zeitig herbeigespülte Landschnecken auf. Folglich mui^ die Vergriesung
des Weifs-Jura- Kalkes im Riese erfolgt sein zu einer Zeit, die vor jener
obermiocänen lag.
' Das vulcanisclie Ries. 8.103; von KnebeTs Beiträge. S.76.
7>/Ä vulcanüefke Vorries. 119
Nun sind aber Schollen von Weifs- Jura- Kalk, unsere Klippen*, im
vergriesten Zustande überschoben worden. Folglich ist auch die Über-
schiebung dieser Klippen erfolgt zu einer Zeit, die vor jener obermio-
cänen lag.
Folglich also kann die Kraft, durcli welche die Überschie-
bung dieser Klippen erzeugt wurde, unmöglich im Eise ge-
sucht werden, da dieses ja, wenn überhaupt, erst in diluvialer
Zeit seinen Einzug in das Ries gehalten haben könnte.
Diese übei-schobenen Weifs-Jura-Klippen aber sind wiederum unmöglich
genetisch zu trennen von den überschobenen Braun-Jura-Schollen; alle Über-
schiebungen werden sich doch wahrscheinlich zu einer und derselben geo-
logischen Zeit gebildet haben.*
Folglich mufs auch die Überschiebung der Braun -Jura-
Schollen ebenso alt sein, wie diejenige der Weifs-Jura-Schollen,
d. li. älter als obermiocän. Folglicli können auch diese Schollen
nicht durch Eis überschoben sein.
Vergletscheriing vom Hesselberge ans? Um auch jeden anderen mög-
lichen Einwand abzuschneiden , seien hier noch zwei weitere Möglichkeiten
einer glacialen Erklärungsweise des Transportes der grofsen Schollen kurz
berührt und abgewiesen.
Der breiten Scharte in der Wand des Rieskessels vorgelagert findet
sich, in einiger Entfernung nördlich derselben, der 690"* hohe Hesseiberg.
Aufgebaut aus Lias-, Braun- und Weifs -Jura -Schichten erhebt er sich als
ein Erosionsrest der Alb mitten aus der Keuperlandschaft und bildet so
einen der Zeugen, welche, dem Nordwestrande der Alb vorgelagert, Kunde
davon geben, dafs einst die Alb sich weiter nach N. hin ausdehnte.
Man könnte nun geltend machen, nicht der Rieskessel, sondern dieser
Hesseiberg, überhaupt das nördliche Wörnitzgebiet, sei der Ausgangspunkt
eines Eisfeldes gewesen, welches durch die offene Scharte des Rieskessels
^ A. a. O. 8. 64, 94, 96.
^ Ein jeder Zweifel daran mi^fste sei 1 winden gegenüber der einen Thatsache, dafs am
Bnchberge nicht nur eine Scholle von Braun-Jura, sondern auch eine solche von Weifs-Jura
(Beiburg) ganz dicht neben einander überschoben liegen. (Das vulcanische Ries. 8.76, Fig. 4.)
Da jedoch von Koken die Eigenschaft dieser Weifs- Jura-Masse der Beiburg als einer über-
schobenen Klippe bestritten wird (S. 83), so wollen wir diesen Grund nicht in obige Schhifs-
folgerung einftigen, obwohl wir ihn für stichhaltig ansehen.
120 Branco:
in letzteren hineingeflossen wäre, sich in ihm aufgestaut, ihn erfüllt und
seinen Inhalt dann an den steilen Abstürzen empor auf die Alb geschoben
habe. Th Urach hat diesen Gedanken ausgesprochen/ Indessen, eine so
wenig umfangreiche Erhebung wie der Hesseiberg hätte auch nur einem
entsprechend kleinen Gletscher das Leben gegeben haben können.
Einem so kleinen Eisstrome aber eine so gewaltige schiebende Kraft,
zudem steile Abstürze hinan , zuschreiben zu wollen , geht , unserer Ansicht
nach, nicht an. Man vergleiche damit doch das, was das, eigentlich ganz
unvergleichlich viel gröfsere diluviale Inlandeis an Verfrachtung gröfserer
Schollen nur geleistet hat.
Die gröfste Scholle, welche durch das mächtige Inlandeis Schottlands
in diluvialer Zeit als Ganzes transportirt wurde, lag bei Elgin in Schott-
land auf Geschiebelehm. Sie besafs eine Dicke von 13"'^ und maus 247
bez. iio"^ in Länge und Breite, bedeckte also 27000''" Fläche. Dieses ist
die gröfste Leistung, zu welcher, soviel wir wissen, das riesige schottische
Inlandeis befähigt war. Zudem ist diese Scholle, wie Geikie sagt, evi-
dently not travelle far. Demgegenüber schreibt jeder, welcher die frag-
lichen Jura-SchoUen des Rieses als durch Eis verfachtet ansieht, dem relativ
winzigen Hesseiberg- oder Riesgletscher geradezu Ungeheuerliches zu ! Denn
hier, am Riese, handelt es sich um den Transport von Schollen, welche
heute noch, nachdem ihre so weichen Massen doch zweifellos sehr stark
durch Abtragung verkleinert worden sind, bedeutendere Dimensionen er-
reichen als jene von Elgin, und welche durch den winzigen Riesgletscher
zudem, ohne zu zerbrechen, an den ganz steilen, fast senkrecht werden-
den Gehängen des Rieskessels emporgeschoben sein mülsten!
Die Buchberg -Scholle mifst ungefähr heute 300 und 400*" in Länge und
Breite, bez. 1000 und 400°*, falls man die Beiburg -Klippe hinzurechnet.
Die Hertsfeldhausener Scholle, heute durch die Erosion zerschnitten,
früher ganz zweifellos* zusammenhängend, bedeckt, nach von Knebers Be-
rechnung, einen Flächenraum von mindestens 4^^75.
^ Zeitschrift der Deutschen Geologischen Gesellschaft. 1896, S. 680. Ferner Bericht
über die 29. Versammlung des Oberrheinischen Geologischen Vereins am 9. April 1896. Sonder-
abdruck S. II.
* 40 feets.
' 270 bez. 120 yards a 3 Fufs. Geikie: The great ice age. 1894, 8. 20.
* Man betrachte die von KnebeTsche Karte und man wird dem beistimmen.
Das tmlcanische Vorries, 121
Bezügliclx norddeutscher Schollen, welclie im zusammenhängenden Zu-
stande durch das diluviale Inlandeis transportirt worden sind, möchte ich
die folgenden Angaben machen, welche ich einer liebenswürdigen schrift-
lichen Mittheilung des Hrn. CoUegen De ecke verdanke. Derselbe schreibt:
»Ich bin eigentlich nur in einem Falle in der Lage, eine darauf be-
zügliche Mittheilung zu machen.«
»Meistens ist es unmöglich, wegen der vollständigen Einbettung in den
Diluvialmergel, die Dicke oder Breite und Länge gleichzeitig zu ermitteln,
wenn nicht das umgebende Gelände abgebohrt wird. Aufserdem bleibt in
den meisten Fällen, wo gröisere Schollen vorliegen, zweifelhaft, ob die-
selben nicht an der Basis mit dem Anstehenden zusanmienliängen. Dann
wären es keine Schollen , sondern nur Aufpressungen durch Eisdruck , die
allerdings sehr bedeutend werden können. Wenigstens fasse ich die Fal-
tungserscheinungen auf Jasmund zum gröfsten Theil als eine Folge des
Eisdruckes auf die weiche, nachgiebige Basis auf.«
»Da« Beispiel, welches ich meine, ist die Kreidescholle der Cement-
fabrik »Stern« in Finken walde bei Stettin. Dieselbe ist in Breite und Länge
beinahe völlig erschlossen und durch den Abbau aucli in der verticalen
Richtung zu übei-sehen. Es ist eine wirkliche Scholle, da sie von Diluvial-
sanden bedeckt und nachweislich von diesen auch unterteuft wird. ' Diese
Kreide ist ein lang gestrecktes, landeinwärts dicker werdendes, sehliefslich
umgebogenes und gestauchtes riesiges Geschiebe von etwa 400" Breite, 300
bis 350" Länge und wechselnder Dicke. Diese wird in der Nälie der Oder
gering imd nimmt mit dem Ansteigen der Scholle landeinwärts zu, so dafs
bei einer Lage von 45"* über NN. sehliefslich 27" Kreide entwickelt sind.
Bei der Berechnung nimmt man zweckmäfsig höchstens 1 5° an und erhält
daher für die Gesammtmasse dieser Scholle einen Näherungswerth von
2IOOOOO*^".«
»Zu bemerken ist, dafs aber nicht nur die Kreide, sondern auch er-
hebliche Massen von Septarienthon mit von diesem Eisschub ergriffen sind
imd an der Basis wie an dem Kopfe der Scholle als mächtige schwarze
Massen hervortreten. Mag daher eine oder die andere Dimension der Kreide-
scholle etwas zu grofe genommen sein, so ist eine Compensation durch den
^ Querschnitte derselben finden sich in Deecke's geologischem Führer durch Pommern
und in dem von Wahnschaffe, Berendt und Keil hack herausgegebenen Führern fQr
die Geologische Gesellschaft und den 7. internationalen Geographentag in Berlin.
PklfS.Ahh. 1902, L 16
122 Branco:
Septarienthon gegeben. Ich möchte daher 2 Millionen Cubikmeter eher fnr
zu klein, als zu grofs schätzen.«
»Dieses ist aber die gröfste, mir überhaupt aus unserem Ge-
biete bekannte Diluvialscholle; die Hauptmasse der anderen Schollen
ist viel, viel kleiner, und bei Finkenwalde scheint auch keine di-
recte Verschleppung auf weitere Entfernung eingetreten zu sein,
da ja ringsum im Boden bei Bohrungen Kreide nachgewiesen wurde , son-
dern eher ein Hinaufschieben tiefer liegender Massen auf den Rand des
Thaies. Dabei hat unzweifelhaft der Septarienthon, der an der Basis der
Kreide sichtbar wird imd deutlich druckschiefrig- blättrig ist, als Gleit-
material gedient, als Glattimgsmittel und ist als solches in alle Sprünge
der Kreide eingedrungen. Diese innige Verknetimg tritt auch in den be-
nachbarten Gruben der Züllchower Cementfabrik bei Finkenwalde deutlich
hervor. In diesen ist aber eine Schätzung der Sedimentmassen wegen der
Durchdringung mit Diluvium nicht gut möglich.«
»Ein zweites Beispiel wären die Kalkschollen des Kimmeridge bei
Fi'itzow, welche man bisher immer für anstehendes Gestein gehalten hat.
Bohrungen zeigten jedoch, dafs sie von Diluvium und Sand unterlagert
sind. In der Voraussetzung, dafs auch dieser Sand quartär ist, kann man
für einzelne dieser Vorkommen wenigstens schätzimgs weise die Gröfse fest-
stellen. Das Hauptkalklager im Walde beim Forsthaus Fritzow hat die
Dimensionen 100 •100-7" = 70000*", das zweite am Kalkofen kann auf
50000 — 60000°^° geschätzt werden. In beiden Fällen sind es aber Maxima;
dazu kommen noch einige kleine Schollen, so dals die Gesammtmasse der
einzelnen, bei Fritzow lose im Diluvium gelegenen Kalkklötze auf 130 bis
1 50000*"^" veranschlagt werden mag. Aber diese Masse ist entzwei gegan-
gen und liegt in grofsen, durch Diluvium von einander getrennten Trüm-
mern auf Sand imd Geschiebemergel auf 2000 Schritt Breite verstreut
(etwa 1300").«
»Alle anderen, mir bisher bekannten Schollen sind erheblich kleiner,
so die von Nemitz, Tripsow, die einzelnen Kreideklippen von Dobberpfuhl
und Parlow, sowie von Samtens und Stralsund auf Rügen.«
»Allen Schollen pflegt gemeinsam zu sein eine relativ geringe Dicke
bei gröfserer horizontaler Ausdehnung, also flache Gestalt, sowie eine ge-
neigte Lage im Diluvium und vollständige Zerrüttung des Materials. Bei
Finkenwalde sind alle Belemniten zerbrochen , bei Fritzow sind die grofsen
Das tmloanische Vorries. 123
Ammoniten zertrümmert. Diese Zerrüttung tritt auch auf Bomholm in den
Graptolithenschiefem des Rispebjergs und in dem Trinucleussehiefer an
der Brücke von Vasagaard deutlich hervor.* Hinter den Schollen macht
sich femer oft eine Art Schweifbildung bemerkbar, bestehend aus losge-
lösten und zurückgebliebenen Trümmern. Ebenso kommen vor der Haupt-
masse Zungen vor, die durch weiter geschlepptes Gestein entstanden sind,
daher erscheinen allerdings nicht sehr häufig solche Schollen linsenförmig
im Querschnitt und ohne scharfe Begrenzung gegen das Diluvium.«
So ergiebt der Vergleich, dafs das übergewaltige diluviale
nordische Inlandeis relativ nur geradezu winzigere, selbst ab-
solut aber nur kleinere Schollen von zusammenhängender Be-
schaffenheit verfrachtet hat, als der unendlich viel kleinere
hypothetische Hesseiberg- oder Riesgletscher verfrachtet haben
müssten, wenn jene Schollen durch Eis transportirt worden
wären. Zudem müfsten letztere beide diesen Transport noch an
dem steilen Gehänge des Rieskessels hinauf bewirkt haben, ohne
dafs die Schollen dabei zertrümmert wären.
Allgemeine Vergletsehemng der Alb? Aber noch einen anderen Ein-
wand könnte man erheben: Nicht ein kleiner Ries-, nicht ein geringer
Hesseiberg- Gletscher hätten den Transport der Schollen bewirkt. Es habe
eine allgemeine, also grölsere Vergletscherung der Alb bestanden; diese
habe ihre Eismassen in den Rieskessel hinab geschickt und sie mit jenen
Schollen beladen wieder hinauf auf die Alb gedrückt.
Koken hat in der That ausführlich diese Ansicht vertreten^ und aus
der Richtimg der Schrammen imter den überschobenen Schollen geschlossen,
dafs von der Alb die Eismassen in das Ries hinabgeglitten seien. Sogar
Anzeichen einer zweimaligen Vergletscherung* vermeint er gefunden zu
haben. Indessen diese Ansicht ist dann , mindestens in ihrem ersten Theile,
von Koken selbst wieder als nicht statthaft erkannt worden, so dafs wir
keine Gründe gegen dieselbe anzuftLhren brauchen.
Zusammenfassung aller CSründe, welche gegen eine glaciale und für
eine vulcanische Kraft bei Entstehung der Überschiebungen sprechen.
^ Vergl. die Abbildung in Johnstrup, AbriTs der Geologie von Bornholin. Fest-
schrift für die Versaoimlung der Deutschen Geologischen Gesellschaft in Greifswald 1889.
* Die SchlifiH&chen. S. 15, 19, 21.
■ A. a. O. S. 88.
16*
124 Brango:
1. Die Steilheit der Gehänge des Rieskessels. Drygalsky's Unter-
suchungen haben zwar die Möglichkeit dargethan, dafs Gesteinsmassen durch
Eis an sanft geneigten Flächen emporgeschoben werden können; aber er
selbst hat in mündlichem Gespräche die Möglichkeit abgelehnt, dafs eine
Verfrachtung an so steilen Gehängen imd Abstürzen hinauf erfolgen könne.
2. Die Meereshöhe der überschobenen Schollen, die bis zu 578°* am
Buchberg und 630" bei Ünter-Riffingen steigt, während der Riesboden jetzt
in 430" Höhe liegt. Dazu hätte es mindestens einer grofsen Vergletsche-
rung der ganzen Alb bedurft, von der Koken selbst nun aber wohl absieht.
3. Die nur geringe Entfernung vom Riesrande, welche diesen Schollen
zukommt, während doch eine solche allgemeine Albvergletscherung sie auch
in weitere Entfernung hingeschoben haben müfste.
4. Der ungestörte Schichtenverband der Buchberg- und Hertsfeldhause-
ner Schollen. Unmöglich hätten diese an dem steilen Gehänge hinaufge-
schoben werden können, ohne ihren Zusammenhang völlig zu verlieren.
5. Die gewaltige Gröfse dieser Schollen gegenüber der geringen Gröfee
des angenommenen Ries- oder Hesseiberg- Gletschers, da doch selbst das
ungeheure diluviale Inlandeis so grofse zusammenhängende Schollen kaum,
und dann wohl meist nur auf geringe Entfernung, transportirt hat.
6. Die Unmöglichkeit, eine Moränenart zu nennen, welcher diese
Schollen zuzurechnen wären. Sie stammen aus der Tiefe des Rieses: Folg-
lich können sie nicht Oberflächenmoräne sein, denn wie hätten sie auf
den Rücken des Eises gelangt sein sollen, das mindestens 200 — 300" dick
sein mufste. Folglich können sie aber auch nicht Stimmoräne sein, denn
das Eis mufste sich ja über ihnen anhäufen, nicht hinter ihnen. Folglich
können sie auch nicht Grundmoräne sein, denn dann hätten sie ihre Schich-
tung unmöglich (s. Punkt i und 2) bewahrt haben können.
7. Der Mangel einer den ganzen Boden des Rieskessels bedeckenden
Grundmoräne sowie zahlreicher glacialer Schrammen und Polituren an den
emporragenden Massen des Weifs-Jiu'a und der Tertiär -Kalke im Riese.
8. Der Mangel grofser Schollen tertiärer Kalke, die docli vor Allem
aus dem Kessel auf die Alb hinaufgeschoben sein müfsten.
9. Der Mangel eines riesigen Walles von Jura- und Tertiär - Schollen
im N. der grofsen Scharte in der Umrandung des Rieskessels ; denn dort-
hin, nach N. liinaus, nicht aber auf die Alb hinauf, hätte das Eis ge-
flossen sein müssen.
Das vulcanische Vorries. 125
lo. Das zeitliche Moment: Die Braun -Jura -Schollen müssen zu der-
selben Zeit überschoben sein wie die Weife -Jura- Schollen. Letztere aber
sind im Riese zweifellos bereits vor der obermiocänen Zeit überschoben;
folglich doch auch erstere.
SchluTswort. Diese grofse Zahl von Gründen macht, unseres Er-
achtens y zunächst einmal die Annahme ganz unmöglich, dafe das Eis es
gewesen sein könne, welches die fraglichen Schollen aus dem Rieskessel
auf die Alb geschoben habe.
Wer trotzdem hier Wirkungen glacialer Kräfte erblicken wollte, würde
daher zunächst sich mindestens dahin einschränken müssen, dafe er den
vulcanischen Kräften den ersten, zu tertiärer Zeit erfolgten Transport der
Schollen auf die Alb hinauf überliefee und nun dem Eise nur den weiteren,
zu diluvialer Zeit erfolgten Transport derselben über die Alb dahin zu-
schriebe.
Wir vermögen nicht zu ersehen, ob Koken mit seinen von uns
citirten Worten* jene mehr, oder diese weniger weitgehende Ansicht hat
aussprechen wollen. Indessen auch eine solche beschränktere Einwirkung
glacialer Kräfte würden wir fär völlig ausgeschlossen halten müssen.
Gewife würde eine oben auf der Alb liegende Buchberg -Scholle an
ihrer Oberfläche von einem über sie dahinkriech enden Eise bearbeitet
werden können. Aber dafe das Eis die ganze gewaltige Masse und Last
dieser Scholle bis auf deren Unterlage hin , und gerade genau bis auf diese
hin, in Bewegung gesetzt haben sollte, die ganze Scholle vorwärtsschiebend
und auf solche Weise jetzt erst unter ihr jene Glättung und Schrammung
erzeugend — dazu scheint uns die Kraft dieses Riesgletschers durchaus
unzureichend gewesen zu sein.
Die Lösung des Problemes würde auch in unnöthiger Weise complicirt
werden dadurch , dafe man zwei verschiedene Kräfte in Anspruch nähme,
um diese Scholle zweimal zu bewegen. Es wäre ferner nicht einzusehen,
warum die vulcanische Kraft, wenn sie doch die vom Berge abgleitende
Scholle oben auf die Alb hinauf zu schieben vermochte, nicht auch die
Scholle dort noch etwas weiter habe schieben können. Vor Allem aber
erschiene uns eine Schlufefolgerung nicht möglich, welche dahin ginge:
»So lange die schweren Schollen durch vulcanische Kraft über die Alb
* Siehe S. 107 Anna. i.
126 Branco:
geschoben wurden, konnten unter ihnen die fragliclien Glättungs- und
Schrammungserscheinungen nicht entstehen. Sowie die Schollen aber durch
Eis vorwärts geschoben wurden, erfolgten unter ihnen diese Bildungen«.
Das wäre doch nicht zulässig; denn nicht die schiebende Kraft glättete
und schrammte, sondern die geschobene Masse that das durch ihr Gewicht.
Die Kraft also ist hierbei das Nebensächliche. Hat daher die vulcanische
Kraft die Scholle überhaupt einmal über deren Unterlage dahinbewegt,
so hat sie zugleich auch die pseudoglacialen Wirkungen unter der Scholle
hervorgerufen , die wir unter derselben sehen ; und es wäre nun kein Grund
mehr vorhanden, filr die Entstehung dieser Wirkungen das Eis verantwort-
lich machen zu wollen.
Gegenüber der kürzlich formulirten Auffassung, dafs am
Riese die Druckwirkungen des Eises nun »in einer Weise be-
stätigt sind, die noch über meine früheren Annahmen hinaus-
geht«*, müssen wir daher an der Auffassung festhalten, dafs
die vulcanische Kraft der einzig mögliche Urheber der Über-
schiebung der grofsen Schollen und der dadurch hervorgerufenen
pseudoglacialen Wirkungen im Riesgebiete ist.
Siehe S. 113 und Anmerkung 3.
Das vuicanische Vorries.
Anhftng zu S.53.
Wenngleich die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind, welche
Herr Prof. Haussmann Ober die magnetischen Störungen des Riesgebietes
freundlichst unternommen hatte, so war es demselben doch möglich, uns
noch in letzter Stunde die nachstehende vorlaufige Karte^ der Isoklinen
zukommen zu lassen.
' Die flOchtig skizurte Umgrenzung des Rteskesseb macht keinen Anspruch auf Ge-
nauigkeit; besonders im N. und NW-, wo die Kesseiwsnd mehr oder weniger fehlt, läfsl
sich Qberbaupt eine genaue Grenze nicht angeben.
128 Branco:
Ist der Betrag dieser Störungen auch kein grofser^ so läfet sich aus
dem Verlaufe der Isoklinen doch leicht eine Bestätigung des auf S. 53
Gesagten erkennen. Man mufs sich nur vergegenwärtigen, dafs es sich
im Riese über Tage ja keineswegs um basische , eisenreiche Eruptivgesteine
handelt, sondern um saure, liparitische , die auf den Magneten kaum ab-
lenkend wirken dürften. Diese mögen zunächst in der Tiefe den von uns
angenommenen Laccolith bilden. Erst in größerer Tiefe mag, wenn über-
haupt, basisches Gestein folgen, bezüglich mag letzteres sich nur an ge-
wissen Stellen von dem sauren Magma durch DiflFerenzirung angehäuft haben.
Ist dem so , dann wird leicht erklärlich , warum der Betrag der Störungen
kein grofser ist; denn die Wirkung des eisenreichen Gesteines auf die
Magnetnadel mufs ja eine um so geringere sein, je tiefer es liegt, und
je mehr der Laccolith auch aus saurem Gesteine besteht. Wird ein Laccolith
lediglich durch saure Gesteine gebildet, so wird er den Verlauf der Iso-
klinen überhaupt gar nicht zu beeinflussen brauchen, und trotzdem ist er
vorhanden.
Wenn folglich im Riesgebiete der Betrag der Ablenkung, welche die
Magnetnadel erfahrt, kein grofser ist, so braucht dies keineswegs Hand
in Hand zu gehen mit einer entsprechend geringen Gröfse des Laccolithen,
die Sache kann sich vielmehr gerade imigekehrt verhalten. Dafe aber
überhaupt eine Ablenkung hier vorhanden ist, die sich weder durch se-
dimentäre Eisengesteine noch durch Bruchlinien erklären lä&t, beweist, so
scheint uns, zur Genüge das Vorhandensein des von uns angenommenen
Laccolithen.
^ D. h. es handelt sich nur um einige Minuten, während z. B. die Magneteisenstein-
Massen in Schweden und im südwestlichen Spanien Änderungen der Inclination hervor-
rufen, die sich nach freundlicher Mittheilung des Heirn Haussmann auf 40 Orad und
mehr belaufen.
Das vuloanmhe Vorries. 129
Inhaltsverzeiolmifs.
Einleitung S. 3
I. Anzeichen einer gro&en vulcanischen Gontact - EIxplosion , welche
als mitwirkende Ursache der Breccien- (Gries-) Bildungen und Über-
schiebungen anzusehen ist 8. 5
Vier unterscheidende Merkmale zwischen dem vulcanischen Gebiete von Urach
und den^jenigen des Rieses, daher die Nothwendigkeit, hier wie dort ver-
schiedene Entstehungsursachen anzunehmen S. 6
Abgleiten als Ursache von Überschiebungen. Ardennen , Voralpen , Lombardische
und Venetische Alpen, Appennin, Skandinavien S. 7
Weitere Beispiele für das Entstehen localer senkrechter Aufpressungen, ver-
muthlich durch aufwärts drängenden Schmelzflufs. Adamello, Ostb6hmen,
Niederschlesien, Harz, Tatra. Vulcanische Inseln S. 9
Der Grofsenbetrag der Überschiebungen am Riese, welche wir durch Abgleiten
in Folge von Aufpressung erklärten, beläuft sich auf nur 2 — 6^™ Wegstrecke S. 13
Mitwirkung einer grofsen Contact - Explosion im Vurriese und Riese, welche
die Massen in*s Abgleiten brachte und die Zerschmetterung (Vergriesung)
des Weils-Jura zum Theil mit erzeugte S. 14
Ihre Unabhängigkeit von den kleinen Explosionen der Tuff- und
Schlackeneruptionen S. 16. E. SQfs's Ansicht Qber die EIntstehung des
Rieses durch diese grofse Explosion S. 18.
Gründe, welche die Annahme einer, der Explosion vorhergehenden Aufpressung
nöthig machen S. 19
Nochmals die Frage, ob alte Inselbildung oder ob Aufpressung des
Granites im Riese, unter noch anderen Gesichtspunkten S.21. Zusammen-
fassung S. fi6.
Die grofse Explosion des Bandai San in Japan 1888 als Beispiel ftlr EIntstehung
von Überschiebungen, die binnen wenigen Minuten 9^ weit abfuhren . . S. 27
Solche Überschiebungen, verursacht durch eine grofse vulcanische Ex-
plosion, sind offenbar auch an anderen Orten vorgekommen, nur sehr
schwer erkennbar, da hier meistens vulcanisches Gestein ununterscheidbar
auf vulcanischem liegt S. 30. Erfahrungen bei künstlichen Explosionen S. 32.
Die Herkunft der Gase. Die Gase vulcanischer Explosionen können dem Magma
entstammen, dann liegt eine echte vulcanische Explosion vor. Sie können
durch plötzliche Verwandlung unterirdischer Wassermassen in Dampf ent-
PhyM.Ahh. 1902. I. 17
130 Branco:
stehen, dann liegt nur eine Contactersch einung, eine unechte vulcanische
Explosion vor S. 33
Zwei andere Erklärungsversuche, durch welche man die Breccienbildungen, Über-
schiebungen und Aufpressungen zurückfuhren könnte: Auf den horizontalen
Druck der südlich der Donaulinie absinkenden Gebirgsscholle gegen die nörd-
lich dieser Linie stehen bleibende. Eine solche Lösung erweist sich als nicht
durchführbar S. 36
Auch auf Erderschütterungen liefse sich die Vergriesung nicht zurück-
fuhren S. 40.
n. Das Vorries S. 42
A. Einleitung.
Lage und Name. Berechtigung des Ausdruckes »Vorries« gegenüber von
von Gümbers »Qürtelzone« S. 42. Selbständigkeit des Gebietes S. 42. Bau
des Vorrieses S. 43. Abwechselndes Auftreten der liparitischen Tuffe und der
granitischen Explosionsproducte S. 44. Breccien- Bildungen S. 45.
B. Eruptions- und Explosionsprodncte.
I. Allgemeines.
a) Fester Liparit im Riese S. 45
b) Liparitische Eruptionen S. 46
c) Granitische Explosionsprodncte S. 47
Erläuterung dieser Bezeichnung S. 47. Ist ihre Grundmasse lipari-
tischer Tuff oder nur zerriebenes altkrystallinisches Gestein? S. 47. Als
Reibungsbreccie kann man die granitischen Explosionsproducte nicht
deuten S. 48.
Frage der Inselbildung der Granitmassen im Vorriese.
Als ursprünglich inselformige Emporragung kann man die granitischen
fassen auch hier nicht ansehen S. 49. Sie müssen durch Au^ressung
in den Weifs-Jura gelangt sein S. 49. Gründe, welche das schwer
Begreifliche einer Aufpressung mildern 8.50. Haussmann's Karte der
magnetischen Störungen im Riese und Vorriese spricht für das Vor-
handensein eines eisenreichen Eruptivgesteines in der Tiefe S. 53 u. 127.
Magnetische Störungen im vulcanischen Kaiserstuhlgebirge S. 54.
3. Specieiles.
a) Einheitlicher funzerblasener) Granit im Riese S. 55
T. Wenneberg S. 55. 2. Lierheim S. 56.
b) Granitische Explosionsproducte im einheitlichen Granite. . S. 57
Am Keller bei Balgheim S. 57.
c) Granitische Explosionsproducte in Verbindung mit lipariti-
schem Tuffe S. 57
Kirchberg bei Schmäbingen S. 57.
d) Granitische Explosionsproducte im Vorrieae S. 58
I. Unter -Bissingen S. 59. a. Stillnau S. 59. 3. Rohrbach S. 61.
4. Sulzdorf S. 62. 5. Itzingen S. 62.
Das vtäcanische Vorries, 131
3. Alteraverhältnisse.
Die grofse Explosion und die kleinen Explosionen dei* lipariiischen
Tuffe scheinen zwei sachlich und zeitlich getrennte Elreignisse zu sein S. 64.
Buchberg -Gerolle liegen im lipari tischen Tuffe und im mittelmiocanen
marinen Sande y sind also älter als diese beiden S. 65. Künstliche Auf-
schlüsse zur Feststellung des genauen Alters S. 67.
in. Gegenwärtiger Grad der Übereinstimmung der beiderseitigen Er-
klärungsversuche der Riesphänomene S. 70
Erklärendes S. 70
A. Übereinstimmendes der beiderseitigen Anschauungen.
1. Starke Erosion vor Beginn der Riesbildung S. 71
2. Die Annahme der Aufpressung, dann des Einsturzes S. 72
3. Der Vorgang der Aufpressung war ein langsamer, kein plötzlicher S. 72
4. Der Einsturz bez. das Absinken dauerten längere Zeit an S. 73
5. Das Vorries, ein selbständiges Aufbruchsgebiet S. 74
6. Explosionen haben eine grofse Rolle gespielt S. 74
7. Die Braun -Jura -Scholle des Buchberges überlagert den Weifs-Jura S. 75
8. Im Riesgebiete existiren Überschiebungen; sie waren die Folge der Aufpressung
und Explosion; der Riesboden ward stark zertrümmert und seine Schollen
dislocirt S. 75
9. Die Breccien (Griese) der Weifs-Jura- Kalke oben auf der Alb sind meist anstehend,
nicht überschoben S. 77
B. Punkte mangelnder Übereinstimmung der beiderseitigen
Anschauungen.
1. Die Buchberg -Gerolle. Herkunft, Alter, Ursache ihrer Kritzung. Ubereinstimmung
herrscht nur darin, dafs beide Theile sie als eine ursprünglich im Wasser ge-
bildete Ablagerung ansehen S. 78; sie haben schon zu mittelmiocäner Zeit
exLstirt S. 79; ihre Kritzung entstand durch den Druck der über sie hinweg-
geschobenen Massen S. 80
2. Die Beiburg am Buchberge; wir erklären sie für eine Klippe, also überschoben,
Koken als normal gelagert S. 8H
3. Sind gewisse EIrscheinungen im Riese durch glaciale Kräfte hervorgerufen? Die
vermeintliche »Grundmorane« an der Papierfabrik bä Bopfingen S. 84; das
Conglomerat im Wdrnitzthale, dessen Gerolle sämmtlich zerprefst und gekritzt
sind S. 85; die pseudoglacialen Viehschliffe im Wömitzthale S. 89; die SchlifT-
fläche im Wömitzthale; sie hat auch auf ihrer Unterseite eine Rutschfläche
8. 89; die steil einfallende Schlifffläche im Weifs-Jura bei Wemding . . . . S. 89
4. Sind die überschobenen Massen vom Buchberg, von Hertsfeldhaasen und vom
•Lauchheimer Tunnel gleichwerthig? S. 90
IV. Die Lauch heimer -Breccie S. 91
Allgemeines S. 91. Das Profil nach unseren Schürfungen S. 92
132 Bbanco: Das vulcanische Vorries.
Die Unterlage der Lauchheimer Breccie, die Buchberg -G^erSlle; ihre Oberfllche
ist ganz ebenso abgeschliffen wie die des Weifs-Jura S. 92; Folgerungen aus
dem Profile; es handelt sich um pseudoglaciale Erscheinungen S. 95
Die Lauchheimer Breccie selbst, ihre Tertiär* Gesteine S. 96
Vergleichung der Lauchheimer Breccie mit der Bunten Breccie, Definition der
letzteren S. 99; Vergleich mit anderen Qberschobenen Schollen .... S. 101
Welche Kraft fiberschob die Schollen? S. 104
Die Hohlspiegel -Structur (Sauer) der Lauchhdmer Breccie ist ein Beweis gegen
den Transportals Grundmoräne S. 105;Koken's eigene Ansichten gegen einen
glacialen Transport der Schollen von Buchburg und von Hertsfeldhausen . S. 107
Zusammenfassung S. 108
V. Die gro&en Massen Bunter Breccie nördlich von Donauwörth
auf der Alb und die Frage ihrer Herkunft 8. 109
VI. Weitere Beweisgründe allgemeiner Natur gegen einen glacialen
Transport der grofsen überschobenen Schollen S. 113
Auf dem Boden des Rieskessels fehlen Glättung, Schrammung und Grund-
moräne S. 113
Auf der Alb fehlen die grofsen Massen von Tertiär- Gesteinen aus dem Riese,
welche vor allen anderen dui*ch das Eis auf die Alb hinaufgeschoben sein
müfsten S. 114
Ein den Rieskessel erftillender Gletscher würde durch die breite nördliche Scharte
der Wand des Rieskessels mit seiner Gesteinslast nach Norden geflossen sein
müssen, nicht aber auf die Alb hinauf S. 117
Das zeitliche Moment als schwerwiegender Grund gegen glacialen Transport S. 118
Ein Hesseiberg. Gletscher? S. 119
Dimensionen zusammenhängender Schollen , die durch das grofse diluviale Inland-
eis verfrachtet worden sind S. 120
Eine allgemeinere Vergletscherung der Alb? S. 123
Zusanunenfassung S. 124
Schlufswort S. 125
Anhang zu S. 53: Magnetische Störungen S. 127
An^^MMumiiei) von W. von Kn«bel.
Branoo: Das voloaniaehe Vorries n
PHILOSOPHISCHE UND HISTORISCHE
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
AUS DEM JAHRE
1902.
MIT 5 TAFELN.
BERLIN 1902.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
GEDBUCKT IN DEB REICHSDRUCKEREI.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER,
n
Inhalt
Conze: Kleinfunde aus Pergamon. (Mit 5 Tafeln) Abh. I. S. 1—28.
Die Kleinfunde aus Pergamon.
\'on
H"' ALEXANDER CONZE,
PhitiM.-histfir.AbA. 1{H)'J. I.
Gelesen in der Sitzung der phil.-hist. Classe am 13. November 1902
[Sitzungsberichte St. XLV, S. 1051].
Zum Druck eingereicht am 4. Februar, ausgegeben am 6. März 1903.
Als Ernst Curtius vor dreifsig Jahren der Akademie seine und seiner
Genossen Beiträge zur Geschichte und Topographie Kleinasiens vorlegte,
suchte er bereits mit seinem immer in's Weite gerichteten Blicke die Stadt
Pergamon als ein Ganzes zu erfassen. Dazu boten damals vornehmlich
Texier's Asie mineure und eigene rasche Recognoscirung an Ort und Stelle
die Grundlage. Neben den Überresten der Architektur, der Sculptur und
der Inschriften , welche seither das Interesse so gut wie ausschliefslich auf
sich gezogen haben, erwähnte Curtius schon damals »plastische Thon-
arbeiten , Formen sowohl wie Reliefs , zum Theil von grofser Schönheit und
um so beachtenswerther, da Pergamon gerade für diesen Zweig antiker
Kunstindustrie besonderen Ruf hatte«. Mit den Reliefs können der Haupt-
sache nach nur mit Relief geschmückte Vasenscherben gemeint gewesen sein,
von denen, wie von Thonformen und einigen Figürchen Carl Humann
gelegentlich aufgesammelte Proben schon vor Beginn der Ausgrabungen
als aus Pergamon stammend in die Königlichen Museen lieferte.* Mehr
^ Die als aus Pergamon stammend vor Beginn der Ausgrabungen von Humann den
Königlichen Museen geschenkten Fundstucke aus gebranntem Thon sind im Inventar des
Antiquariums verzeichnet unter den Nummern 6268 — 6271, 6276, 6277, 6290, 6560 — 6586,
6588 — 6614. Dazu kommen die Nummern 6699 — 6713, mit gleicher Herkunftsangabe durch
Gustav Hirschfeld im Jahre 1874 erworben, und die Nummern 7635, 7695 und 7696,
welche als angeblich pergamenischen Fundorts in Athen erworben wurden. Zu den letzteren
gehört (Inv. Nr. 7635) die bei Ray et, Monuments de T ort anüque II, Taf.43 publicirte Figur
eines Schauspielei*s ; 7695 ist die Figur eines liegenden Kriegers, 7696 die Gruppe zweier
Kämpfer. Noch unsicherei* als die Herkunft dieser drei Stucke ist nach Ray et 's eigener
Meinung die der •irais hateleurs^y welche er II, Taf. 45, als vielleicht aus Pergamon stammend,
publicirt.
Unter den von Humann und Hirsch feld herrührenden Stücken befinden sich
10 Reste von Terracottafigürchen , namentlich 6699: Torso einer stehenden, weichlich
jugendlich -männlichen Figur, nackt bis auf ein umgeworfenes Oewand, mit Ansatzspuren
4 Conze:
davon und von Einzelfunden aller Art haben dann die Ausgrabungen zu
Tage gefördert. Die Aufmerksamkeit auf solchen Kleinkram konnte bei
der Ausgrabung im ersten Rausche der überwältigenden Entdeckungen
namentlich der Altarsculpturen wohl niclit voll zur Geltung kommen. Je*
unbeirrter aber auf das Ganze gerichtet in den Jahren 1877 bis 1886 die
Untersuchung sich gestaltete und verfeinerte, desto mehr und zuletzt in
vollem Mafse fanden auch die Kleinfunde Beachtung. In einer Menge von
Kisten und Kasten gelangte alles Derartige auch in die Königlichen Museen,
wo aber wiederum die Bearbeitung zunächst nothwendigerweise mit Auf-
bietung aller Kräfte den Denkmälern der grofsen Kunst sich zuwandte.
Erst als man damit jüngst bis zur Reconstruction und Aufstellung im
Pergamon- Museum gediehen war, kam die Reihe auch an die unschein-
baren Kleinfunde. Sie mufsten fiir die Benutzung zur Herausgabe des
ersten Bandes der »Altertlmmer von Pergamon« an's Licht gezogen werden.
Seit etwa einem halben Jahre habe ich sie ausgepackt, geordnet imd
studirt, wobei ich mich besonders der sachkundigen Beihülfe der HH.
Pernice und Zahn zu ei-freuen hatte. Von dem Gewonnenen machte
ich in der Akademie einige Mittheilungen am 10. April und am 13. Novem-
ber 1902. Es erschien danach angezeigt, schon vor der Veröffentlichung
im ersten Bande der »Alterthümer von Pergamon« den Fachgenossen mit
einer vorläufigen Nachricht eine Vorstellung davon zu geben, was von den
Kleinfunden in Pergamon zu erwarten ist. Dazu ist diese Abhandlung
bestimmt. Wir danken es der Verwaltung der Königlichen Museen, daCs
sie gestattete, eine kleine Auswahl der auf ihre Kosten hergestellten Ab-
von Flügeln auf den Schultern. Die anderen sind unbedeutender, ein Negerkopf (6708),
Silenskopfe (6290, 50. 6709), Kopf einer Alten (6290, 37) u. A.. Unter 19 Nummern sind
Seherben von sogenannten megarischen Bechern, zwei Exemplare verschiedener Grofse eines
GefafsgrifTes mit einer Poseidonfigur in Relief, eine komische Maske zum Aufhängen, ein
fliegender Vogel mit einem Loche zum Befestigen auf einem Hintergrunde, und noch weniger
bedeutende andere Dinge.
17 Lampen sind sämmtlich aus römischer Zeit, meist mit den kleinen Relief bildern
im mittleren Rund obenauf; nur eine sehr kleine Lampe in Gesichtsform (6290, 26) stammt
aus vorrömischer Zeit. Auch zwei Formen und vier Modelle für Lampen gehören in
römische Zeit.
S«hr zahlreich, 34 Nummern, sindTerracottaformen für Rundfiguren und für Reliefgebilde,
darunter einige wenige, die, wie auch zwei zugehörige Köpfe, schwerlich rein antik sind.
EinTerracottarelief, Asklepios darstellend, ist bei Furtwangler, Sammlung Saburoff 1
zu Taf. XXIV, als aus Pergamon stammend, publicirt, ohne Angabe, wo es sich befindet.
Die Kleinfunde aus Pergamon. 5
bildungen» welche vollständig erst in den »Alterthümern von Pergamon«
erscheinen sollen, schon hier zur Veranschaulichung beizugeben.
So unscheinbar die Dinge sind, von denen damit hier die Rede sein
soll, so reich vervollständigt wird durch sie unsere Kenntnifs des Stadt-
ganzen von Pergamon, des Lebens, das sich in ihm einst bewegte. Zu
den gro£sen Zügen, in denen das Wirken der Könige imd anderer her-
vorragender Mächte seine Geschichte in Bau-, Bild- und Schriftwerken
von Stein und, leider allzu stark gelichtet, in Metall bis zu einem ge-
wissen Grade bleibend verkörpert haben, treten in den geringeren Fimd-
stücken die Spuren des Kleinlebens des Volkes uns vor Augen, ausge-
prägt mit dem Stempel einer Kunst, die in einem grofsen Culturmittel-
punkte gestaltend bis in das Einzelnste mid Alltägliche hinein wirkte. In
ihrer grofsen Menge füllen die Kleinfunde einen einheitlich zusammen-
hängenden und deshalb besonders beachtenswerthen Ausschnitt der Kunst-
leistung, vornehmlich der hellenistischen Epoche, dessen Gewinn eines der
Hauptergebnisse unserer Arbeiten in Pergamon ist. Dafs sie in ihrer topo-
graphischen Gruppirung einen werthvoUen Beitrag zur Bewohnungsgeschichte
der verschiedenen Stadttheile geben, kann erst im Zusammenhange mit der
Architektur in den »Alterthümern von Pergamon« voll ausgefiihrt werden.
Die hier berücksichtigten Fundstücke rühren so gut wie ausschliefs-
lich aus den Ausgrabungen der Königlichen Museen bis zum Jahre 1886
her, ohne Zuziehung von Funden der jüngsten Ausgrabungen des Archäo-
logischen Instituts. Über letztere ist in den Athenischen Mittheilungen des
Instituts 1902, S. 152 ff., eine vorläufige summarische Nachricht gegeben.
Der Fundort des hier Besprochenen ist also mit verhältnifsmäfsig wenigen
Ausnahmen, die nicht immer festzustellen sind, der oberste Theil des
Stadtberges bis herab zum oberen Markte.
Ordnen wir dem verarbeiteten Materiale nach, so tritt Stein, tritt
Marmor unter den Kleinfunden zurück gegen Metall und Thon, und wir
lassen die Marmorarbeiten kleinen Mafsstabes um so mehr aus dem Spiele,
als eine Abgrenzung nach der Gröfse unter den in dieser Beziehung so
verschiedenartigen Werken nicht wohl zu finden ist.
Von Arbeiten aus Stein mögen übrigens, fast nur als Curiosität, zwei
kleine Keih*, der eine halb abgebrochen, und ein messerförmig bearbeiteter
Feuersteinsplitter erwähnt werden, versprengte Reste primitiver Technik.
Die beiden erstgenannten Stücke bestehen nach der Untersuchung Hm.
6 Conze:
Klein's aus deijenigen Augitvarietät, die man als Jadeit, bez. Ghloro*
inelanit bezeichnet. Aus guter Zeit dagegen stammt ein kleines Gerith,
eine jetzt vom abgebrochene Spitze an-
scheinend von Achat, feinst geglättet,
in einer zum Au&tecken auf einen
Stiel hohlen Bronzehfllse, beistehend
abgebildet. Es scheint ein Instrument
ziun Glätten zu sein, dergleichen noch
heute zum Poliren in verschiedener Art in Verwendung sind.
Überreich war Fergamon an Arbeiten aus Metall. Von der Menge
statuarischer Werke aus Bi-oiize zeugen leider meistens nur die Einsate-
spuren in erhaltenen Marmorbasen, sonst eine Anzahl abgebrochener Stücke,
das Ansehnlichste darunter der Untertheil des Rundbildes eines nackten,
mit geschlossenen Fülsen stehenden Knaben, gefunden im Schutte des
Theaters, also wohl aus dem Athenaheiligthume stammend. Von kleineren
figürlichen Darstellungen ist fast nur der »Satyr
y' ,__^ von Pergamon» zu nennen, den Furtwängler
im 40.BerlinerWiDckehnanns-Programme (1880)
herausgegeben hat. Mehr, aber auch im Verhält-
nisse zum Verlorenen wenig genug, ist von den
Metallzuthaten der Bauwerke gerettet, Bronze-
dübel mit ihren Hülsen aus Bronze, ein zier-
liches Beschlagstück, wie es scheint von einer
Basis, in den »Palästen« geftinden, dann viele
kleinere Beschlagstöcke, Nägel und Buckel aus
Bronze, die beistehend abgebildete Hälfte eines
konnthischen Kapitells aus Bronzeblech, an-
scheinend Theil des Beschlages von der Ecke
eines Geräthes. Ferner wiederum in den »Pv
lasten* geftinden sind ziemlich zahlreiche, derb
gearbeitete Bruchstücke von Ehrenkränzen. Sie
sind aus vergoldeter Bronze , Eichen-, Epheu-, Wein-, Jjorbeerkränze, letztere
mit Beeren aus weU'ser Masse. Ein besonderes Stück soll hier heraus-
gehoben werden, um es vielleicht dem vollen Verst&ndnisse von berufener
Seite zuzuführen.'
Vergl. Gevaert, llistoire et TiSorie de la tnun^u« de l'imtiipätd II, S. ajoS,. 645^..
Die Kiemfunde aus Pergamon, 7
Es ist das plastische Abbild einer Flöte, aus jetzt grün patinirter
Bronze massiv gegossen. Es wurde, lose im Erdreich liegend, in der
Gegend des oberen Nord west-Thores der Eumenischen Stadtmauer gefunden.
Es ist vollständig bis auf das abgebrochene und verlorene, wahrscheinlich
nur kleine Ende des, wie mir scheint, Mundstücks. Keinerlei Ansatzspur an
dem Erhaltenen fuhrt darauf, es etwa in der Hand einer statuarischen Figur
zu denken. Es kann dann kaum etwas Anderes als ein Weihgeschenk
gewesen sein. Darauf, mehr als auf Zugehörigkeit zu einem gröfseren
plastischen Werke, fuhrt auch die gleichmäfsig rundum vollendete Aus-
fuhrung.
Die Abbildung auf Taf. i zeigt es von drei Seiten und läfst so alle
Einzelheiten erkennen.
Das Ganze mifst 0T46 in der Länge, im Durchmesser, gleichmäfsig
in der ganzen Länge, etwa 0T02, an der unteren Mündung zu o"o24 sich
erweiternd. Es scheint ein Abbild in Naturgröfse.
Dem abgebrochenen Ende, wie ich also annehme, dem Mundstücke
zu, sind drei offene Löcher in ziemlich gleichem Abstände von einander
angegeben (in der Abbildung a, ß^ 7), diese wohl zum Spiele mit den
Fingern bestimmt. Sonst sind nur noch zwei Löcher, eines davon wsicht-
bar, anzunehmen, wenn ich recht verstehe, jedes durch einen Schieber,
der schwerlich während des Spiels bewegt werden konnte, zu öffnen oder
zu schliefsen, also wohl zu einer Änderung der Tonart während eines
ganzen Musikabschnittes bestimmt. Solcher Schieber sind drei vorhanden
(in der Abbildung am oberen Ende mit i, 2, 3 bezeichnet). Jeder der-
selben läuft unter einem den ganzen Umfang des Körpers der Flöte um-
fassenden Bande durch, wird von ihm gehalten, der Schieber i und der
Schieber 3 beide von demselben Banden:, der Schieber 2 von dem Bande y.
Aufserdem ist noch ein drittes Band (z) vorhanden, das aber keinen der
Schieber umfafst, von einer Seite her unter die Schieber 2 und 3 ver-
läuft, zwischen diesen beiden Schiebern aber nicht ganz ausgeführt ist.
Die drei Schieber, deren Griffe frei über den Bändern y und z liegen,
konnten anscheinend nur, und deshalb habe ich sie so genaimt, unter dem
sie ihrer ganzen Länge nach am Körper der Flöte festhaltenden Bändern
nach oben und nach unten geschoben werden. Das scheint auch seinem
Zwecke nach verständlich bei i und 3. Diese beiden haben nicht nur,
wie auch 2, an ihrem oberen Ende, was ich für einen Griff, eine Führung
8 ('onze:
ansehe , sondern aucli an ihrem unteren Ende eine oblonge , aber gewölbt
an den Körper der Flöte sich eng anlegende Platte (a, b). Die Platte b
ISfst bei 3, das hoch hinaufgezogen ist, das schon erwähnte eine Loch {S)
offen, während die Platte a bei i, das hinuntergeschoben ist, ein solches,
daher nicht sichtbares Loch verschliefsen wird. Merkwürdig ist, dais dem
dritten Schieber 2 eine solche Schlielsplatte am unteren Ende völlig fehlt,
auch kein I^och hier angegeben ist, so dals die Herrichtung an dieser
Stelle mir unverständlich bleibt. Ich glaube nicht, dafs man mit Ungenauig-
keiten der Darstellung, um solche Schwierigkeiten zu beseitigen , wird
rechnen dürfen. Es scheint Alles an dem kleinen Werke mit Verständnifs
gemacht zu sein, die Entstehung möchte
ich auch noch in die Königszeit setzen.
Arbeiten aus Gold und Silber haben
sich, man kann sagen, gar nicht gerettet;
ganz Winziges verdient die Erwähnung
nicht. Nicht aus Pergamon selbst, aber in
der Hafenstadt Elaia gefiinden, kam ein in
dünnem Silberblecli getriebenes Emblem
einer Schale in unsere Hände, beistehend
abgebildet. Es mifst ol'oss imDurchmesser.
Es zeigt wohl erhalten einen männlichen
Portraitkopf aus der ersten römischen
Kaiserzeit, anscheinend mit keiner bekannten Persönlichkeit zu identificiren.
Münzen wurden in ziemlich grofser Zahl bei den Ausgrabungen auf-
gelesen, aber so gut wie keine aus Edelmetall, nur Kupferkleingeld der
Königs- und frühen römi-schen Zeit, Gepräge der Kaiser-, der byzantinischen
und otttjmanischen Zeiten, meist schlechter Erhaltung. Das bleibt der
numismatischen Behandlung vorbehalten.
Von Eisen kamen Waffenreste, Speer- und Pfeilspitzen, Beschlägtheile
von grofsen Holzconstructionen zum Vorschein , und eiserne Nägel konnten
nicht fehlen.
Das bei der Ausbeutung der Kuinen besonders viel begehrte Blei ist
hier und da als Vergul's von Dübeln und Klammern erhalten, sonst nur
in wenigen, verschwindend geringtügigen Stückchen.
Von Arbeiten aus Knochen ist nichts Nennenswerthes gefunden, auch
von geschnittenen Steinen nur ganz unbedeutende Exemplare. Von
Die Kleinfunde! aus Pergamon. 9
Glas fehlen Bruchstücke von sogenanntem Milleflori nicht; von erheblichem
Interesse ist aber der kleine Überrest einer reichen Arbeit aus buntem
Glasflufe.
Es ist das am oberen und unteren Ende abgebrochene, danach jefcit
o"05 hohe Stück einer unten o"033, oben o"03 breiten, ol'oi i, das Relief
ungerechnet, dicken Platte; beide Breitseiten sind mit Darstellung in Relief
versehen, beide schmalen Seitenflächen im Querschnitte leicht concav
zwischen flachen Rändern. Der Bruch am unteren Ende geht in voller
Masse durch, im oberen Bruche liegt ein bis oTooy tiefes, etwa oTii
langes und o'!'oo3 breites Loch, wie ein winziges Dübel- oder Zapfenloch,
zum Eingreifen einer Verbin-
dung mit einem anderen Theile
eines Ganzen.
Die Platte besteht aus
ultramarin -blauem Glnsflusse,
die Reliofbilder auf den beiden
Breitseiten sind beistehend im
Umrifs wiedergegeben,
Einoi-seits erscheint nacli
der rechten Seittr hin ein in
der ganzen Höhe des Frag-
ments aufragender knorriger
Baumstamm, wie etwa einer
Platane, in braunem Glasflusse, An seinem unteren Ende, anscheinend ihn
da verdeckend, scheint eine menschliche Figur dargestellt zu sein, diese in
gelblichem Glasflusse; nur die Gesammtform eines Kopfes und sonst un-
förmlich zerstörte Masse sind erhalten; nach dem linken Rande hin gerückt,
hoch oben, steht ein bauchiges, anscheinend zweihenkeliges GefSfs in blauer
Masse auf einer jetzt weggebroclienen Säule; diese scheint nach am Unmde
haftenden Resten liellfarbig gewesen zu sein.
Auf der anderen Breitseite steht nach rechts hin gerückt wieder
ein in ganzer Höhe des Fragments aufgehender knorriger Baumstamm,
aus braunem Glasflüsse. Links von ihm eine mit der ÖiFnung ihm zu-
gekehrte, nach oben spitz zugehende Hütte von aufrecht gestellten, durcli
Querbänder zusammengelialtenen Stäben, etwa Rohr, alles aus gelbem
Glasflusse.
IMog.-hüUfr.AhL 1902. I. 2
'/. V.
10 (' o N z K :
Die RelieftJieile sind beiderseits nicht auf eine ^anz ebene Fläelie des
blauen Grundes aufgesetzt, den Formen des Reliefbildes entsprechend ist
dieser vielmehr leicht eingetieft.
Die Darstellungen beiderseits haben augenfällig den Charakter der in
letzter Zeit vorwiegend als alexandrinischen Ursprungs angesehenen land-
schaftlichen Reliefbilder . ^ Der kleine Rest setzt ein sehr reiches Ganzes,
dem er angehörte, voraus, gewifs aus der Königszeit von Pergamon.
Der Anzahl der Reste nach überwiegen unter den pergamenischen
Kleinfunden die der Arbeiten aus gebranntem Thon, diese bei aller
Zerbrechlichkeit doch in ihren Stücken deshalb unverwüstlichsten Manu-
facte, weil ihr Material der Wiederverwendung zu neuen Zwecken, dieser
Hauptursache aller Zerstörung, sicli durchaus widersetzt und auch der Ein-
wirkung der Verwitterung in hohem Mafse widersteht. Von diesen von
der Forschung erst in unseren Tagen recht voll in ihrem wissenschaftlichen
** **
Werthe erkannten unscheinbaren Uberresten soll hier im Überblicke die
Rede sein. Wir haben es dabei mit einer Summe von Erscheinungen zu
thun, welclie dem Archäologen so ziemlicli alle nicht neu sind. Dennoch
scheint es nützlich, sie eigens zu verzeichnen, da sie durch das Vorkommen
in einem Zusammenliange, und zwar gerade an einem besonders bedeutenden
Mittelpunkte der Cultur und der Technik, sicli zusammenschliefsen, auch
der Zeit nach durch die in den grofsen Zügen anderweitig gesicherte Ge-
schichte des Fundplatzes oft besser als sonstwo bestimmbar sind und so
* Zu der natnentlich von Schreiber vertretenen Herleitimg von Formen der helle-
nistischen Kunst aus Alexandria, das ja gewifs einen sehr grofsen Antheil an der Schaffunj;
der neuen Formenwelt hatte, mag hier eine Einzelheit beigebracht werden. Aufse.r zwei schon
früher gefundenen ist ein Exemplar eines Henkels mit «Schnabel ausätzen« bei
den Ausgrabungen im Jahre 1901 in Pergamon am Westabhange des obei'en
Stadtberges zum \'orschein gekommen, jetzt im Marktnuiseum dort. Es ist aus
gebranntem Thon mit dunkler Glasur, auf der Oberlläche der Rest einer ein-
geritzten Inschrift, das Ganze beistehend verkleinert in Oberansicht abgebildet.
Eine im Berliner Museum ausgestellte Bronzeschale mit einem solchen Griffe,
aus Piiene, ist ein weiteres Beispiel des Vorkommens dieses Motivs auch in
Kleinasien. Das steht der Theorie Schrei her 's (Alexandrinische Toreutik.
Leipziger Abhandlungen Xl\', S. 273 ff.) durchaus nicht im Wege, nach welcher
die Erfindung dieser besonderen Form für Alexandria in Anspruch genommen
wird, wenn die These im übrigen als begründet gelten darf. Dafs aber die in Ägypten
gefundenen Gufsformen dieser Griffform mehr als die dort, wie auch gewifs anderwärts,
erfolgte Anfertigung, dafs sie den Urs])rung des Motivs in Alexandria zu beweisen hinreichen,
erscheint mir zweifelhaft.
Dif fCleinfunde atis Pergamon.
11
y2:
^^
einen festen Punkt bei vergleichenden Studien in weiterem Umfange zu
bieten sich eignen. Diesen vergleichenden Studien selbst dabei nachzu-
gehen ist aber nicht die Absicht. Bei solcher Entsagung mag bei mir
persönlich aufser dem Bewufstsein mangelnden hinreichenden Überblicks
über alles vorhandene Material auch eine seit Langem wachsende Neigung
im Spiele zu sein, die Thatsachen lieber durch sauber geordnete Vorlagen
allmählich, wie von selbst, in den richtigen Zusammenhang rücken zu
lassen, als die Herstellung von Zusammen-
hängen mit Anstrengung, nur zu oft vor der
Zeit, erzwingen zu wollen.
Die Arbeiten aus gebranntem Thon also.
Wir dürfen erwarten , unter den in Pergamon
geftmdenen Resten der Art vorwiegend Er-
zeugnisse einheimischer Arbeit zu finden.
Dafs Pergamon auch für diese Technik ein
grofser Fabrikort war, beweisen die unter den
Fundstücken nicht seltenen Thonformen.
Dergleichen gelangten , wie Eingangs erwähnt,
schon vor Beginn unserer Ausgrabungen in
die Berliner Museen, und bei den Ausgra-
bungen wurden noch acht Exemplare ge-
funden. Aufserdem befinden sich TeiTacotta-
formen aus Pergamon namentlich auch im
Nationalmuseum zu Athen , aus der Sammlung
der archäologischen Gesellschaft stammend.
Ich entnehme diese Kenntnifs einer Aufeeichnung des Hrn. Ernst Pfuhl.^
Zu den Kleinfunden aus gebranntem Thon, welche die Ausgrabungen
geliefert haben, sind Bruchstücke von senkrecht aufgerichteten Simen als
Theile grofsen Bauwerks, genau genommen, nicht zu rechnen. Doch mögen
sie hier erwähnt werden, um zum Vergleiche mit verwandten alterthüm-
' Die Stiicke haben im Inventar von Kumanudis die Nummern 85 — 107, während sie
im Museumsinventar zwischen anderen Formen verstreut sind. Die unbedeutenden Stucke
l^umanudis 94, 96, 102, 103 sind im Museum nicht inventarisirt und nicht aufzufinden. Ich
führe hier nur die Nummern auf: Inv. 9816 (97). 9826 (86). 9832 (95). 9838 (91). 9870 (85).
9879(104). 9892(107). 9903(101). 9917(106). 9931(93). 9934(99). 9937(87). 9942(98).
9945(89)- 9946(100). 9954(92). 9971(105). 9976(88). 9979(104). 9987(90). Den genauen
Fundplatz dieser Exemplare kenneu wir nicht.
2*
12 Conze:
liehen Stücken einzuladen, wie sie z. B. unter den Funden der Körte 'sehen
Ausgrabungen zu Gordion vorkommen. Eines der im Ganzen vier vor-
handenen Stücke gebe ich auch umstehend in Abbildung. Zu oberst ist
der aufrechtstehende Theil, darunter die Ansicht der Unterseite gegeben.
Das Hauptornament des aufreclitstehenden Theils ist in Relief ausgeffihrt
mit Resten rother (einfach schraffirt in der Abbildung) und blauer (kreuz-
weise schraffirt) Bemalung. Die Rhomben am unteren Rande und die
Palmetten auf der Unterseite sind braun, nur gemalt.
Dafs es in Pergamon von dem, was wir vorzugsweise Terracotten zu
nennen pflegen, von Rundfigürchen aus gebranntem Thon wimmelte,
ist sicher, wenn auch nicht viel Erhebliches davon unter unseren Funden
ist, ganze Figuren sehr wenige. Ich nenne einen Schauspieler, eine betende
Frau, eine Frau mit einer Traube in der einen Hand, eine Frauenfigur in
spielend archaisirender Form, eine Hüftenherme, ähnlich einem Priapos, und
eine andere, jugendlich männliche, einen dicken Mann mit Schurz, der an-
scheinend ein Thier über den Schultern hält, eine Frau mit einem Kinde
an der Brust , einen hockenden Jungen mit spitzer Mütze , und dann Puppen,
nackt, weiblich, mit den auch von Pottier und Reinach (Necropole de
Myrina zu Taf. II, 2. 5) bemerkten ^enormes chaussures^, d. h. hohen Unter-
sätzen, mit einem senkrechten Einschnitte vorn, unter den Füfsen — ob
sie dienten, die Figürchen irgendwie damit einzidassen und zinm Stehen
zu bringen? — Unter den kleineren Bruchstücken sind Reste von Flügeln,
sichtlich von beflügelten menschlichen Figuren, nicht selten. Einige caricirte
Bildungen fehlen auch nicht, dann weibliche Köpfe mit den sogenannten
Melonenfrisuren , Kinderköpfe mit der Scheitelflechte , alles aus der Formen-
welt der hellenistischen Zeit. — Also so wenig Ganzes oder als Ganzes
halbwegs zu Erkennendes , aber Brocken in grofser Menge. Wir haben ja
bisher in Pergamon kaum noch die Ruhe der Todten gestört , deren Gräber
dergleichen unversehrter bewahren. Was in den Wohnräumen der Hoch-
stadt in hellenistischer Zeit an Thonfigürchen vorhanden war, das konnte
bei der einigermafsen fortgesetzten Wiederbenutzung der Wohnplätze nicht
unversehrt bleiben. Die ungezählten Mengen von Bruchstücken, die wir
in meist vergeblicher Hoffnung, sie wieder zusammensetzen zu können, in
die Berliner Museen gebracht haben, sind auch in ihrer Oberfläche arg
mitgenommen. Von Bemalung sind verschwindend geringe Spuren von
blauer Farbe, häufiger ein rosenrother Überzug des Ganzen noch zu be-
Die Kkmfunde aus Ptrgamon. 13
merken. Der Stil der Formen ist, so weit das zu erkennen ist, dem der
Tcrracotta aus Myrina verwandt.
Von dem besonders verbreiteten Hausger&tlie der Thonlampen —
nur eine einzelne, einfacli geformte ans Bronze ist da — wurde eine
immerhin ziemlicb reichhaltige Anzahl gefunden. In ihnen tritt der Unter-
schied des freien Künstlerischen und des mechanisch Fabrikartigen der
hellenistischen und der römischen Periode mit äufserster Eindringlichkeit
vor Augen. Es ist durchaus nicht neu, was darüber zu bemerken ist, es
liegt aber hier in besonderer Handgreiflichkeit an den Funden eines und
desselben Ortes vor. Der obere Stadtberg von Pergamon war in der Königs-
zeit der Platz dicht gedrängter Bewohnung innerlialb der Befestigungen,
er wurde zur relativ verlassenen Altstadt, als im römisclien Frieden die
RSnigszMt Römische Zeit
moderne Stadt oflFen in die Ebene hinein sich dehnte. Daher rühren unter
den Funden der Humann 'sehen Ausgrabungen, die ja vorzugsweise auf
die Hochstadt sich beschränkten, abgesehen von einigen ganz wenigen aus
noch älterer Zeit, etwa 50 Lampen aus der Königszeit und nur etwa 15
aus der Zeit der römischen Herrschaft her. Und welche gnmdgehende
Verschiedenheit dieser beiden Gruppen! Wir geben hier in Abbildung nur
je einen Typus der einen und der anderen Epoche.
Die Lampe der hellenistischen Zeit ist in Ihrer Gesammtform vorwie-
gend lang gestreckt vom Griffe zu der Dochtmündung hin , so die Flamme
weit von der Hand vorstreckend. Die Lampe der römischen Zeit ist kürzer,
im Körper kreisrund, schon damit weit leichter zu fabriciren. Der Kanal
fUr den Docht geht im Zusammenhange mit dieser verschiedenen Gesanmt-
form (las eine Mal von der Ölbehälter- Höhlung her scliräg aufsteigend zum
CTÖMA, das andere Mal ist er auf kürzerem Kaume mehr senkrecht gestellt.
14 Conze:
Ungemein zahlreicli sind die Lampen des römischen Typus jüngst in Per-
gamon in einzelnen Magazinen des unteren Marktes, aus der Benutzung
dieses Marktes in der Kaiserzeit stammend, gefunden, und denselben Typus
zeigt auch die Zusammenstellung von Lampenformen vorzugsweise stadt-
römischen Ursprungs, welche Dressel im CIL XV, 2 auf Tafel III unter
6 — 31 gegeben hat.
Massenanfertigung mufste ja in der einen wie in der anderen Zeit für
dieses in jeder Behausung unentbehrliche Geräth stattfinden. Dennoch ist
sie individuell künstlerisch, zeigt immer wieder die lebendig gestaltende
Hand des Arbeiters in der älteren , die Schablone bei sogar einfachem Aus-
drücken aus einer Gesammtform, von denen letzteren eine Menge auf dem
unteren Markte jüngst gefunden sind, in römischer Zeit. Das läfst sich voll
nur sehen und empfinden an den Originalen, wie das eine Mal z. B. die
Henkel aus besonders gedrehtem Thon frei angesetzt, das andere Mal in
eins mit dem Ganzen aus der Form gedrückt und nur mit Durchstechen
eines runden Instruments , das auch zum Herstellen der Dochtöffnung diente,
monoton in die Henkelform gebracht sind. Der Zierrath der römischen
Zeit verarmt auf ein im mittleren Rund der Oberseite des Lampenkörpers,
ohne Rücksicht auf die Öffnung da, angebrachtes Bildchen, höchstens mit
einem einförmig umlaufenden Randornamente. Das Bildchen ist in diesem
Rahmen selbständig, oft von offenbar för sein Publicum gegenständlichem
Interesse : Circus- und Gladiatorenspiele , erotischer Kreis. Dagegen ist die
Lampe der hellenistischen Zeit ein tektonisch höchst mannigfaltig gestal-
tetes Gebilde, mit einem verschlungenen oder mit einem einfachen Henkel
oder ganz ohne einen solchen, mit zwei oder auch nur einem Seitengriffchen
oder auch ohne das. Die Zierformen lösen sich nicht selbständig los , sondern
stehen durchweg in lebendigem Zusammenhange mit der Gesammtform;
an reicheren Exemplaren sind sie der Pflanzenwelt entnommen : ein Vogel,
ein Frosch, mehrfach eine Maske sind gern am Halse, der Dochtöffnung
zugewandt, angebracht und mögen hier, der Flamme nahe, eine wenn auch
verblafste apotropäische Kraft haben.
Die schon oben kurz erwähnten, ganz wenigen, etwas alter als di(*
Königszeit anzusetzenden Lampen mit schwarzem Firnis, gleichen im Typus
den von Dressel aus der Esquilinischen Nekropolis {Annali dell' instüuto
1880, tav. d^ agg. 0) zusammengestellten, als vielleicht Campanischer Her-
kunft angesehenen und in das 3. Jahrhundert v. Chr. datirten Exemplaren.
■.■!■ ■■
Die Kleinfunde atis Pergamon. 15
Inschriften haben diese Exemplare aus Pergamon nicht, wie Inschriften, sei es
in Stempel oder eingeritzt, den Lampen von dort bis jetzt überhaupt fehlen.
Der gesammte Lampenvorrath aus Pergamon giebt also ein höchst
merkwürdiges, eindringlich sprechendes Culturbild im Kleinen. In noch
gröfserem Reichthume breitet sich ein solches aus in den zahlreichen
Überresten von Thongefafsen.
Aus der allerältesten Ansiedlung auf der höchsten Stelle des Stadt-
berges, längst bevor nach der pergamenischen Stadtchronik (I. v. P. n. 613)
Orontes um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. die Bewohner bei dem
vorzubereitenden Kriegszustande wieder in die alte Stadt, von der sie wohl
in friedlicheren Zeiten zu ihren Ackern sich hinabgezogen hatten, zurück-
versetzte, sind uns als einzige Zeugen ihrer Frühzeit einige Vasen seh erben
in die Hände gefallen. Sie wurden an den Westabhängen der Hochstadt
aufgelesen. Sie sind, wie Böhlau und Lösch cke es nennen, mit »milesi-
schen«, streifenweise geordneten Reihen von Thieren und eingestreutem
Ornament bemalt. Die Hauptscherbe von sehr feiner Ausfiihnmg ist auf
Tafel 2 abgebildet. Sie ist sehr flach gewölbt, wie von einer Schale, die
Malerei ist ohne Ritzlinien ausgeführt. Auf der einen Fläche der Scherbe
ist der Rest eines nach links schreitenden, den Kopf gesenkt vorstrecken-
den Steinbocks, auf der anderen Fläche der Rest von zwei gleichen Thieren
erhalten. Dieses wie das Übrige zeigt die Abbildung, auch die Farben,
an den Thierstreifen ein Braun auf fahlgelbem, auf den rothgelben Thon
aufgetragenen Gixmde, die Omamentstreifen unter den Thieren in Weife auf
violettem Grunde. Ein verwandtes Stück aus der Nachbarschaft von Pergamon
bei Pitane publiciren Pottier und Reinach, Necropok de Myrina, S. 50/^.
Ebenfalls am Westabhange des oberen Stadtberges , aber ziemlich weit
«al)wärts unterhalb des Südendes der Theaterterrasse, fand sich ein 0^07
hoher, runder, einhenkliger Aryballos, sogenannter korinthischer Art, mit
der in Ritzimg und sehr verwischter Malerei in Braun ausgeführten Figur
eines Vogels, anscheinend nicht mit Menschenkopf, mit ausgebreiteten
Flügeln.
Unter den übrigen Vasenscherben befinden sich nur zwei ganz unbe-
<leutende, in drr allernachlässigsten , spätesten Weise mit rothen Figuren
auf schwarzem Crrunde, einige andere, etwa gleicher Zeit angehörige mit
flüchtig in schwarzer, schwarzbrauner Farbe auf matt röthlichgelbem Grunde
hingeworfenem Ornament.
16 C o N z E :
Hieran reihen sich Stücke von 6e£&ijsen, deren eines nocli in seiner
Gesammtform als kleines Sch&lchen mit dicker Wandung kenntlich ist, die
ganz mit dem schönsten, glänzend spiegeUiden Schwarz überzogen sind,
einige von ihnen mit eingeprefsten Mustern. Ein solches ist abgebildet auf
Tafel 3 ; der Fufs ist unterwärts mit glänzend schwarzen Ringen auf roth-
gelber Grundirung versehen. Diese Stücke feiner Technik mögen attischer
Import sein, etwa aus der Zeit, als Xenophon 399 v. Chr. auf der Burg
Pergamon zu Gaste war.
Nach Attika weisen auch die Fragmente einer grofsen schlanken Lekythos
mit aufsen weifser Grundirung und darauf gesetztem Rosenroth und glänzendem
Schwarz eines am unteren Rande umlaufenden vorgeritzten Streifens. Sie
wurden auf der Hochburg in den »Palästen«, in dem Räume IVa des Planes
im 3. vorläufigen Berichte 1888, gefunden. Ferner attisch sind verschiedene
sehr dickwandige Bruchstücke später panathenäischer Preisamphoren , eines
darunter mit der Inschrift J. v. P. 1328.
Von diesen wenigen Stücken älterer Zeiten abgesehen, stammt die aufser-
ordentlich grofse Menge unserer Thongefäfssch erben aus der Zeit stärkster
Bewohnung des Stadtberges unter den Königen. Sie kamen überall bei den
Grabungen zum Vorschein ; ein besonders reichhaltiger Fundplatz , an dem
man ihre Zalil noch leicht vermehren könnte, ist aber der Abhang auCsen
unter dem obersten Knicke der in gebrochener Linie im Osten zum Ketios-
thale absteigenden Eumenischen Stadtmauer. Allem Anscheine nach ist
hier ein Abschuttplatz gewesen. Was wir jüngst noch durch zwei Arbeiter
in wenigen Tagen an dieser Stelle zusammenbringen liefsen, haben wir
mit Erlaubnils der türkischen Alterthümer-Verwaltung als ein am Platze
so gut wie werthloses Material an die Sammlungen in Bonn , Mainz , Trier
und Wiesbaden zum Vergleiche mit der verwandten provinzial- römischen
Keramik abgegeben.
Die wirklich zahllose Menge der pergamenischen Scherben zeigt durch-
gehend, wie um das 2. Jahrhundert v. Chr. die alte griechische Vasen-
malerei einfach verschwunden ist. Die reine Darstellung auf der Fläche
der sogenannten rothfigurigen Vasen macht, wenn wir zunächst die Fort-
setzung des Gefäfsschmuckes nur in Malerei in's Auge fassen, einer inhaltlidi
und technisch bequemeren Weise Platz. Nicht mehr figürliche Darstellungen,
sondern nur Pflanzen- und andere Ornamente werden auf den fertigen
schwärzlichen oder rothen Grund theils mit Farbe, weilsgelb oder violett,
Die Kleinfwide avu Pergamon. 17
pastOR aufgesetzt, theils durch Einritzung, welche die hellere Thonfarbe
des Untergrundes fireilegt, ausgeführt. Schon in dieser malerischen und
zeichnerischen Technik , die also leicht erhaben über und leicht vertieft unter
den Gnmd geht, ist die vorwiegende Flächendarstellung der früheren Jahr-
himderte aufgegeben. Es ist bereits eine Tendenz zum Relief zu erkennen,
zum wirklichen Relief, das um dieselbe Zeit, wie auch die pergamenisctien
Fimdstöcke zeigen, in die Vasenkeramik dominirend eindringt.
Die zur Verwendung gebrachten Motive sind nur formell zierend, von
geringer gegenständlicher Bedeutung. Die Erzählerfreude altgrieehischer
Zeit, schon Iftngst abgeschwächt, ist gründlich versiegt. Die Kunst spielt
mit rein formellem Gefallen ihre eige-
nen Weisen.
Unter den Motiven erscheinen
besonders häufig, wohl im Zusammen-
hange mit dem in Pergamon um die
Zeit vorherrschenden dionysischen
, Wesen, Blätter und Trauben von
Epheu: eine Probe beistehend. Femer
wiederholen sich Gehänge, der soge-
nannte Eierstab ist geläuüg, dann
Zweige, Palmetten, Rosetten, Wellen-
linien, auch »Sehachhrett»muster, von
lebenden Wesen sind Vögel und Fische
,, beliebt. Ich verweise zur Ergänzung
des hier nur mit Wenigem Angedeute-
ten auf die reichhaltige und von Gillieron trelTlich illustrirte Mittheilung
von Gef^fsen und Geftfsscherben derselben Art athenischen Fundorts, welche
jüngst Watzinger in den Athenischen Mittheilungen des Instituts 1901,
vS.öyif. mit Taf III und IV gemacht hat.
Auffallend sind unter den pergamenischen Funden Thongefäfsscherben,
die in einer ganz anderen Technik, als die vorgenannten, bemalt sind. Sie
.sind verhältnifsmäfeig selten; ich habe einige zwanzig allmählich zusammen-
jjelesen. Die Oberfläche des Gefäfses i.st weifs grundirt, und darauf sind
wiederum Kränze, Guirlandengeliänge, Zweige, Palmetten, »Eierstäbe»,
dann auch Vögel mit flüssigem Pinsel in Gelb, das in kräftigen Druckern
in ein sattes Braun sich steigert , gemalt. Es zielt auch hier über das reine
PkUos.-küb^.Äbh. 1902. 1. 8
18 Gonze:
Fläclienbild hinaus auf eine modellirende , gesteigert malerische Wirkung ab.
Drei Proben sind auf Taf. 4 zusammengestellt, die eine möglichst getreu
in Farben. Mir war diese Art zuerst neu, man sagte mir, sie komme in
Aegypten vor, in Athen spreche man von ihr als »ptolemäisch«, kundige
Freunde haben mir aber versichert, die Art sei ihnen bei ihrem Sammeln
in Aegypten nicht vorgekommen. Eine ganze Reihe derartiger Gefäfse sind
im Ottomanischen Museum in Constantinopel ausgestellt, aus Tschandarli
(Pitane), also aus näclister Nähe von Pergamon. Vereinzelt sind sie auch in
Priene zum Vorschein gekommen; sie werden aber auch in Athen gefunden.
Eine in Athen gefundene Scherbe der Art hat mir Michaelis aus der
Strafsburger Universitätssammlung mitgetheilt, Loeschcke sah vor Jahren
im Kunsthandel einige solche Scherben aus Chalkis. Einige der pergame-
nischen Scherben haben sich zu einer hochhalsigen, einhenkeligen Flasche
mit breitem Leibe zusammensetzen lassen. Von dergleichen Flaschen spricht
auch Watzinger, a. a. O. S. 86 u. 57, mit Verweisung auf Dragendorff
(Bonner Jahrb. 10 1, S. 144, Anm. 2), der für diese Vasengattung auch Süd-
rufsland und in einem vereinzelten Falle Italien als Fundorte nennt. Ein
Exemplar aus Kertsch befindet sich im Bonner akademischen Kunstmuseum
(luv. 460).
Fanden wir in der Malerei der pergamenischen Vasen bereits eine leise
Tendenz zur Reliefwirkung, so zeigt die überwiegende Masse dieser Funde
das, wa,s z.B. Dragendorff (Rhein. Jahrb. 1895, S. 7) als eine derThat-
sachen der hellenistischen Keramik bezeichnet, das Zurücktreten der Malerei
gegenüber einer die toreutische Metallarbeit imitirenden Reliefdecoration.
Schon in der erwähnten Verbindung der Ritztechnik mit pastoser Malerei
kann man ebenfalls eine Analogie zur Metalltechnik finden; man vergleiche
z. B. im Ilildesheimer Silberfunde die Epheubecher (Pernice und Winter,
Taf. XVIII), femer den Kantharos (Taf. XXXV) und den Guirlandenbecher
(Taf. X), welche auch Motive, anklingend an die der pergamenischen Vasen-
malerei, aufweisen. Geradezu Nachahmimg getriebener Metallarbeit ist es
aber, was in der Menge mit Relief verzierter Scherben aus Pergamon dominirt.
Die stolze Zeit der griechischen Vasenmalerei, als die Verfertiger einst ihre
Erfindungen anspruchsvoll mit ihren Künstlernamen bezeichneten, war ja
schon längst vorüber. Nun bescheidet sich die Keramik im Gefolge der
Metalltechnik, dieser Königin des Kunsthandwerks an den Diadochenhöfen,
einherzuziehen, wobei sie aber einen Reich thum neuer Schönheitsfonnen
Die Kleinfunde ans Pergamon.
19
auszustreuen weifs. Ich begegne mich hier, auch im Ausdrucke, mit
Watzinger (Athen. Mitth. des Inst. 1901, S. 87).
Wir unterscheiden an den mit Relief verzierten ThongefSTsscherben
aus Pergamon zweierlei Verfahren der Herstellung, abermals, wie sie in
der Metalltechnik üblich waren.
Einmal werden die zum Schmucke der Gefäfse bestimmten Reliefbilder
tui* sich geformt, mit flüchtigem Verfahren von einem Reste der Thon-
masse um ihre Umrisse herum durch
Abschneiden befreit und dann auf
das Gefäfs gesetzt.
Besonders beliebt bei dieser
Weise der Herstellung ist wiederum
ein Ornament aus Eplieu (s. unsere
Textabbildung S. 21). In einem be-
stimmten, auch bei Eichen-, Oliven-
oder Lorbeer-Reihenornamenten con-
ventionell werdenden Schema sind
jedesmal drei Blätter, zwischen denen
jederseits eine Fruchttraube hervor-
ragt, zusammengefafst und die Bün-
del so aneinandergereiht.
Sogar als häufigstes tritt aber
gerade bei diesem technischen Ver-
fahren das Figurenbild auf. Weib-
liche Figuren verschiedener Art, die mit fliegendem Gewände und zurück-
geworfenem Kopfe ekstatisch tanzende Mänade, eine Leierspielerin mit
nacktem Oberleibe, eine ebenso nur mit dem Mantel Bekleidete, die auf
einem Pfeiler vor sich eine Maske hält, ein Schauspieler in lebhafter Be-
wegung, eine als Henkelansatz angebrachte Satyrmaske — der Kreis des
Dionysos und seines Theaters spielt in Pergamon eine HaujjtroUe. Besonders
häufig aber sind so ausgeführt Bilder obscöner Art, Liebespaare in abenteuer-
lich variirten Symplegmen auf teppichbehängten Klinen. In Abbildung gebe
ich vorstehend nur ein ganz unbedeutendes Stück mit einer Lyraspielerin,
um diese Technik der gesondert in Formen gedrückten, ausgeschnittenen
und dann auf das Gefäfs aufgesetzten Figuren zu zeigen, so weit eine
Abbildung es zu zeigen vermag. Es haben sich in Pergamon auch Formen
zur Herstellung solcher Aufeetzbilder gefunden, so die der Frau mit der
Masite auf dem Pfeiler, des Schauspielers und erotischer Symplegmata.
Die zwette Art der technischen Herstellimg mit Relief verzierter Thon-
geföfse in Pergamon, wie sonst weit verbreitet in dieser Periode, ist die
des Ausdrückens des ganzen Geföfses aus einer Gesammtform. Es sind
henkeUose Becher, bei denen dieses Verfahren besonders anwendbar war
und deren Scherben in Pergamon ganz auffallend zahl-
reich vorkommea, die mit bequem eingebürgertem,
jetzt bedeutungslos zu nehmendem Namen sogenannten
»Megarischen Becher« , Ober deren antike Benennung
Robert gehandelt hat im Berliner Winckelmanns-
Programm 1890, S. 3 f., dann Dragendorff in de»
Rhein. Jahrb. 1895, S. i2flF.. Wie sich Form und Orna-
mentik dieser Geffifse in den MetallgefiUsen wieder-
holen, haben Pernice und Winter bei der Herausgabe
des HUdesheimer Silberfundes (S. 29 f. zu Taf. VI. VII)
bemerkt.
Die Aufeenflächen dieser Becher sind über imd über
-.iiiS^*. gefüllt in reichem Formenspiele, das seine Elemente
I' kaleidoskopisch bald so, bald so hinwirft, immer sie
aber in tektonisch motivirter Anordnung vertheUt. Auf
Vorführung in vielen Abbildungen muTs hier verzichtet
werden und kann es um so mehr, da Watzinger,
a. a. 0. S. 58 ff. den Formenvorrath classiflcirt und illu-
strirt hat, der ja auch sonst bekannt genug ist : die Flecht-
bänder, der »Eierstab«, dann die Fülle der Pöanzen-
motive, Akanthos, Epheu, Palmzweige, Palmetten,
Lorbeer und schuppige Blattdecken, KrSnze (wovon
ein Beispiel vorstehend), Alles unter den pergamenischcn Scherben über-
reichlich vertreten. Dann Thierfiguren, meist reihenweise laufend, Hasen,
Hunde, Löwen. Von menschlichen Figuren erscheinen im pergamenisehen
Vorrathe Niken und tanzende, fliegende Eroten {ein Beispiel mit Thieren,
einem Drachen in der oberen Reihe, vorstehend). Das mythische Element
fehlt auf den Bechern in Pergamon bisher so gut wie ganz. Nur ein einziges
Beispiel hat Hr. Zahn erkannt, Iphigenia, ruhig dastehend, nach der der
Opferpriester greift; der Priester hat nur den Unterkörper mit dem Gewände
'/.
jyie Kleiafunde aus Peri/amon. 21
umschflrzt und hält das Opfermesser in der linken Hand. Aber als ob auf
die Bedeutung gar kein Werth mehr gelegt wäre, ist die kleine Gruppe auf
der Scherbe wie gleichwerthig neben einem laufenilen Löwen gestellt (Ab-
bildung vorstehend).
Endlich sind noch unt*'r den pergamenischen Thongeftfsresten wieder-
holt vorkommende Formen der Henkel zu erwähnen, die Knotenform , über
welche jüngst Wolters im 30. Würzburger Programme 1901, S. 5 — 9, ge-
handelt hat, und die «StützhenkeU, wie ich sie bei
Schreiber mehrfach genannt finde. Die letztere
F<»rm, schon der altgrlechisehen Vasenfabrication
geläufig, entsprieht der natürlichen Lage der Hand
heim Anfassen, iür den Zeigefinger das Kund, iiir
den aufdrückenden Daumen die darauf liegende Platte.
Zu der in Pergamon, wie nebenstehend an einem
'* Beispiele gegeben ist, geläufigsten Grestalt ausgebildet
erscheint dieser Henkel z. B. an Hildesheimer Silbergefilfsen , an der Athene-
schale, dem Guirlandenbecher {Pernice und Winter, Taf. I. X). An
mehreren Exemplaren der vereinzelt erhaltenen Griffplatte ist deren Feld
obenauf mit zierlichen Abzeichen in Relief versehen, einem Thyrsos,
einer Keule , einem von einer
Schlange umwundejien Stabe, also
den Attributen dreier in Perga-
mon angesehener Grötter oder
Heroen. Einmal ist ein mit an-
scheinend auf den Rücken ge-
bundenen Händen stehender Eros,
eine ja aus statiiarischer Behand-
v, '/.
lung uns bekannte Darstellung,
auf der Henkelplatte angebracht. Dieses Exemplar und eines mit dem
Äsklepiosstabe sind vorstehend abgebildet.
loh schliefse den Überblick über die Zierformen weit der pergame-
nischen Kleinkunst in der getrosten Erwartung, diifs darin manches Ein-
zelne und ein Gesammtcharakter zu finden sind, welche das Nachspüren
nach Einflüssen der Kunst Alexandriens in gewisse Schranken verweisen.
Dafs eine in Malerei und Reliefverzierung der der i>ergamenischen Fund-
stOcke ganz gleichartige Keramik von Watzinger aus attischen Funden
22 Conze:
nachgewiesen ist, mahnt zugleich auf's Neue, in hellenistischer Zeit nicht
allzuviel locale Sonderweisen des Kunsthandwerks zu suchen. Man müfste
sonst Import herüber oder hinüber zwischen Athen und Pergamon an-
nt^hmen. Daus ein Fabrikort wie Pergamon in der Königszeit seine AUtags-
waare von aufsen her bezogen hätte, ist besonders unwahrscheinlich, aber
für Athen gilt doch wohl das Gleiche.
Nach den Formen haben wir noch die Farben der pergamenischen
Keramik,* wie sie sich in unseren zahlreichen Fundstücken zeigen, zu
boMchten. Es handelt sich dabei um den Übergang von einer Jahrhunderte
lang doniinirenden Geschmacksrichtung und technischen Übung in eine die
folgenden Jahrhunderte* beherrschende, um den Übergang aus der Keramik
mit schwarzem Firnis, in die mit rothem Überzüge, aus der gi'iechischen in
die römische Weise, die auch hier wieder nicht römischen, sondern lielle-
nistischen Ursprungs ist. Das pergamenische Material, welches Dragendorff
leider noch nicht benutzen konnte, bestätigt einerseits seine in den Bcmner
Jahrb. 1895, S. 38 (22 des Sonderabdrucks) gegebene Zurückfulirung der
roth überzogenen Vasen auf Griechenland, spricht zugleich aber gegen
seine Ansicht, dafs diese Technik erst in Italien zur Vollendung gebracht
sei. Technisch vollendetst schöne Waare der Art, was mit Abbildung nicht
anschaulich zu machen ist, findet sich in gröfserer Zahl in Pergamon.
Diese später als in die Königszeit zu setzen, liegt kein Grund vor.
Oben wurden unter Beigabe einer Abbildung auf Taf. 3 die Gefaß»-
scherben mit glänzendst schwarzem Überzüge, die sich in einer Anzahl
von Stücken auf dem Stadtberge von Pergamon gefunden haben, als ver-
muthlich attischer Import um das Jahr 400 v. Chr. erwähnt. Die unzweifel-
haft aus der Königszeit stammende überwiegend grofse Masse von Vasen-
scherben zeigt nun , dafs diese Technik des glänzend reinschwarzen Über-
zuges damals in Pergamon nicht mehr geübt wurde, dafs sie, in Pergamon
selbst vielleicht nie geübt, verloren gegangen w^ar. Sowohl die bemalten,
als aucli die mit Relief verzierten Scherben erscheinen durchweg nur mit
einem trübe schwärzlichen, ja bräunliclien Überzuge, der beim Brennen
vielfach unregelmäfsig in Roth übergeht (ein Beispiel auf Taf. 5 , oben).
Daneben zeigt sich das Roth auch absichtlich von dem schwärzlichen
Tone gesondert gehalten (ein Beispiel auf Taf. 5, unten), dann wieder ganz
allein und, wie gesagt, in vielen Fällen in technisch vollendet leuchtender
Reinheit zur Herstellung gebracht. Die dominirende Farbenschönheit der
Die Kleinfunde aus Pergamon, 23
römischen P]j)oche, die der sogenannten Sigillatn, der Arretiner GefaTse,
steht fertig vor uns, etwa ein Jahrhundert vor der Hochentwickehmg der
Fabrication in Arretium, wo die im I^ande alteinheimische Thontechnik
einen fruchtbaren Boden filr die neue Anregung aus dem griechischen
Osten geboten haben wird.
Wir haben in Pergamon einen Ausschnitt aus der Übergangsepoche
der griechischen Keramik vor uns, deren Schiklerung auch Watzinger
(Athen. Mitth. 1901, S. 85) zu dem Satze fuhrt: »Die Kntwickehmg endigt
schliefslich in der Erfindung der rothen Glasur der griechischen Terra-
sigillata-Gefalse, die an Stelle der gefirnisten Gefafse treten«. Es ist ver-
ständlich, dafe mit dem Ausdrucke »gefirnist« die scliwarze griechische
Waare gemeint sein mufs. Der Entstellung der neuen keramischen Kunst-
form, die von den Römern bis in unsere nordischen Gebiete getragen
wurde, ist man hier jedesfalls ganz nahe gekommen. Bei der wieder-
holten Betrachtung der pergamenischen Fundstücke konnte ich mich des
ICindrucks nicht ganz erwehren, daCs man hier die neue Technik aus einem
V(»rfalle der alten augenfällig hervorgehen sehe, dals mit dem Verloren-
gehen der schönen schwarzen Glasur im Verfalle d(T Fabrication dunkel-
farbigen Gefafsüberzuges dieser gelegentlich und häufiger als auch in
früheren Zeiten in's Rothe überspielte, man an dem Roth dann mehr
(Jefallen fand, als an dem trüben Schwarzbraun, und dieses Gefallen dann
zur reinen Darstelhmg ehies neuen dominirenden Farbentons fiir die Ke-
ramik führte, dafs, wie bei vielen Erfindungen, ein gewisser Zufall im
Spiele gewesen sei. Aber das Werden ist auch hier nicht so leicht bis
in sein Erstes hinein zu erkennen. Wie Stücke glänzend schwarzer Thon-
waare, die wir fiir attisch hielten und vr>r die Königszeit setzten, so
haben wir unter unseren Fundstücken auch Stücke, w(*lche den Eindruck
davon nicht allzu weit abliegender Verfertigimg geben , in ganz derselben
Art mit kleinen Mustern gestempelt sind und statt des Schwarz ein reines
Roth als Überzug aufweisen (Taf. 3), so dafs diese Art der Fabrication
etwa von Attika hcM* schon nach Pergamon gekommen war, als in den
dortigen Töpfereien jene, allerdings auch auf dasselbe Zi(*l hinfiihrende
geleg(*ntliche Umwandlung des Schwarz in Roth sich abspielte.
Jedesfalls wird es der Aufmerksamkeit werth sein, wie an einem bedeu-
tenden Kunst- und Fabricationsplatze wie Pergamon die Übergangserschei-
nungen der Keramik in der Periode um 200 v. Chr. auftreten.
24 Conzb:
Schliefslich ma>^ noch ein Eiiizetfund erwähnt werden. Am Schlüsse
der Behandlung einoi- einentJiümlich geformten Art von Kohl«nbefkeii
Kriechischer Fahrication um rlio erste Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr.
(Jahrbuch des InstitutH 1890, S. 141) habe ich ;ils auffaDende Thatsache
erwSlint, dafs die Reste solcher Kohlenbecken, die um jene Zeit weit
um das Mittelmeer v^'rbreitet vorkommen, in keineiQ einzigen Exemplar
in Pergamon geftinden sind. Inzwiselien ist mir in Pergamon von einem
Jungen ein solches Stück , das er irgendwo dort auigelesen hatte, ge-
bracht, und ich Iiabe es den Berliner Museen übergeben. Es ist beistehend
abgebildet, und man mag daraus
wenigstens einigermafsen erkemien,
daß* es bei völliger Gleichheit im
Ganzen sich auszeichnet durch eine
künstlerisch fein durchgeföhrtc,
höchst lebendige Behandlung des
nach Furtwängler's Deutung
(Jalirbucli des ln.stituts 1891,
S. iioff.) Kvklopenkopfes. Der-
gleichen kommt sonst wenigstens
bei keinem der mir vor Augen
gekommenen Köpfe dieser Art vor.
Das pergamenische Exemplar wird
dort , als einem künstlerisch um
die Zeit besonders hochstehenden
Fabrikorte, entstanden sein. Die kleine Denkmälerclasse soll übrigens nicht
erwähnt sein, ohne eine Verweisung auf Mau 's Äusftlbrimgen über den
vermuthlichen Namen dieser Geräthe in den Römischen Mittheilungen des
lastituts 1895, S. 38 ff..
Es erübrigt noch, auf eine Gruppe von Thongef&fsscherben hinzu-
weisen, <feren »m.sere Ausgrabungen in Pergamon eine ansehnliche Zahl
geliefert haben. Es sind Bruchstücke von Schalen, zumeist Böden von
Schalen, aus dunkelröthlichem Thon, auf der Innenseite kräftig glasirt:
so weit auch aufsen Glasur zu sehen ist, reicht sie nicht bis unter den
Fuls. Von den Ornamenten im Schalenboden gebe ich hier nur ein Bei.spiel.
an dem die in der Abbildung dunkle Farbe leuchtend braun, die helle
leuchtend gelb ist. Die Zeichnung des Ornaments ist, wie hier, auch
Die Kleinfunäe aus Pergamon. 25
sonst in den Thon eingetieft und dunkler als der Grund gefärbt, schwarz
auf gelbem oder grünem, braun auf gelbem Grunde, zuweilen auch ohne
besondere Färbung der eingetieften Zeichnungslinien. Der Grund ist oft
ohne alle Rücksicht auf die Zeichnung des Ornaments scheckig braun auf
gelb, auch einmal grün auf gelb. Selten ist das Ornament ohne Ritz-
zeichnuug nur mit pastoser Farbe auf den Grund aufgesetzt, dann hell
auf dunklem Grunde. Bei diesen Stücken hat die Zeichnung einen etwas
abweichenden Charakter, ist freier bewegt, vielleicht nur in Folge der
anderen Technik.
Dieselbe Technik und Formengebung kommt bis zu einem gewissen
Grade gleich bei Byzantinern , Arabern , Persern verbreitet vor. Für die
pergamenischen Fundstücke entsteht so die Frage nach ihrer Zuschreibung
an Byzantiner oder Araber oder andere mohammeda-
nische Besiedler des Stadtberges.
Ich habe mehr mit der Kunstiudustrie dieser
Völker Vertraute, als ich es bin, um Rath ge-
fragt, habe aber keine hinreichend feststehende
Kenntnifs geftmden, die zur Entscheidung über
das pergamenische Material fahren könnte. Hm.
Sarre verdanke ich dabei den Hinweis auf einen
'/a anscheinend sehr mafsgebenden Ausspruch des
Engländers Henry Wallis in seiner Schrift: The
Oriental influence on ItaUan ceramic art, London 1900. Dieser Ausspruch
macht getrost, erst einmal das pergamenische Scherbenmaterial ffir sich
zu benutzen, mit der Zuversicht sogar, dafs in ihm eher ein fester Aus-
gangspunkt auf das Urtheil auch auf weiteren Gebieten hin zu finden sein
mag, als dafs eine bereits in gröfserem Umfange festgestellte Kenntnifs zu
seinem Verstandnisse fiihren könnte.
Wallis sagt a. a. 0. S. XIII von seinen kurzen Ausfuhrungen über die
Geschichte der orientalischen Keramik, sie seien nicht als endgültig aus-
gemacht gemeint. » The time has not yet arrioedfor unqualified Statement respectmg
either the date or the derwation of the class of objects here deaU with. It is only
after systematic excavations on the sites and in the environs of Eastem ciHes which
were once centres offlourishing artistic industries that sufßcient evidence will have
been coüected to permit assertion Uke that which can he made respecting ^ later arts.
The searchj howeverj is only now in üs beginning. «
Biila8.'hi/tior.Äbh.l902. I. 4
26 C O N Z E :
Die Ausgrabung in Pergamon mit ihren Funden der in Frage stehenden
Art ist offenbar ein solcher Punkt, nach dem Wallis zur Belehrung aus-
schaut. Hier greifen die historische Überlieferung, die Baureste und die
Einzelfunde in einer Weise in einander, dafe Licht nach allen Seiten hin
entsteht.
Die historische Überlieferung hat auf unsere Bitte Hr. Geiz er auf's
Neue bearbeitet. Er hat mit seiner Kenntnifs der mittelalterlichen Periode
eine Studie eigens über Pergamon in byzantinisch - osmanischer Zeit zur
Herausgabe in den »Alterthümern von Pergamon« geliefert und gestattet,
dafs ich einige hier in Betracht kommende Hauptdaten seiner Arbeit
entnehme. Wir können danach mit verstärkter Zuversicht sagen, dafs
Pergamon mit einer gewaltsamen, aber rasch vorübergehenden ünter-
brechimg bis in das 1 4. Jahrhundert christlich, byzantinisch geblieben ist.
Die Unterbrechung fällt in das Jahr 7 1 5 n. Chr., als die Araber unter
Maslama nach einer auf das AUeräufserste verzweifelten Gegenwehr die
Stadt nahmen. Es hat am meisten Wahrscheinlichkeit, dafs damals die
von uns kurz so genannte byzantinische Mauer, der Grenze des oberen
Marktplatzes folgend und dann weiter bis an den Ostabhang des Berges
verlaufend, entstand, zu deren Errichtung man in die noch erheblich auf-
recht stehenden Bauten der pergamenischen Glanzzeit, den grofsen Altar
besonders, verwüstend und für unsere Kenntnifs so vieles rettend, hinein-
griff. Aber schon nach Jahresfrist stellte Leo 111. , der Isaurier (716 — 741)
sein Regiment in Pergamon wieder her, und unter den Komnenen wurde
Pergamon wieder der Mittelpunkt eines bevölkerten und betriebsamen
Districts, auch Metropolis in der Kirchenordnung unter Isaak Angelos
(11 85 — 1195). Dieser neuen Blüthezeit werden die wieder weit über die
eben erwähnte »byzantinische« Mauer hinausgerückten und aufserdem in
engerem Ringe die Hochburg einfassenden, hohen Ziegelmauern ange-
hören, von denen nach den Einzelheiten ihrer Construction es nie zwei-
felhaft sein konnte, dafs sie später als jene »byzantinisclie« Mauer ent-
standen seien. Erst gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts fangen die
Osmanen an, auch im pergamenischen Gebiete Fufe zu fassen; Theil-
fursten setzen sich fest, deren Herrschaften Urchan (1326 — 1359) ein Ende
macht. Er nimmt Pergamon. Sein Sohn Murad Chan baut, wie die an
ihr erhaltene Inschrift, bezeugt, die heute sogenannte Köjunköprü unweit
der Stadt. Dessen Sohn Bajasid Chan {1389 — 1402) fiihrt, wiederum
Die Kleinfunde aus Pergamon. 27
nach Inschriftzeugnisse, den gewaltigen Bau der noch Hufi*echt stehenden
Ulu-Tsami auf.
Wie schon die Lsige dieser Moschee am Fufee des Stadtberges zeigt
und worauf alle anderen Spuren hinweisen, setzten sich die Osmanen in
der römischen Unterstadt, auf deren Ruinen, fest, ohne je den Stadtberg
zu besiedeln. Ein merkwürdiger Aberglaube hinderte noch jüngst, wie
man in Pergamon behauptete, den jeweiligen Kaimakam, den Stadtberg,
das Kaleh, zu betreten; er würde sonst sein Amt verlieren.
Aus diesem historisch beglaubigten Verlaufe der Stadtgeschichte von
Pergamon , mit dem die Baudenkmäler übereinstimmen , ergiebt sich , dafs
die einheitliche Menge von Gefafssch erben nachchristlicher Zeit, welche
auf dem Stadtberge gefunden sind, nur byzantinisch sein kann. Einge-
sprengte Einzelstücke müssen dabei aufser Betracht bleiben , da Vereinzeltes
auf verschiedene Weise ja zu allen Zeiten hinaufkommen
konnte.
Für den byzantinischen Ursprung der Schalenscherben
kommt im Einzelnen auch noch in Anschlag das beistehend
abgebildete, auf der Innenseite eines Gefä&bodens anstatt
anderen Ornaments vor der Glasur und dem Brennen in
den Thon eingeschriebene Monogramm, aufserdem ein auf
«/j der Unterseite eines anderen Gefafsbodens eingeritztes Ä,
auf noch einem anderen ein ♦.
Wie weit diese Fundstücke vor oder nach der Maslama -Eroberung
715 n.Chr. fallen, läfst sich anscheinend noch nicht durchweg erkennen.
Nach der Stadtgeschichte können sie und werden sie wohl hauptsächlich
in die Spätzeit gehören, als der Stadtberg mit Wiederherstellung und Ver-
stärkung des spätrömischen Mauerringes wieder stark besiedelt gewesen
sein mufs. Weder die Araber mit ihrem kurzen zerstörenden Einbrüche,
noch die Herren des Platzes seit dem 14. Jahrhundert, die in der Niederung
wohnten, können so zahlreiche Reste von Haushaltungsbetrieb oben zurück-
gelassen haben. Auch von der Bewohnung des Stadtberges in byzantinischer
Zeit rühren die christlichen Kirchenruinen auf der Hochburg (Alterthümer
von Pergamon II, S.88. IV, S.74) und von Einzelfunden namentlich mehrere
bronzene Crucifixe mit dem eingravirten Bilde der Panagia her.
Werfen wir zum Schlüsse noch ein Mal einen Rückblick auf die ge-
sammte Masse der Kleinfunde vom Stadtberge, so sehen wir der Zahl
28 C o N z E : Die Kiemfunde aus Pergamon.
nach überwiegen zwei grofse Gruppen, Stücke der hellenistischen und der
byzantinischen Zeit, entsprechend der nur in diesen beiden Perioden vor-
wiegend starken Besiedelung des Stadtberges. Von der ältesten Ansiedelung
nur auf der höchsten Höhe zeugen geringe Reste; in römischer wie in
ottomanischer Zeit lag der Schwerpunkt der Bewohnung, in römischer vor-
wiegend, in ottomanischer gänzlich, in der Ebene.
K. Rrmifi. Akad. d, WUsemeh.
ZocÄa
c2^
ZocAy-
\n
y(\
b
FhäL-litL Ablt, 1902.
a
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d ^—ZocÄ S
Jb
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L
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Conze: Kleinfkmde aoB Pergamon.
Taf. 1.
K. Prttifs. Akad. d.Wusfnich. Fhil.-hül. Abk. 1902.
Gonze: Kleinftmde ans Fergamon.
K. Pteitf». Akad. d. WimwcA. iM. • hitt. AbK 1902.
Conze: Kleliiftinde ans Veegasoxm.
K. Preu/ii. AAad. d. Wuamach. FhU. - hat. Abk. 1902.
Gonze: Eleinfonde ans Fergamon.
K. Bwt/i. Akad. d. Wissrnteh.
nU.-hitt. Abh. 1902.
Gonze: Elelnfkmde ans Pergamon.
ANHANG ZU DEN
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICH PREUSSISOHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ABHANDLUNGEN NICHT ZUR AKADEMIE GEHÖRIGER GELEHRTER.
AUS DEM JAHRE
1902.
MIT 15 TAFELN.
BERLIN 1902.
VKRLAG [)KR Kf^NIGLlCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
OKDRUCKT IN DKR REICHSDRUCKRRKl.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
Inhalt.
Physikalische Abhandlungen.
C. Runge und F. Paschen: Über die Strahlung des Quecksilbers
im magnetischen Felde. (Mit 6 Tafeln) Abb. I. S. 1—18.
M. Samt ER und R. Heyhons: Die V^ariationen bei Artemia salina
Leach. und ihre Abhängigkeit von äufseren Einflüssen .... Abb. II. 8. 1— G2.
W. Krause: Ossa Leibnitii. (Mit 1 Tafel) Abb. III. S. I-IO.
H. ViRCHOw: Über Tenon^schen Raum und Tenon'sche Kapsei. (Mit
2 Tafeln) Abb. IV. S. 1-48.
N. Gaidukov: Über den Einflufs farbigen Lichts auf die Färbung
lebender Oscillarien. (Mit 4 Tafeln) Abb. V. 8. 1-36.
Philosophische und historische Abhandlungen.
H. Schäfer: Ein Bruchstück altägyptischer Annalen. (Mit 2 Tafeln) Abb. I. S. 1 — 41.
W. Stieda: Über die Quellen der Uandelsstatistik im Mittelalter. . Abb. II. S. 1— 58.
PHYSIKALISCHE ABHANDLUNGEN.
Über die Strahlung des Quecksilbers
im magnetischen Felde.
Von
C. RUNGE und F. PASCHEN.
Fhjfs. AbL nichi «ur Alead. gehör. Gelehrter. 1902. I.
Vorgelegt in der Gesammtsitzung am 6. Februar 1902
[Sitzungsberichte St. VII S. 89].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 9. April 1902.
In der vorliegenden Arbeit haben wir uns vorgesetzt, an den Linien des
Queeksilberspectrums den Zusammenhang zu untersuchen, der zwischen der
von Zeeman entdeckten Einwirkung des magnetischen Feldes auf die
Lichtschwingungen und der Vertheilung der Linien in Serien* besteht.
Dieser Zusammenhang ist schon von Th. Preston vor einiger Zeit ausge-
sprochen worden.* Allein es ist nicht bekannt geworden , in welchem Um-
fang und mit welcher Genauigkeit er ihn nachgewiesen hat. In seinen Ver-
öffentlichungen spricht er nur von den Serien im Spectrum des Magnesiimi,
Cadmium und Zink, und auch in diesen Spectren hat er nur den Typus
der Zerlegung der zweiten Nebenserie angegeben. Die Untersuchung des
Queeksilberspectrums von A. Michelson^ bezieht sich nur auf den sicht-
baren Theil, wo keine Wiederholungen von Serienlinien vorkommen, und
die Arbeit von Reese*, der auch einige Quecksilberlinien untersucht hat,
streift kaum die hier behandelten Fragen. Nur Kent* geht auf die Frage
ein. Seine Resultate sind indessen nicht mit unseren Beobachtungen ver-
einbar.
Zur Erzeugung des Spectrums haben wir ein grofses Rowland'sches
Concavgitter von 6? 5 Krümmungsradius in fester Aufstellung verwendet.
Ein Eisen gerüst aus starken U- Trägern (Fig. i) ruht bei A^B^C auf drei
Betonpfeilern. Der Halbkreis AB von 6? 5 Durchmesser bildet einen etwa
30*"° breiten horizontalen Tisch, auf dem Spalt und Camera beliebig auf-
* Über die Serien vergleiche den Bericht von Rydberg, Rapp. pres. au Congres
Internat, de Physique, Tome, II, p. 200.
' Th. Preston, Nature Vol. 59, p. 248. 1899.
* A. Michelson, Astroph. J. VII, S. 136. 1898.
* H.M.Reese, Astroph. J. XII , S. 120 — 135. 1900.
' N. A. Kent, Astroph. J. XIII, S. 289 — 319. 1901.
1*
4 C.Runge und F. Paschen:
gestellt werden können. Das Gitter befindet sich bei C. Wir hatten den
Spalt an dem Ende des Halbkreises bei A aufgestellt. Zwei hölzerne
Cameras von je etwa 2™ Breite dienten zur Aufnahme des Spectrums.
Setzte man sie neben einander, so konnte man eine 4° lange ununter-
brochene Reihenfolge von photographischen Platten setzen, so dafs eine
Aufnahme gleich das ganze Spectrum in mehreren Ordnungen lieferte. Bei
der Justirung des Gitters fanden wir übrigens , dafs das Spectrum durchaus
nicht auf dem »Rowland' sehen Kreise« lag, der durch den Spalt, das
Gitter und den Krümmungsmittelpunkt läuft. Die Abweichungen betrugen
bis zu 5*"°^. Sie erklären sich nach Cornu bekanntlich dadurch, dafs die
Furchenabstände von einer Seite des Gitters zur anderen wachsen.^ Es ist
pi^ j oftmals wünsch enswerth , bei derselben Auf-
CC\^ ^\ nähme eine Linie gleichzeitig in mehreren
Ordnungen zu photographiren , um sich von
der Realität schwacher Componenten zu
überzeugen. Denn es können manchmal
durch Mängel des Spaltes oder ungenaue
Einstellung der Camera falsche Nebenlinien
entstehen. Reelle Componenten müssen in
den verschiedenen Ordnungen in verschie-
denen ihren Wellenlängen entsprechenden
Abständen erscheinen. Wenn sie das thun,
so wird dadurch ihre Realität sehr wahr-
scheinlich gemacht. Die feste Aufstellung des Rowland'schen Gitters hat
den weitern Vortheil, dafs die Justirung sich nicht ändert, und dafs man
von Erschütterungen des Gebäudes sehr viel unabhängiger ist. Femer war
es fiir uns von Wichtigkeit, dafs für die gleichzeitig photographirten Linien
das magnetische Feld dasselbe ist. Die Feldstärke verschiedener Aufnah-
men aber kann verglichen werden, sobald nur eine Linie beiden Auf-
nahmen gemein ist. Dafür konnte aber bei der grofsen Ausdehnung des
gleichzeitig photographirten Gebietes leicht gesorgt werden. Wir haben
davon besonders bei der Untersuchung anderer Elemente ausgiebigen Ge-
brauch gemacht. Die Resultate dieser Untersuchung beabsichtigen wir dem-
nächst zu veröffentlichen.
Vergl. II. Kayser, Handbuch der Spectralanalyse , Bd. i, 8.441.
Über die Strahlung des Quecksilbers im ^nagnetischen Felde. 5
Zur Erzeugung des magnetischen Feldes haben wir einen D üb ois' sehen
Halbring -Magneten von Hartmann & Braun* verwendet, den die Berliner
Akademie der Wissenschaften uns ziu' Verfugung zu stellen die Güte hatte.
Der wichtigste Punkt bei der Untersuchung ist wohl die Lichtquelle.
Wir haben Geifsler'sche Röhren mit Quecksilber -Elektroden benutzt in der
Form, wie sie von F. Paschen^ angegeben worden ist. Im Laufe der
Untersuchung fanden wir es nöthig, noch einige Änderungen daran an-
zubringen. Das aufs Gitter fallende Licht darf nur von solchen Theilen
der Lichtquelle heiTühren, die sich in dem stärksten Theil des magneti-
schen Feldes befinden. Um diefs zu bewirken, w^urde der Geifs 1er' sehen
Ftg. 2. Fig. 3.
B
A
Röhre die folgende Foim gegeben (Fig. 2). Die Capillare durchsetzte senk-
recht den stärksten Theil des Feldes, und eine Blende AB liefs nur Licht
aus diesem Theil auf den Spalt gelangen. Um den gleichen Vortheil auch
für ultraviolette Strahlung zu haben, wurde an die (kapillare in der Mitte
ein Rohr angesetzt, das von einem Flufsspathfenster verschlossen war (Fig. 3).
Ein Quarzfenster darf man wegen der Rotationsdispersion des Quarzes nicht
nehmen, wenn man auch die Polarisation der Componenten feststellen will.
Man müfste denn schon zwei gleich dicke Stücke von rechts und links
dreliendem Quarz verwenden. Zur Untersuchung der Polarisation setzten
wir einen Kalkspath vor das Fenster der Röhre. Wenn wir nun durch
Quarzlinsen ein Bild der Capillaren auf dem Spalt entwarfen, so wurde es
durch den Kalkspath in zwei Bilder zerlegt, die senkrecht auf einander
polarisirt sind. Von diesen zwei Bildern konnten wir nun durch eine ge-
* U. Dubois, Ann. d. Phys., Bd. i, S. 199.
' F. Paschen, Phys. Zeitschrift i. Jahrg., S. 478. 1900.
fi C. Runge und F. Paschen:
ringe Änderung an den Fufsschrauben des Linsenstativs entweder das eine
oder das andere Bild auf den Spalt bringen. Bei richtiger Stellung des
Kalkspaths bestand das eine Bild aus Licht, dessen elektrische Schwingun-
gen in der Lichtquelle parallel den Kraftlinien vor sich gehen, das andere
Bild aus Licht, dessen elektrische Schwingungen in der Lichtquelle auf
den Kraftlinien senkrecht stehen. Dafs die Ebene der Schwingungen nach
dem Durchsetzen des Kalkspaths durch die Quarzlinsen gedreht wird, thut
nichts zur Sache.
Der Zusammenhang zwischen dem Zeeman-Effect und den Serien
zeigt sich darin, dafs alle Linien einer Serie, d. h. alle Linien, deren
Schwingungszahlen durch dieselbe Formel dargestellt werden, wenn man
die Ordnungszahl die Reihe der ganzen Zahlen durchlaufen läfst, durch
das magnetische Feld in derselben Weise zerlegt werden, Linien verschie-
dener Serien dagegen in verschiedener Weise. Wie das zu verstehen ist,
geht am besten aus den Messungen hervor. Unsere Messungen beziehen
sich alle auf die gleiche Feldstärke, obgleich nicht alle Aufnahmen bei
der gleichen Feldstärke gemacht sind. Man kann sie nämlich auf die
gleiche Feldstärke reduciren. Denn es zeigt sich, dafs bei verschiedenen
Feldstärken die Abstände der Componenten einer Linie einander proportional
bleiben, so dafs die Componenten immer dasselbe Bild zeigen und nur der
Mafsstab, in dem das Bild gezeichnet ist, mit der Feldstärke wächst.
Eine scheinbare Ausnahme erleidet diese Regel bei einigen schwächeren
Componenten , die bei den kräftigsten Linien beobachtet werden. Es kann
indessen kaum zweifelhaft sein, dafs diese Componenten nicht zu den Linien
selbst gehören, sondern zu Satelliten, die ohne magnetisches Feld dicht
neben ihnen liegen. Könnte man die Componenten des Satelliten allein
beobachten, so würde sich vermuthlich ergeben, dafs auch ihre Abstände
einander proportional bleiben, wenn die Feldstärke sich ändert, obgleich
ihre Abstände von den Componenten der Hauptlinie nicht einander pro-
portional bleiben. Um indessen diese Frage befriedigend zu erledigen,
müfste man gröfsere Dispersion zur Verfügung haben als sie das Row-
land'sche Gitter gewährt. Denn die Componenten der Hauptlinie ver-
decken die Componenten des Satelliten gar zu leicht, besonders bei schwäche-
ren Feldstärken.
Unsere Beobachtungen zeigten ferner, dafs der mit wachsender Feld-
stärke wachsende Mafsstab der Zerlegung für alle Linien des Spectrums
Uher die Strahlung des Quecksilbers im magnetischen Felde, 7
immer im gleichen Verhältnifs wächst, d. h. wenn bei einer Steigerung
der Feldstärke der Mafsstab der Zerlegung einer Linie im Verhältnis a : b
wächst, so wächst der Mafsstab der Zerlegung jeder anderen Linie in dem-
selben Verhältnifs, Vi^ir haben diese Thatsache bei den Quecksilberlinien
für Feldstärken von etwa 1 2000 (c.g.s.) bis 25000 (c.g.s.) geprüft. Diese
Beobachtungen widerstreiten den Angaben von N. A. Kent\ der, ebenso
wie H. M. Reese, von den drei Zinklinien 4680, 4722, 481 1, welche die-
selben Zerlegungen zeigen wie die Quecksilberlinien 4047, 4359, 5461,
ein anderes Verhalten behauptet. Danach soll der Mafsstab der Zerlegung
von 5461, wenn die Feldstärke über 18000 (c.g.s.) hinauswächst, nicht
so stark, zunehmen wie der von 4047 und 4358. Indessen ist gegen die
Angaben von Kent und Reese einzuwenden, dais sie den Typus der
Quecksilberlinie 5461 gar nicht erhalten haben. Sie sprechen von ihm
als von einem diffusen Triplet, während er in W^irklichkeit, wie die Taf. I
zeigt und wie schon Michelson ihn beschrieben hat, aus neun Compo-
nenten besteht, von denen die mittleren drei senkrecht zu den äu&eren
sechs polarisirt sind. Kent und Reese haben, indem sie die mittleren
drei Componenten durch einen Nicol zum Verschwinden brachten, den Ab-
stand der beiden Gruppen der äu&eren mit einander verschwimmenden
Componenten gemessen. Ihren Messungen ist daher ein erheblich gerin-
geres Gewicht beizulegen als den unsrigen. Ob der Mal^stab der Zer-
legung der Feldstärke proportional wächst oder in einer anderen Abhängig-
keit von der Feldstärke steht, haben wir nicht untersucht, da wir keine
Feldstärken gemessen haben. Die von uns angewendete Reduction aller
Beobachtungen auf die gleiche Feldstärke setzt nicht die Proportionalität
voraus, sondern gründet sich nur darauf, dafs der Mafsstab der Zerlegungen
bei verschiedenen Linien in der gleichen Weise von der Feldstärke abhängt.
Im einzelnen gestaltete sich die Reduction in der folgenden Weise, Auf
fünf der besten Aufnahmen wurden die Wellenlängenunterschiede der neim
Componenten der kräftigen grünen Linie A = 5460.97 gemessen, die von
allen Linien des Spectrums am weitesten durch das magnetische Feld zer-
legt wird. Nach der Methode der kleinsten Quadrate wurden nun 1 3 Un-
bekannte bestinamt, nämlich die 4 Factoren, mit denen die Messungen von
vier der Aufnahmen zu multiplieiren sind, um den Mafsstab auf den der
N. A. Kent, Astroph. J. XIII, 8. 294.
8 C.Runge und F. Paschen:
fönften zu reduciren , und die 9 Wellenlängencorrecturen , die an den Messun-
gen der fünften Aufnahme anzubringen sind. Es gelingt sogleich, die Normal-
gleichungen so umzuformen, dafs man es nur mit vier Gleich imgen för die
vier Factoren zu thun hat. Jede der 9 Wellenlängencorrecturen ergibt sich
dann als lineare Function der vier Factoren. Mit den so gewonnenen vier
Factoren wurden nun auch die anderen Linien der fünf Aufiiahmen auf
einander reducirt, und die unten aufgeführten Zerlegungen sind die Mittel
aus den so gefundenen Zahlen. Die Feldstärken der fünf Aufnahmen sind
nicht sehr stark von einander verschieden. Die Mafsstäbe der Zerlegung
weichen im äufsersten Fall 23 Procent von einander ab.
Für viele Linien, namentlich schwächere, wurden aber auch noch zahl-
reiche andere Aufnahmen verwerthet. Um diese auch auf dieselbe Feld-
stärke zu reduciren, wurden die Mittel der Zerlegungen der Linien 5461,
4359? 4047, wie sie sich aus den fünf besten Aufnahmen ergeben hatten,
als richtig angenommen und nun fiir jede neue Aufnahme der Reductions-
factor nach der Methode der kleinsten Quadrate bestimmt, ohne jedoch
Gorrecturen der Wellenlängen der einzelnen Componenten als Unbekannte
einzufuhren. Man hat es dann bei jeder Linie aufser mit dem gesuchten
Reductionsfactor mit nur einer Unbekannten zu thun, der Parallelverschie-
bung der Componenten der neuen Aufnahme. Die Parallelverschiebung be-
stimmt sich, wie man nach der Methode der kleinsten Quadrate leicht zeigt, in
der Weise, dafs der Schwerpunkt der Componenten fiir die neue Aufnahme
mit dem Schwerpunkt der gegebenen Componenten übereinstimmen mufs.
Die Feldstärke, auf die alle Messungen reducirt sind, ist von uns nicht
direct, sondern nur mit Hülfe der Messungen von Michelson, Reese, Mar-
chand luid Blythwood zu 24600 (c. g.s.) bestimmt worden. Wir geben
die Rechnung weiter unten. In der folgenden Tabelle sind alle Messungen
zusammengestellt. Die Wellenlängen der Linien, ohne die Einwirkimg des
magnetischen Feldes, sind die von Kayser und Runge gegebenen. Natür-
lich ist die relative Genauigkeit der Componenten erheblich gröfser als die
absolute, die hier eine untergeordnete Bedeutung hat. Die Bezeichnungen .
»parallel« und »senkrecht« bedeuten, dafs die elektrischen Schwingungen
parallel oder senkrecht zu den Kraftlinien sind. Der angegebene mittlere
Fehler bezieht sich nur auf die relative Genauigkeit, Die Intensitäten der
Componenten sind geschätzt in einer Scala, in der die gröfste Intensität
gleich 10, die kleinste gleich i oder < i gesetzt ist. Die mit AX bezeichnete
Über die Strahlung des Quecksilbers im 7nagnetischen Felde.
Colonne enthält die Wellenlängenunterschiede der Componenten gegen die
unveränderte Linie in Tausendsteln einer Angström 'sehen Einheit. Die
mit — AA/X' überschriebene Colonne gibt die Differenzen der Schwingungs-
zahlen {'Ix = Zahl der auf i*^ kommenden Wellen, wo X in Centimetern
gemessen ist). Die Reihenfolge der Linien ist nach den Serien und nach
wachsenden Schwingungszahlen angeordnet. Die Nebenserien sind eigent-
lich sechs. Aber je drei von ihnen, die in der Scala der Schwingungs-
zahlen gezeichnet einander congruent sind, werden auch wohl zusammen
als eine Nebenserie bezeichnet. Bei der zweiten Nebenserie bestehen alle
drei aus einfachen Linien, bei der ersten Nebenserie dagegen ist jede Linie
von Satelliten begleitet. Zuerst sind die drei Serien der zweiten Neben-
serie, dann die drei Serien der ersten Nebenserie mit den Satelliten auf-
geföhrt und endlich die Linien, die nicht zu den Serien gehören.
Ungestörte
Wellen-
länge
Wellenltngen im
magnetischen
Felde»
parallfl | senkrecht
Mittlerer
Fehler
Inten-
sität
AX
-AXA'
Bemerkungen
Zweite Nebenserie I.
1.605
3
+635
-2.13
1.454
5
+484
— 1.63
1.389
4«
-*-3>9
— 1.07
1.127
3
+157
-0.53
5460.97
0.970
0.0034
4»
0
0
0.807
3
-163
-H>.55
0.654
4«
-316
-1-1.06
0.483
5
-487
+1.63
0.334
3
-646
+3.17
1.939
0.0034
< I
-•-339
-3.05
1.876
0.0034
I
+176
-1.58
I.8I6
0.0034
3
•4-116
—1.04
1.763
^ 0.0034
I
+ 63
-0.56
3341.70
1.700
3
0
0
"639
I
- 61
+0.55
Nach kleineren Wellenlängen nimmt man
noch zwei, nach nrofseren noch eine
senkrecht zu den Kraftlinien schwin-
gende Componente wahr, die vemiuth-
lich zu Satelliten der Hauptlinie ge-
hören, da ihre Abstände von der
Hauptlinie sich nicht proportional zu
den anderen Abständen mit der Feld-
stärke ändern. Auch zwischen den auf-
gefilhrten bemerkt man noch schwache
Linien.
^ Die ersten drei Ziffern der Wellenlängen sind fortgelassen.
* Manchmal waren die Componenten 0.654 und 1.289 stärker als die Componenten
0.483 und 1.454, manchmal diese stärker als jene.
' Die Intensität der mittelsten Componente ist bei Rohren mit Ansatz schwächer als
die der benachbarten. Die mittelste wird in den Rohransatz absorbirt. Wir haben uns
hiervon auch aufserhalb des magnetischen Feldes mit dem Echelonspectroskop überzeugt.
Wenn man durch Erhitzen des Quecksilbers den Druck im Rohr steigert, so sieht man in
den Röhren mit Ansatz die Umkehrung der Linien 5461 und 4359.
Phys, Äbh, nicht zur Akad, gehör. Gelehrter. 1902. I. 2
10
C.Runge und F. Paschen:
Ungestörte
Wellen-
länge
Wellenlängen im
magnetischen
Felde
Mittlerer
FeMer
Inten*
sität
A\
-AX/X.*
Bemerkungen
parallel
senkrecht
1.584
0.0024
2
-116
-HI. 04
1.524
0.0024
I
-,76
-I-I.58
1.463
0.0034
< I
-238
+2.I3
2925-5«
5.510
5.604
5.416
0.006
0.006
I
I
I
+ 94
- 94
— I.IO
-HI. 10
Die Componenten sind getrennt nur
beobachtet, wenn die parallel den
Kraftlinien schwingenden Componen-
ten unterdrückt wurden.
Zweite Nebenserie II.
4358.56
2893.67
2576.31
8.668
8.458
3-713
3.621
6.31
8.968
8.867
8,249
8.150
3-849
3.808
3.534
3-496
6.419
6.200
+408
-2.15
+307
-1.62
O.OOII
+ 108
— 102
-0.57
+0.54
-311
+1.64
-410
+2.16
0.0030
2
+179
-2.14
0.0030
2
+138
—1.65
0.0023
I
-»- 43
—0.51
0.0023
t
- 49
-1-0.58
0.0030
2
-136
+1.62
0.0030
2
-174
•4-2.08
O.Ol
+109
—1.64
O.Ol
—110
-hl .66
Zwei schwächere senkrecht zu den
Kraftlinien schwingende Componen-
ten bei 4359.05 und 4358.07, deren
Abstände von der Hauptlitiie sich mit
der Feldstärke nicht proportional zu
den anderen Abständen ändern, ge-
hören vermuthiich zu Satelliten der
Uauptlinie. Auch schwächere parallel
den Kraftlinien bchwingende Compo-
nenten sind zu bemerken, die auch
wohl den Satelliten angehören.
Die Comi)onenten sind nur dann ge-
trennt beobachtet, wemi die parallel
schwingenden unterdrückt waren.
4046.78
2752.91
6.780
2.910
7.136
6.423
3.086
2.753
}
Zweite Nebenserie IIL
0.0022
0.007
0.0 10
0.007
7 I
6
I
3
■356
o
•357
—2.17
o
4-2.18
4-176
o
->57
—2.32
o
-1-2.07
Drei schwächere, senkrecht zu den
Kraftlinien schwingende Componen-
ten bei 7.223, 7.080, 6.365 gehören
vermuthiich nicht zu der Hauptlinie
sondern zu Satelliten, da ihre Ab-
stände von der Hauptlinie sich nicht
proportional den anoeren Abständen
mit der Feldstärke ändern. Auch
schwächere, parallel zu den Kraftlinien
schwingende Componenten sind zu
bemerken, die auch wohl zu den
Satelliten gehören.
Über die Strahlung des Quecksilbers im magnetischen Felde.
11
O"
Ungestörte
WeUen-
länge
WellenUngeii im
magnetischen
Felde
paimUd I Bcnkrecht
Mittlerer
Fehler
Inten-
sität
AX
-AX/X'
Bemerkungen
3663.46
Satellit
3663.05
Satellit
3023.64
Satellit
3021.68
Hauptlinie
2803.69
3131.95
Satellit
3. »98
3.050
2.903
2.007
1.950
1.884
3.582 I
3.528
3.398
3332
3.769 ;
3.734 ,
3.546
3500
".705
1.655
3.69
3.732
3.672
3.610
3.542
3.370
3.318
3.249
3.«87
3.428
3.274
3.128
2.977'
1.569
3.776
3.604
2.102
2.058
2.007
1.884
1.843
1.784
Erste Neben
0.0019
0.0024
0.0024
0.003 1
0.0038
0.0024
0.009
0.0031
0.0024
0.0024
0.0 t
0.004
0.0 10
0.010
0.004
0.014
0.014
I
3
2
5
2
2
2
3
5
3
4
t
2
u
2
I
4
I
3
I
3
2
2
2
2
3
3
2
3
I
I
+272
+212
+150
-4-122
+ 82
4- 68
- 62
- 90
-128
-142
—211
-273
-fr-378
+224
4-148
+ 78
o
- 73
-U7
—222
-371
4-129
4- 94
- 94
—140
4-112
-fr- 25
- 25
—III
4- 86
~ 86
sene
—2.06
— 1.61
-1.14
-0.92
—0.62
—0.51
40.47
40.68
40.97
4-1,08
4-1.60
4-2.07
—2.81
—1.67
— i.io
—0.58
o
-♦0.54
4-1.09
4-1.65
4-2.76
-1.4 1
—1.03
4-1.03
+I.53
—1.22
-0.27
40.27
4-1. 21
— I.IO
-fr-I.IO
I.
}Die durch Klammern zusammenge-
fafsten Linienpaare liefen in eine
Linie zusammen, wenn beide Arten
von Schwingungen zugelassen waren.
!
Die beiden Componenten von grofster
Wellenlänge werden bei dieser Feld-
stärke von den Componenten der
Linie 3663.46 verdeckt. Sie sind bei
feringer Feldstärke beobachtet und
ann auf die grofsere Feldstärke re-
ducirt worden.
> Nicht deutlich getrennt.
Nicht deutlich getrennt.
Die Componenten sind nur dann ge-
trennt beobachtet, wenn die parallel
schwingenden unterdrückt wurden.
Erste Nebenserie IL
0.0037
I
4-152
-1.55
0.0030
3
-f-108
— I.IO
0.0030
4
+ 57
-0.58
0.0037
< I
0
0
0.0030
4
- 66
4-0.67
0.0030
3
-107
-fr- 1.09
0.0053
t
-166
-•-1.69
Die als gleichzeitig parallel und senk-
recht zu den Krattlinien schwingend
aufgeführten Componenten scheinen
nicht genau zu coincidlren. Die paral-
lel scnwingenden haben vermutlilich
einen etwas grofsern, die senkrecht
schwingenden einen etwas kleinern
Abstand als den angegebenen.
' Diese Coinponente ist sehr schwach, wesentlich schwächer als 3663.128 und daher
nur mit geringer Genauigkeit bestimmt.
12
C. Runge und F. Paschen:
Ungestörte
Wellen-
länge
Wellenl
magn<
F(
parftllel
ängen im
^tischen
3lde
senkrecht
I.84I?
I.84X?
1.815
1.764
3131-66
Satellit
»•555
I.716
1.604
1.502
1.452?
1.452?
5.936?
5936?
5.897
5.858
5.819
3J25.78
5.780?
5.780?
Hauptlinie
5.744 .
5.705
5.664
5.627
5.627
•
5.346
2655.29
529
Satellit
3-932
4.234
3970
2653.86
Satellit
3.788
3.906
3.812
3.754
2.295
2652.22
2.220
Hauptlinie
2.145
Mittlerer
Fehler
Inten-
sität
AX
-AX/X»
Bemerkungen
2967.64
Satellit
2967.37
2534.89
7.740
7.640
7.541
7.423
7.423
7.370
7.318
7.318
4.920
4.920
4.89
4.860
4.860
0.0026
< 1
0.0015
3
0.0018
3
0.0015
3
0.0015
3
0.0018
3
0.0015
3
0.0026
< X
0.00 10
I
0.0007
2
0.0007
3
0.00 10
I
0.00 10
1
0.00 10
1
0.0007
2
0.0007
3
0.00x4
I
0.0043
I
I
0.0043
I
0.0x2
I
0.0 13
I
0.012
I
0.012
I
0.012
I
0.012
I
0.006
3
0.012
3
0.006
2
-4-i8x
+155
+104
H- 56
-56
-105
-158
—208
+156
+XI7
+ 78
•♦- 39
o
-36
- 75
-116
->53
•♦- 56
- 56
+110
+ 72
+ 46
-48
- 72
—106
+ 75
o
- 75
-1.85
-1.58
—1.06
-0.57
•^•57
+1.07
+1.59
-4-2.12
—1.60
—1.20
—0.80
-0.40
o
•^.37
+0.77
+1.19
+1.57
-0.79
+0.79
—1.56
—1.02
-0.65
+0.68
-1-1.02
+1.51
—1.07
o
+1.07
Die mit ? bezeichneten Componenten
sind nur ohne Ralkspath beobachtet
worden. Ihr Polarisationszustand
kann daher nicht angegeben werden.
Die Componenten sind nur getrennt
beobachtet worden, wenn die parallel
schwingenden Componenten unter-
drflckt wurden.
Erste Nebenserie HI.
0.003
0.004
0.003
0.004
0.004
0.004
O.OOI
0.001
I
+100
-I.I4
I
0
0
2
- 99
+I.I2
4
+ 53
—0.60
•
3
0
0
3
- 52
•+O.59
I
H- 30
-0.47
1
- 30
-+O.47
Die mittlere Componente ist breit.
Die Componenten konnten getrennt nur
dann beobachtet werden, wenn die
parallel den Kraftlinien schwingen-
den Componenten unterdrückt waren.
Uher die Strahlung des Quecksilbers vn magnetischen Felde.
13
Linien des Quecksilberspectrums, die nicht zu den Serien
gehören.
Ungestörte
Wellen-
länge
AX
-AX/X*
Mittlerer
Fehler
Inten-
sit&t
Benierkimgen
5790.49
5769.45
4916.41
4347.65
4339.47
4108.2
4078.05
3984.08
+369
o
-399
+414
o
— I.IO
o
+1.19
—1.24
o
-415 +1.25
+271
o
-259 ;
+206
o
—206
•4-246
o
—252
+156
o
— I.I2
O
•♦-1.07
—1.09
O
•♦-1.09
-I.3I
o
+1-34
.92
o
—180 +1.07
+268
o
-274
— I.6I
o
+1.65
0.0067
0.0082
0.0067
0.0017
0.0021
0.0017
0.0018
0.0020
0.0018
0.0048
0.0064
0.0048
0.0034
0.0043
0.0034
I
3
I
2
5
2
I
2
I
2
4
2
I
3
I
I
2
I
3
6
Bei allen hier aufgeführten Linien aufser der letzten
schwingen die beiden äoTseren Componenten senkrecht
zu den Kraftlinien, die mittlere dagegen parallel den
Kraftlinien.
^'1 57S9.33 liegt noch eine schwache Linie, deren Zer-
legung im magnetischen Felde aber nicht mit Sicher-
heit hat beobachtet werden können.
Die Wellenlänee ist von Eder und Valenta bestimmt',
welche die Linie unter den Bandenlinien des Queck-
silbers führen.
Die Linie 3984.08 (Kayser und Runge) besteht im
ungestörten Zustand aus 3 Componenten 4.196; 4.1 21;
4.054. Bei Einschaltung des Feldes erhielten wir nur
einen verschwommenen Streifen.
^ Die Linien dieser Liste, bei denen kein mittlerer Fehler ang^eben ist, sind nur
ein Mal beobachtet. Die Genauigkeit ist bei ihnen erheblich geringer.
' Eder und Valenta, Über die verschiedenen Systeme des Quecksilbers. Abhand-
lungen der Wiener Akademie, 1894.
14
C. Runge und F. Paschen:
Ungestörte
Wellen-
länge
AX
~A\/X'-
Mittlerer
Fehler
Inten-
sität
Bemerkungen
+ 141
—0.92
2
• 3906.6
0
0
4
-144
+165
+0.94
—1.08
2
I
Die Wellenlängen sind die von Eder und Valenta
angegebenen.
3902.1
0
0
2
-159
+1.04
I
2847.85
H-94
0
-94
— 1.16
0
+1.16
I
I
Die Componenten konnrcn wir getrennt nur beobachten,
wenn die parallel den Kraftlinien schwingende Coui-
pouentft unterdrflckt wurde.
2536.72
+"5
->«5
-1.79
+1.79
0.0028
0.0028
10
10
Diese kräftige Linie spaltet sich in zwei Componenten,
die beide senkrecht und pai-allel den Kraftlinien
schwingen. Neben diesen beiden Com})ouenten er-
scheint nach der Seite der grofseren Wellenlängen je
eine schwache Componente im Abstand 0.090. Man
sollte vermuthen, dals diese zu einer Linie 2536.81
gehören. Aber wir haben im ungestörten Zustande
neben 2536.72 keine Linie beobachtet.
Soweit die Genauigkeit der Messungen reicht, zeigen die Linien der-
selben Serie, d. h. solcher Linien, die durch dieselbe empirische Formel von
Kayser.und Runge oder von Rydberg dargestellt werden, die gleiche Zer-
legung durch das magnetische Feld in dem Sinne, dafs in der Scala der
Schwingungszahlen gezeichnet die Componenten aller Serienlinien die glei-
chen Abstände haben und dafs entsprechende Componenten auch in der-
selben Weise polarisirt sind. Nur sind bei den schwächeren Linien in der
Regel nicht alle Componenten beobachtet, und bei den kleineren Wellen-
längen rücken die Componenten so dicht an einander, d(ifs sie nicht mehr
getrennt werden konnten. So sind z. B. bei den zu einer Serie gehörenden
Linien 5461,3342,2926 9 Componenten der ersten (abgesehen von den
schwachen Componenten, die wir Satelliten zuschreiben), 9 Componenten
der zweiten und nur 3 Componenten der dritten beobachtet. Dennoch ist
kaum daran zu zweifeln, dafs die Zerlegung auch bei der dritten Linie
die gleiche ist. Die beobachteten Componenten bestätigen es, während das
Fehlen einiger Componenten sich durch ihre geringe Intensität erklärt. Die
Genauigkeit, mit welcher sich dieselben Schwingungsdifferenzen wiederholen,
entspricht durchaus der Genauigkeit der Messungen. So haben wir z. B.
bei 5461 und 3342 för — AA/A' die Werthe
über die Strahhmg des Quedcsäbers nn magnetischen Felde.
15
5461
3342
Differenz
Quadrate
-3.13
—2.05
—0.08
64
—1.62
-1.58
—0.04
16
—1.07
-1.04
—0.03
9
-0.53
—0.56
-♦-0.03
9
0
0
0
—
■HJ.55
•^.55
0
•♦-1.06
+1.04
-H).02
4
-••1.63
+1.58
+0.05
25
-♦-2.17
+2.13
+0.04
16
Summe 143
}/'-f--
42
Der mittlere Fehler 0.042 für die Differenz der Werthe von AA/A' stimmt
hinreichend überein mit dem Werthe, den man für diese Gröfse aus den mitt-
leren Fehlern der Wellenlängen der Componenten von 5461 und 3342 be-
rechnen kann. Man berechnet bei 5461 für AX/V einen mittlem Fehler
von o.oii, bei 3342 von 0.035 und 0.041. Daraus folgen fiir die Diffe-
renzen der Werthe von AA/X" bei 5461 imd 3342 die mittleren Fehler 0.037
und 0.042, je nachdem es sich um die genaueren oder weniger genauen
Componenten von 3342 handelt.
Die dritte Serienlinie 2926 liefe nur 3 Componenten erkennen. Die beob-
. ..
achteten Werthe von AA/A' sind aber auch hier in Übereinstimmung mit
den zu erwartenden, wenn man annimmt, dafs nur die stärksten Compo-
nenten erschienen sind.
Bei der ersten Nebenserie ist die Wiederholimg der Typen schwieriger
zu beobachten als bei der zweiten, weil die Linien zu kleineren Wellen-
langen gehören und daher in der Scala der Wellenlängen die Componenten
näher an einander liegen. Soweit die Genauigkeit der Messung reicht, zeigt
sich jedoch auch hier die gleiche Zerlegung der Linien derselben Serie, so-
wohl der Hauptlinien wie der Satelliten. Kent behauptet, dafs für Linien
derselben Serie die Zerlegung nicht dieselbe sei, sondern dafs AA/A* z. B.
von Hg 5461 zu Hg 3342 im Verhältnifs von 3 zu 4 zunehme.* Da er
indessen die einzelnen Componenten der untersuchten Linien nicht getrennt
hat, so will der Widerspruch mit unseren Messungen wenig bedeuten.
Kent, Astroph. J. XllI , 8.316. 1901.
16
C. Runge und F. Paschen:
Die nicht zu den Serien gehörenden Linien werden bis auf die starke
Linie 2536.72 alle in je drei Componenten zerlegt. Die Differenzen der
Schwingungszahlen der Componenten sind nahezu dieselben, zeigen aber
doch Abweichungen, die erheblich über die Beobachtungsfehler hinausgehen.
Es ist z. B. kein Zweifel möglich, dafs die Componenten von 5769 gröfsere
Schwingungsdifferenzen ergeben als die Componenten von 5790 und ebenso
die von 4339 gröfsere als die von 4348.
Einen Überblick über die sämmtlichen vorkommenden Schwingungs-
differenzen gewährt die folgende Tafel. Von den Serienlinien ist hier bei
jeder Serie nur die stärkste aufgeführt; die anderen würden, wie oben
bemerkt, bei vollständigen Beobachtungen dieselben Schwingungsdiffe-
renzen ergeben. Ein s oder p neben der Zahl bedeutet, dafs die elektrische
Schwingung senkrecht zu den Krafllinien oder parallel zu ihnen vor
sich geht.
Tabelle der Schwingungsdiffe
die Componenten im
renzen — AA/A* der ungestörten Linie gegen
magnetischen Felde (24600 c. g. s.).
5461
—2.138
— 1.628
— 1.078
-0.53p
op
+0.5 5P
+1.068
+1.638
1
+2.I7S
4359
—2.15s
— 1.62s
-0.57p
•+0.54P
+1.64S
+2.i6s'
4047
—2.178
op
+2.i8s
3663.5
—2.068
— I.6I8
—1.14s
-0.92p
-0.62 8
--0.51p
op
+0-47P
-K).688
+0.97P
+1.088
+X.608
+2.07 s
3132.0
-1.558
— I.IOS
-0.58 p U. 8
op
-K).6*
p u.8
+1.09S
+1.698
* 1
2967.6
— I.I48
op
+I.I28
1
1
3663.0
—2.8 18
—1.678
— i.iop
-0.588
op
-HJ.548
+I.09P
+1.65 si +2.:tj
3«3«-7
-1.85?
-1.58s
— i.o6p
-0.578
+0.578
+I.07P
+1.59S
+2.12?
2967.4
—0.60 p U.8
op
-K).59pu.8
3655.0
— 1.988
—1.56s
-'.3SP
—1.19s
— o.8ip
—0.76s
-0.37p
-H).38p
-H).77s
+0.82P
+I.I58
+I.33P
+1.588
+ I.99S
3125.8
— 1.60?
— I.20S
—0.80 s
—0.40p
0?
+0.37P
+0.778
+I.I98
+1.57?
3650
— 1.288
-0.32p
+0.36P
+1.27S
4078
— I.6IS
op
+1.65S
5769
-1.248
op
+1.258
1
4339
— I.3I8
op
+1.348
5790
— I.IOS
op
+I.I9S
1
434«
—1.098
op
+1.098
4916
— I.I2S
op
+I.07S
4108
1
—0.92s
op
+1.078
3907 !
'
—0.92 s
op
+0.948
3902
—1.088
op
+i.04s!
1
2848
—1.16
op
+i.i6s
1
2537 !
-1.79
1
1
+1.79
ptt.8
pU. 8
■ •
Über die Strahlung des Quecksilbers im magnetischen Felde. 17
In der Tabelle sind zunächst die Serienlinien aufgeführt und zwar zuerst
die Repräsentanten der drei Serien, die unter der Bezeichnung zweite Neben-
serie zusammengefafst werden. Dann folgen die Repräsentanten der ersten
Nebenserie und zwar in solcher Anordnung, dafs die Satelliten und Haupt-
linien, deren Schwingungszahlen dieselben Differenzen ergeben wie die drei
Serien der zweiten Nebenserie, immer zusammengestellt sind. Die Anordnung
entspricht genau den Rydberg'schen Gesetzen für die zusammengesetzten
Triplets.^ Zuletzt sind die nicht zu den Serien gehörenden Linien aufgefahrt.
Die Tabelle zeigt deutlich einen Zusammenhang zwischen den Schwin-
gungsdifferenzen der verschiedenen Linien. Bestimmte Differenzen wieder-
holen sich so oft und mit so grofser Genauigkeit, dafs man es kaum dem
Zufall wird zuschreiben wollen. In den drei zusammengeliörigen Serien
hat die Linie der gröfsten Wellenlänge die meisten Componenten, die der
kleinsten Wellenlänge die wenigsten. Während aber bei der zweiten Neben-
serie die bei kleinerer Wellenlänge wegfallenden Componenten aus der Mitte
genommen sind, fallen bei der ersten Nebenserie die seitlichen weg. Von
den 1 1 nicht zu den Serien gehörenden Linien zerlegen sich 7 in Compo-
nenten mit denselben Schwingungsdifferenzen. Dieselben Differenzen treten
auch bei den meisten Serienlinien auf, nur dafs hier noch weitere Compo-
nenten hinzukommen. Die in der zweiten Nebenserie auftretenden Schwin-
gungsdifferenzen im Mittel: — 2.15; — 1.62; — 1.07; — 0.55; o; -»-0.54;
-!-i.o6; -1-1.64; -»-2.17 sind sehr nahe aequidistant. Die beobachteten Werthe
'sind sehr wenig verschieden von den Vielfachen von ±0.54: ±0.54; ±1.08;
±1.62; ±2.16. Eben diese Schwingungsdifferenzen sind auch unter den
übrigen Linien am häufigsten vertreten. Insbesondere ist ±1.08 die Weite
der letzten sieben nicht zu den Serien gehörenden Triplets. Es zeigt sich
damit ein Zusammenhang dieser Triplets mit den Serien, der vielleicht in
letzter Linie auf die constante lonenladung zurückzufuhren ist.
Die Feldstärke, auf welche unsere Messungen sich beziehen, haben
wir aus den Messungen von Michelson^ Reese^ und Blythwood und
Marchand^ bestimmt unter der Annahme, dafs die Abstände der Compo-
nenten der Feldstärke proportional sind.
' Vergl. Runge und Paschen, Ann. d. Pliys., Bd. 5, S. 725.
• A. Micheison, Astroph. J. VII , S.136. 1898.
• Reese, Astroph. J. XII, S. 120 — 135. 1900.
^ Blythwood und Marchand, Phil. Mag. 40, S. 397.
Phys, Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. I.
18 C. Runge u. F. Paschen: Über die Strahlung d^s Quecksilbers u. s.w.
Es ergaben sich die Werthe:
nach Michelson 21367 c.g.s. nos 4 Hg-Lioien,
nach Reese 36330 cg.s. aus 3 Hg-Linien,
nacli Reese 25020 c.g.s. aus 6 Cd-, Zn-, Mg -Linien ^
nach Blythwood und Marchand 25030 c.g.s. aus 4 Ug-Linien.
Da Michelson und Reese die Hg-Linien nicht vollständig zerlegt haben,
so geben wir den ersten beiden Zahlen das Gewicht i, den letzten beiden
das Gewicht 2 und finden als Mittel:
Feldstarke: 24633 cg.s. (mittlerer Fehler: 1000 c.g.s.).
Eine genauere Bestimmung der Feldstärke wäre erwünscht, weil der mittlere
Fehler der Feldstärke relativ wesentlich grö&er ist, als der der Schwin-
gungsdifferenzen der Componeuten.
Erklärung der Tafeb.
Die Tafeln stellen etwa 12 bis 13 -fache Verffröfserungen unserer photographi-
schen Aufnahmen dar, die Hr. Hans Haus wal dt die Güte hatte mit grofser Sorg-
falt fiir uns herzustellen. Auch die Drucke sind von Hrn. Hauswaldt ausgeführt.
Taf. I. Die drei Typen der zweiten Nebenserie des Quecksilbers.
Taf. n. Die Quecksilberlinie 3650 der ersten Nebenseiie mit ihren Satelliten.
Schwingungen senkrecht zu den Kraftlinien.
Taf. m. Dieselben Linien. Schwingungen parallel den Kraftlinien.
Taf. IV. Dieselben Linien. Beide Arten von Schwingungen.
Taf. V. Die Quecksilberiinie 3125.8 der ersten Nebenserie mit ihren Satelliten.
Sch\^ingungen senkrecht zu den Kraftlinien und beide Arten von Schwin-
gungen vereinigt.
Taf. VL Die Quecksilberlinie 2967.4 der ersten Nebenserie. Schwingungen senkrecht
zu den Kraftlinien und beide Arten von Schwingungen vereinigt. Der
Satellit von 2967 ist auf der Reproduction nicht zu sehen. Die beideft
gelben Quecksilberlinien 5790.5 und 5769.4.
^ Die Cd-, Zn-, Mg -Linien wurden gleichzeitig mit Hg-Linien im magnetischen Felde
aufgenommen, indem wir die Cd-, Zn-, Mg -Elektroden amalgamirten.
K. Preii/s. Akad. d. Wissensch,
Anhang z. d. Abh. 1^02.
t A ^ 12.9 mm.
1 A — I2.e mm.
5461.0
Ehktntche SchwingaogM »«nkr^eht la den Kraftlinien.
t A^ 12.e mm.
5481.0
EhktritchB Schwingungen parallel den Kraftlinien.
1 A = 12.6 m,
C. RUNGE und F. PASCHEN: Strahlung des Quecksilbers.
Taf. I.
A' Preujs. Akad. d. Wissensch,
Anhang z, d. Abh, i(^o2.
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C. RUNGE und F. PASCHEN: Strahlung des Quecksilbers.
Taf. II.
A'. Preufs, Akad, d, Wissensch.
Anhang z, d. Abh, ii)02.
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C. RUNGE und F. PASCHEN: Strahlung des Quecksilbers.
Taf. 11 1.
h'. Preitfs, Akad. d, IVissensc/i.
Anlumg z, d. AM, 1^02.
C. RUNGE und F. PASCHEN: Strahlung des Quecksilbers.
Taf. IV.
fC. Preu/s, Akad, d, IVisscnsch.
Anhang z, d, Abh, i(^02.
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C. RUNGE und F. PASCHEN: Strahlung des Quecksilbers.
Taf. V.
K, Preu/s. Akad, d, Wissensdu
Anhang z, d, Ahh. i()02.
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O)
I
1^
■
O)
I
C. RUNGE und F. PASCHEN: Strahlung des Quecksilbers.
Taf. VI.
Die Variationen bei Artemia salina Leach. und ihre
Abhängigkeit von äufseren Einflüssen.
Von
Dr. M. SAMTER und Dr. R. HEYMONS,
Fhya. Abh. nieht tut Ahad. gehör. Oelehrttr. 1902. II.
Vorgel^t in der Sitzung der phys.-math. Ciasse am 17. Juii 1902
[Sitzungsberichte St. XXXVI. S. 841].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 23. October 1902.
Einleitung.
im Frü}\jahr 1901 benutzten wir einen mehrwöchentlichen Aufenthalt am
Ostufer des Kaspischen Meeres zu einem zweimaligen Besuch der Salz-
lagunen von MoUa Eary, um die Lebensbedingungen der dortigen Artemia
zu mitersuchen.
MoUa Eary liegt in einer nur spärlich bewachsenen Sandsteppe , welche
stellenweise noch reich an Muschelresten — Cardium — ist und sich so-
mit noch zweifellos als ehemaliger Meeresboden zu erkennen gibt. Das
betreffende Gebiet ist reich an Salz, auch fuhrt vom Kaspischen Meere,
und zwar vom Balchanski-Meerbusen aus, ein enger, stellenweise nur wenige
Meter breiter Wasserarm in geschlängeltem Verlaufe in die Steppe hinein.
Die Länge dieses mit stark salzigem Wasser gefüllten Kanals, der von
Ketten niedriger Sanddünen umsäumt ist, beträgt mehrere Kilometer. An
verschiedenen Stellen bildet der Kanal verhältnifsmäfsig grolse seenartige
Erweiterungen, die zeitweilig unter einander nur noch durch eine ganz
enge Gommunication zusammenhängen und somit fast vollständig abge-
schlossene Reservoire darstellen.
Der Salzgehalt in diesen verschiedenen Wasserbecken war in Folge ihrer
nahezu vollkommenen Trennung ein verschiedener. Während einige nur
etwa 8° — 15® Beaume aufwiesen, fanden wir in anderen das Wasser bereits
so concentrirt, dals das Salz in grofsen Mengen am Boden und am Ufer
auskrystaUisirte , bei brennender Sonnenhitze eine Schneelandschaft vor-
täuschend. Abgesehen von den grofsen Wasserbecken gab es eine An-
zahl kleiner flacher Tümpel, die am Rande der grofsen Wasserreservoire
lagen, aber zur Zeit unserer Anwesenheit von den letzteren vollständig
getrennt waren. Auch der Salzgehalt dieser kleinen Tümpel, welche theil-
weise nur einen Durchmesser von einem ode^ wenigen Metern besafsen,
4 M. Samteb und R. Heymons:
ist ein variabler. Im allgemeinen l&fst sich aber sagen, dals diese Tümpel
einen erheblich geringern Salzgehalt aufwiesen, als die benachbarten gro&en
Wasserbecken.
Es ist wohl anzunehmen, dals im Winter oder im Frühjahr nach
wiederholten starken Regengüssen die Tümpel mit den groJGsen tiefen Wasser-
becken in Zusammenhang treten können. Wenn hierauf das Wasser dann
später wieder zurückweicht, so ist es natürlich klar, dafe im Laufe der
Zeit der Boden am Rande am stärksten ausgelaugt werden wird, und dais
daher die dort in den Vertiefungen in Gestalt kleiner flacher Tümpel zurück-
bleibenden Wasseransammlungen weniger Salz enthalten müssen als die
gröfseren und tieferen central gelegenen Wasserbecken. Der verschiedene
Salzgehalt der letzteren ist andererseits auch leicht verständlich , wenn man
ihre räumliche Trennung von einander, sowie ihre verschiedene Tiefe be-
rücksichtigt, imd wenn man ferner den Umstand in Betracht zieht, dafs
in Molla Eary an verschiedenen Stellen brackige Quellen aus dem Boden
entspringen.
Zur Zeit unserer Anwesenheit fanden wir nicht nur die gröfeeren
stärker salzigen seenartigen Becken, sondern auch die kleinen Tümpel
gröJGstentheils von Artemia besetzt. Letztere fehlten dagegen vollständig in
einem von zahlreichen Ostrakoden und Wasserinsecten bevölkerten Brack-
wassertümpel, der von den Kirgisen zum Tränken der Kamele benutzt
wird, xmd sie fehlten femer auch in einigen mit Salzwasser gefällten seen-
artigen Erweiterungen, deren Wasser grofse Mengen von Schwefelwasser-
stoff enthielt. In einem kleinen Tümpel, aus dessen Grunde eine warme
Schwefelquelle hervorsickerte, fanden sich nur einige wenige todte Arte-
mien vor.
Die Individuenzahl , in der die Artemia im Frühjahr in Molla Kary
auftrat, mufs als eine geradezu ungeheure bezeichnet werden; sie bezifferte
sich in manchen der grofsen seenartigen Becken auf viele Millionen. Nament-
lich in den Morgenstunden näherten sich die Thierchen dem Ufer und ver-
liehen dem Wasser eine röthliche Färbung. In dem vom Winde am Ufer
ausgeworfenen Salzschaum bildeten die angespülten ilrfewia- Leichen stellen-
weise dicke rothe gallertige Massen und Klumpen.
Das Vorkommen des genannten entomostraken Krebses in Molla Kary
wurde bereits durch Walter — 1888 — festgestellt, aus dessen Mitthei-
lungen indessen hervorgeht, dafe er daselbst die Artemia nur aus fast
Die .Variationen bei Artemia saÜna Leach. 5
concentrirtem Salzwasser erlangt hat. Dem gegenüber ist hervorzuheben,
dais es uns möglich war, die Artemien an der gleichen Örtlichkeit, zu der-
selben Zeit und somit wohl auch im wesentlichen immer unter den gleichen
äulseren Lebensbedingungen aus Wasser von sehr verschiedenem Salzgehalt
zu erbeuten.
Die Temperatur dürfte bis zur Zeit unserer Ankunft in Molla Eaiy
noch keinen wesentlichen Einflufs auf die Entwickelung der Artemia^
Generationen in dieser oder jener besonderen Richtung in den verschiedenen
Wasseransammlungen ausgeübt haben können. Es ist dieses wenigstens
deswegen sehr unwahrscheinlich, weil sich in Folge andauernder Nord-
winde die Tagestemperaturen noch stets in verh<nifsmälsig niedrigen
Grenzen gehalten hatten. Erst während unseres Aufenthalts in Molla Eary,
der das erste Mal auf den 8./21. bis 10./23. Mai, das zweite Mal auf den
1 5-/2 8. bis 18./31. Mai fiel, trat einmal grölsere Hitze ein, so dais sich in
den Mittagsstunden die oberflächlichien Sandschichten in der Steppe bis
auf 45® R. erwärmten.
In den folgenden Mittheilüngen sollen die verhältnifsmäisig gering-
fügigen Temperaturunterschiede, die wir in den verschiedenen Wasser-
becken beobachtet haben, als unwesentlich nicht berücksichtigt werden,
sondern es soll nur der verschiedenartige Salzgehalt des Wassers und sein
Einflufs auf den Körperbau der Artemia in »Betracht gezogen werden, ein
Factor, der bekanntlich auch von Seiten früherer Beobachter in erster Linie
Berücksichtigung gefimden hat«
Die Gründe, welche es uns als wünschenswerth erscheinen liefsen,
gerade an Artemia den Einflufs der äuiseren Lebensbedingungen festzustellen,
bedürfen wohl kaum einer ausföhrlichen Erörterung. Nicht geringes Auf-
sehen erregte es ja, als Schmankewitsch in den Jahren 1 871 — 1877
einige Abhandlungen veröflfentlichte , in denen er die Ansicht vertrat, dafs
sich der EinfluGs des Wassers von verschiedenem Salzgehalte an dem Körper-
bau der Artemia in verschiedener Hinsicht deutlich zu erkennen gäbe.
Das wesentlichste Resultat von Schmankewitsch besteht bekanntlich
in der Beobachtung, dais die Artemia salma in Salzwasser von abnehmender
Concentration bestimmte und als solche gut charakterisirte Varietäten bildet,
welche eine deutliche Annäherung an das Gmus Branchipus darstellen , wäh-
rend umgekehrt die Artemia saUna in stark salzigem Wasser allmählich die
Eigenthümlichkeiten der Artemia mtOumseni annimmt.
6 M. Samter und R. Hbymons:
Freilich hat es auoh keineswegs an Zweifeln und an widersprechen-
den Urtheilen gefehlt. Namentlich Bateson — 1894 — ist nach
Untersuchung eines von verschiedenein Orten des westlichen Central-
asiens und Westsibiriens stanunenden Materials zu sehr wesentlich an-
deren Ergebnissen wie Schmankewitsch gekommen. Ihm zufolge be-
sitzt allerdings ÄTUmia eine außerordentlich groise Neigung zu Varia-
tionen imd Ver&nderungen aller Art, doch ist deren Abhängigkeit von
dem Salzgehalt des umgebenden Mediums nicht im einzelnen nachweis-
bar; »ahnost each locality has its own pattem of ArtemkL^ which differs
from those of other localities in shades of colour, of average size or in
robustness, and in the average number of spines on the swimming feet,
but none of these di£Eerences seem to be especially connected with the
degree of salinity«.
Die Bateso naschen Befunde sind im grofsen und ganzen veriiältnüs-
mSTsig wenig bekannt geworden, wenigstens bei dem deutschen Leserkreise,
vielleicht in Folge ihrer Veröffentlichung in einem um&ngreichen Werke,
das nicht nur Artemia, sondern die Vaiiations -Verhältnisse im allgemeinen
behandelt. So weit sie trotzdem zur Eenntnifs gelangt sind, dürfte sich
aber wohl die Überzeugung im allgemeinen Bahn gebrochen haben, dafs
mit ihnen nunmehr die Ergebnisse von Schmankewitsch ihrer eigen-
artigen Bedeutung entkleidet worden seien, dafs dieselben jedenfalls nicht
das Interesse beanspruchen dürften, welches man ihnen anfangs entgegen-
gebracht hatte, in der Meinung, dafs es in der That möglich sei, durch
Veränderung des umgebenden Mediums eine Art in die andere, und eine
Gattung in die andere zu überfuhren.
Allerdings darf man gegenwärtig doch noch durchaus nicht sagen,
dafs diese Fragen nun auch bereits endgültig erledigt sind, denn einmal
hat Walter — 1888 — einige kurze Mittheilungen über die in Molla Kary
lebenden Artemien gemacht, welche recht wohl mit den Schmankewitsch-
schen Ejrgebnissen harmoniren , und ferner ist auch nicht zu übersehen , dafs
das Material von Bateson zwar von einer grofsen Zahl räumlich weit ge-
trennter Orte herstammt, dafs aber doch in jedem einzelnen Falle immer
eine nur verhältnifsmäfsig sehr geringe Zahl von Individuen zur Unter-
suehung gelangt ist, während umgekehrt Schmankewitsch seine Mit-
theilungen gerade auf den Vergleich zahlreicher, unter gleichen ökologischen
Verhältnissen lebender Thiere basirt hatte.
Die Variationen hei Artemia salina Leach. 7
Unter diesen Umständen dürfte es wohl von Interesse sein, die Beein-
flussung des Körperbaues durch den Salzgehalt des umgebenden Mediums
in möglichst engem Anschluls an die Schmankewit seh 'sehe Unter-
suchungsmethode einer erneuten Prüftmg zu unterziehen. Beobachtungen
in dieser Hinsicht lassen sich nun, wie dieses auch von Seiten des russischen
Forschers geschehen ist, auf zweierlei Art und Weise vornehmen, einmal
durch genauen Vergleich der unter natürlichen Lebensverhältnissen im Freien
aufgewachsenen Thiere, und zweitens durch Züchtung der Artemien in
der Gefangenschaft unter künstlicher Veränderung des Salzgehaltes in den
Aquarien.
In dieser Abhandlung werden wir nur diejenigen Ergebnisse bringen,
welche auf Untersuchungen der in Transkaspien in freier Natur gesammelten
Thiere beruhen, bei denen jedenfalls störende Einflüsse, wie sie in der
Gefangenschaft leicht eintreten können, sich nicht geltend gemacht haben.
Die Bearbeitung des von uns gesammelten Materials ist in der Weise
vorgenommen worden, dafe wir Beide uns sowohl an den Untersuchungen
als auch an den theoretischen Erwägungen betheiligt haben. Im wesent-
lichen ist aber die Aufstellung der Berechnungen sowie die Zusammen-
stellung der Beobachtungen in dem speciellen Theile durch den erstge-
nannten Autor — Samter — , die Abfassung der allgemeinen Capitel
durch den letztgenannten — Heymons — erfolgt.
1. Specieller TheiL
I. Ober die habitaellen Eennzeichen der Artemia salina von
MoUa Eary.
Den oben citirten Satz von Bateson, dafs nahezu jeder Fundort von
Artemia salina auch eine eigene Rasse von dieser Thierform beherbergt,
haben wir auch hinsichtlich der von uns besuchten Örtlichkeit bestätigt
gefunden.
Zwar kann an der Zugehörigkeit der in MoUa Blary lebenden Artemia
zur Species salina gar kein Zweifel bestehen, doch finden sich einige an
und für sich geringfügige, aber immerhin constante Unterschiede vor, durch
welche sich die von uns beobachtete Artemia salina beispielsweise von der
Artemia salina aus den Limanen von Odessa unterscheidet, die Schmanke-
witsch zum Gegenstande seiner Untersuchungen gemacht hatte. Das Nähere
geht aus den nachstehenden Angaben hervor.
A. Weibchen.
Korperlänge.
Die Körperlänge der Artemia aus MoUa Kary variirt von lO-j-*"" bis 5°°.
Exemplare von 17 — 18"", wie in den Seen von Odessa, kommen nicht vor.
Verhältnifs von Vorderkörper* und Abdomen.
Durchschnittlich variirt das Verhältnifs von 16:18 bis 16:19. Dem-
gegenüber variirt die Artemia von Odessa von 15:18 bis 1 5 : 30.
* Unter Vorderkorper verstehen wir mit Schmankewitsch Kopf und Thorax zu-
sammen genommen, d.h. denjenigen Korpertheil, der vom Vorderende des Kopfes bis zum
Uinterrande des letzten beintragenden Korpersegmentes — 11. Thoraxsegment — reicht.
IHe Variationen bei Ariemia salina Leach. 9
Segmentation und Sculptur.
Die Gliederung in acht Abdominalsegmente ist meist gut ausgebildet.
Wenn sie bisweilen nach hinten an Deutlichkeit abnimmt, so ist dieses
Verhalten, obwohl es meist in hohen Concentrationsgraden sich zeigt, doch
nicht ausschliefslich auf diese beschr&nkt. Bei deutlicher DifFerenzirung der
acht Abdominalsegmente von einander lälst sich bisweilen noch eine mehr
oder weniger deutlich ausgeprägte Gliederung des 8. Abdominalsegmentes
in zwei auf einander folgende Abschnitte — 8. und 9. Segment — nach-
weisen. Diese Gliederung, welche auch für die Gattung Branchipus charak-
teristisch ist, befindet sich hinter der Mitte des 8. Abdominalsegmentes.
Die von Schmankewitsch erwähnten kurzen Borsten — »Härchen« oder
»Fühlborsten« — trafen auch wir etwas vor dem Hinterrande der ein-
zelnen Abdominalsegmente an imd beobachteten dieselben aufserdem noch
ungef&hr in der Mitte des 8. Abdominalsegmentes, kurz vor der Stelle, an
welcher sich gelegentlich die Abgliederung in ein 8. und 9. Segment voll-
ziehen kann.
Dagegen haben wir in der Umgebung dieser Borsten niemals auf-
fallende Cuticularbildungen irgend welcher Art oder gar Stachelhäufchen
entdecken können, welche Schmankewitsch an der Artemia aus Odessa
beschrieb, und auf deren Auftreten er sogar besonderes Gewicht gelegt hat.
Furca.
In der Mehrzahl der Fälle besteht die Furca aus zwei lappenfbrmigen,
in der Mitte beiderseits verbreiterten Anhängen. Das 8. Abdominalsegment
weist an der Afteröfl6iung zwischen den beiden Furcalästen beiderseits eine
halbkugelfbrmige Aushöhlung auf. Zu beiden Seiten derselben steht der
Furcalast mit dem Ende des 8. Abdominalsegmentes in directer Verbindung.
Lateral ist jeder der Furcaläste durch eine geringfügige Einschnürung von
dem genannten Segmente abgesetzt. Die breite lappenformige Gestalt der
Furcaläste nimmt unter gewissen Umständen eine schmale, am Ende zu-
gespitzte, lanzettförmige Gestalt an, wobei gleichzeitig eine Verkürzung in
der Längsrichtung stattfindet. Selten kommt es zum völligen Schwinden
der Furcaläste.
Furcalborsten.
Je gröfser die Furcaläste sind, desto reicher ist ihre Beborstung. In
der Regel stehen die Borsten am medialen Rande und an dem terminalen
Pkys, Ähh, nicht zur Akad, gehör. Gelehrter, 1902. IL 2
10 M. Samter und R. Heymons:
Ende, während sie am Lateralrande selten auftreten. Ihre Zahl variirt von
o bis lO an jedem Aste. Doch kommen die Extreme nur selten vor. In
der Regel bewegt sich die Variation bei der Borstenzahl zwischen i und 6.
Die Artemia aus Odessa zeigt eine Variation von o bis 22.
Erste Antenne.
Die Länge der ersten Antenne variirt entsprechend der Thierlänge
durchschnittlich zwischen 0T99 und 0T58. Unweit von ihrer Spitze finden
sich neben einander drei lange Sinnesborsten, welche das Ende der Antenne
verdecken. Dieses Ende läuft in zwei abgestutzte Kegel aus , welche in Höhe
und Breite von einander stark abweichen. Auf diesen Kegeln sitzen einige
Sinneskolben von schlauchförmiger Gestalt mit abgerundetem Ende. Der
gröfsere der beiden Kegel trägt in der Regel drei, der kleinere stets eine»
Kolben. Es finden sich auf dem gröfsern Kegel nie mehr als drei, bisweilen
auch nur zwei Kolben. Die Artemia aus Odessa aber besitzt nach Schm an-
kewitsch gelegentlich auch vier Kolben, niemals aber zwei. Die Kolben
sind niemals im Gegensatz zu der Form aus Odessa gebogen, sondern stets
aufgerichtet. Die erste Antenne mifst den 10. Theil der Körperlänge.
Zweite Antenne.
In der Länge variirt die zweite Antenne des Weibchens von 0T72
bis 0^48. Dir Verhältnifs zur Körperlänge ist 1:13. Die Antenne zeigt
die Gestalt eines Homes und zerf&Ut in zwei Theile, einen gebogenen
schmalen , zahnartigen Endtheil , welcher mit einer abgesetzten Spitze endigt,
und in einen Basaltheil. Das Verhältnifs von Endtheil und Basaltheil ist
annähernd constant. Der Basaltheil ist stark aufgewölbt und seitwärts ver-
dickt. Die seitliche Verdickung tritt fast bei allen Individuen auf.
Auf der Verdickung zeigt das Integument Stachelbildungen. Diese
Stacheln finden sich am zahlreichsten und sind am stärksten entwickelt in
den Randpartien; nach der Mitte der Aufwölbung verflachen sie sich und
zeigen in der Mitte ein aus dem Niveau der Oberfläche der Antenne sich
kaum erhebendes pflasterförmiges Mosaik. Die Stacheln enden stumpf in
Gestalt kleinster Kegel.
Zwischen denselben entspringt eine gröfsere Zahl von Sinneshaaren,
deren Zahl meist 15 — 25 beträgt.
Fast in allen Fällen besitzen die Antennen an der Basis des Endtheiles
auf der Aufsenseite einen kurzen Auswuchs in Gestalt eines abgestumpften
Die Variationen bei Artemia salina Leach, 11
Kegels, auf welchem ein Sinneshaar entspringt. Nur wenigen Individuen
fehlt dieser Auswuchs.
Labrum.
Die iJlnge der Oberlippe beträgt durchschnittlich den 15. Theil, die
Breite den 23. Theil der Körperlänge. Bei 9* Beaume ist sie d^T^^ lang
und o™36 breit; bei 24® Beaume or"4i lang und or*2 7 breit. Es beträgt
also die Breite ^ der Länge.
Am Ende der Oberlippe heben sich die seitlichen Theile derselben
gegen den Mitteltheil ab, welcher nach innen mehr oder weniger zurück-
springt, so dafs in der Mehrzahl der Fälle die Oberlippe zwischen den
Seitentheilen eine gröfsere oder kleinere Einbuchtung besitzt, vereinzelt
fehlt dieselbe. Auf den Seitentheilen und an dem Rande der Einbuchtung
findet sich eine grofee Zahl kleinster Härchen.
Erste Maxille.
Die imterhalb der Oberlippe frei hervorragende erste Maxille, deren
lange Borstenreihe in der Mittellinie des Thieres eng an einander liegt,
besitzt eine Durchschnittslänge von 0T16 — o"f°i2 imd eine Breite von
0T13 — oTio. Die Zahl ihrer Borsten ist annähernd constant; im Durch-
schnitt 12 — 13, im Extrem und mehr vereinzelt 10 — 15 Borsten. Aufser
diesen Borsten besitzt jede Maxille einen langen und ziemlich breiten Zacken
neben der letzten und kleinsten Borste. Nach der Mitte werden die Borsten
länger, welche sämmtlich befiedert sind.
Zweite Maxille.
Die sehr kleine zweite Maxille besteht aus einer stark befiederten , langen,
kräftigen und an der Basis stark verdickten Fühlborste und dem eigentlichen
Maxillarkörper, welcher in der Mitte eine starke Aufwölbung besitzt, aus
deren dicht befiederter Oberfläche 3 — 4 mit feinsten Haaren bedeckte kurze,
eng an einander gedrängte Borsten entspringen. Die Länge der zweiten
Maxille bis zur Basis der Fühlborste beträgt o"Ti6 — o°ri3, die Breite bis
zur höchsten Erhebung o^To; — or"o6.
Kieme.
Die Kieme, welche an der lateralen Seite der Extremität sich distal
an den Branchialanhang anschliefst, ist von ovaler Gestalt. Ihre Länge
beträgt o".'"40 — o°^37, ihre Breite 0^27 — 0T24. In allen Fällen ist das
2*
12 M. Samter und R. Hetmons:
Verhältniüs von Länge und Breite wie 3:2. Der Gestalt nach ist die Kieme
also stets rund oval und nicht längs oval wie die der Artemia aus den
Seen von Odessa.
Branchialanhang.
Der Branchialanhang , welcher unmittelbar an der Basis der Extremität
entspringt, milst der Länge nach 0T3 2 bis o°T2 1 , der Breite nach o^Tös
bis o"f'46; er ist also imgefahr doppelt so breit als lang.
Mitteldarm.
Die Länge des Mitteldarms — Magendarms nach Schm ankewitsch —
variirt. In der Regel erstreckt sich dieser Darmabschnitt bis in den Bereich
des 6. Abdominalsegmentes hinein , um dort bald in der Mitte desselben,
bald aber auch schon vor oder erst hinter der Mitte des 6. Segmentes in
den Enddarm überzugehen. In einigen FäUen reicht der Mitteldarm bis
in das 7. Abdominalsegment hinein und gelegentlich findet er auch schon
im 5. Segmente sein Ende.
Brutsack.
Der Brutsack, welcher an der Basis des Abdomens entspringt, ist
birnfbrmig. Seine beiden Seitentheile sind meist flach ausgezogen ; mit dem
nach hinten schlauchförmig verlängerten Mitteltheil deckt er ventral die
beiden ersten Abdominalsegmente und einen Theil des dritten. Erst das
4. Abdominalsegment liegt in allen Fällen frei. Länge und Breite des Brut-
sackes in seiner gröfsten Ausdehnung sind annähernd gleich. Nach der
Gröfse der Individuen beträgt Länge und Breite i-J-"" — ■^'
>oim
B. Männchen.
Leider war es nicht möglich, in dem gleichen ausgedehnten Maise,
wie wir diefs bei den weiblichen Thieren gethan haben, auch Männchen
der Artemia salina zur Untersuchung heranzuziehen, weil wir von dem
letztern Geschlechte nur ein einziges Individuum in MoUa Kary erbeuteten.
Alle unsere Ergebnisse über die Variationsverhältnisse und Rassen-
eigenthümlichkeiten können also aus diesem Grunde streng genommen nur
für Weibchen Gültigkeit beanspruchen. Für die Männchen müssen wir
uns eines ürtheils enthalten , wenn natürlich auch wohl keine Zweifel vor-
liegen können, dafs bei den Männchen die Verhältnisse genau ebenso liegen
werden.
Die Variationen bei Artemia salina Leach. 13
Wir beschränken uns darauf, einige der wichtigeren Kennzeichen des
in MoUa Kary gefiindenen männlichen Thieres mitzutheilen.
Die Körperlänge beträgt 8*"™, wovon etwa 3"^8 auf den Vorderkörper,
4T2 auf das Abdomen kommen.
Die Abgrenzung der 8 Abdominalsegmente ist deutlich. Das 8. Segment
weist etwas vor seiner Mitte lateral 2 kurze Stacheln auf, läfst aber keine
Abgliederung in 2 Abschnitte — 8. und 9. Segment — erkennen.
Die Furca stinunt in ihrem Bau mit dem oben fui* das Weibchen an-
gegebenen Verhalten überein. Jeder Furcalast trägt an seinem distalen Ende
2 Borsten. Der rechte Furcalast ist aufserdem ungef&hr in der Mitte seiner
medialen Seite noch mit einer etwas kleineren 3. Borste versehen.
Die Bauart der ersten Antenne weicht nicht von derjenigen des Weib-
chens ab. Ausser den 3 langen Sinneshaaren lassen sich 2 kegelförmige
Erhebungen nachweisen, von denen die kleinere mit einem, die gröfsere
mit 3 Sinnesschläuchen besetzt ist.
Eine genauere Beschreibung erfordert die zweite Antenne. An ihr sind
3 Glieder zu unterscheiden, von denen das erste — basale — und das
zweite gelenkig mit einander verbunden sind.
Die Basalglieder sind in der Medianlinie mit dem Kopfi-ande verwachsen,
sie besitzen eine Länge von 0T95, eine Breite von oT'sS. An dem proxi-
malen Ende der basalen Antennenglieder befindet sich ein nach vom ge-
richteter knopffÖrmigerVorspnmg, welcher sich etwa 0T09 über die an-
grenzende Körperpartie erhebt und dessen Breite 0T13 beträgt. Die Cuti-
cula ist an diesem knopfartigen Vorsprunge mit kleinen (Sinnes-) Kegeln be-
setzt, welche je eine kurze und feine Borste tragen.
Die Länge des zweiten — mittlem — Antennengliedes beträgt i"J°39,
seine Breite an der Basis o"T87. Bemerkenswerth ist der Umstand, dafs
die blattförmig erweiterte proximale Partie dieses GUedes schwach einge-
krümmt ist, und zwar derartig, dafs die Concavität der Krümmung medial-
wärts gewendet ist.
Es schliefst sich das nur wenig scharf abgesetzte dritte Antennenglied
an, das fast die unmittelbare Fortsetzung des zweiten Gliedes darstellt, und
dessen Länge o°T44, dessen Breite an der Basis 0T34 beträgt. Dieses Glied
endigt distal mit einer einfachen abgestumpften Spitze.
Oberlippe, Mundwerkzeuge und Extremitäten bieten beim Männchen
nichts Erwähnenswerthes.
14 M. Samter und R. Hetmons:
Der Mitteldarm reicht bis etwas über die Mitte des 6. Abdominal-
segmentes nach hinten.
Die Copulationsorgane erreichen im ausgestreckten Zustande den Hinter-
rand des 3. Abdominalsegmentes.
C. Zusammenfassung.
In der Länge der Individuen, im Verhältnifs von Vorderkörper und
Abdomen zu einander, in der Sculptur der Cuticula, der Zahl der Furcal-
borsten, der Gestalt der Kiemen u. s.w. finden sich einige geringfiigige , aber
constante und charakteristische Abweichungen zwischen der von uns unter-
suchten asiatischen Artemia-Form und der von Schmankewitsch studirten
Artemia aus Odessa vor. Beide Formen können somit als zwei verschiedene
Local Varietäten oder locale Subspecies der Arternia salina aufgefafst werden.
IL über den Einflufs äufserer Factoren bei der Greschlechtsbestmimimg.
Mannliche Artemia salina sind in Molla Kary bisher nicht gefunden
worden. Walter (1888), der hierauf schon sein Augenmerk gerichtet
hatte, hebt ausdrücklich hervor, dafs er männliche Artemien in Molla Kary
vermifst habe. Wie bereits im vorigen Abschnitte mitgetheüt wurde, ist
es auch uns nur gelungen, ein einziges männliches -Arfewirö- Individuum in
den transkaspischen Lagunen zu erlangen.
Wir bemerken hierzu , dafSs wir bei unserer Anwesenheit in Molla Kary
an Ort und Stelle bereits Hunderte von lebenden Individuen untersuchten,
und dafs wir femer gleichfalls viele Hunderte von conservirten Thieren
nach unserer Rückkehr präparirt haben. Eine noch weit beträchtlichere
Zahl von Thieren wurde endlich wenigstens oberflächlich auf das Greschlecht
hin geprüft. Die Gesammtzahl der auf die Geschlechtsverhältnisse durch-
musterten erwachsenen Individuen dürfte sich auf mehrere Tausend be-
ziffern. Von der oben erwähnten einen Ausnahme abgesehen, waren es
sämmtlich Weibchen, die sich in lebhafter parthenogenetischer Fortpflanzung
befanden und theils Dauereier — Latenzeier — , theils Sommereier — Subitan-
eier — oder Embryonen in ihrer Binittasche enthielten.
Die untersuchten Thiere stammten, wie wohl kaum ausdrücklich her-
vorgehoben zu werden braucht, aus Wasser von sehr verschiedenartigem Salz-
Die Variationen bei Artemia salma Lexich. 15
gehalt. Das männliche Thier wurde in einem Wasserbecken gefiuigen, das
eine Concentration von 9° Beaume aufwies und das von Schaaren weiblicher
Thiere bevölkert war.
Es ist von Schmankewitseh (1877) ^^ Meinung ausgesprochen
worden, dals man Männchen am häufigsten bei einer bestimmten Varietät
der Artemia aalina — var. b — finden solle , und zwar bei einer Form , die
bei der geringsten Concentration des Salzwassers vorkommt. Aulserdem
aber sollen auch männliche Artemien zu gewissen Zeiten auftreten , besonders
bei bestinamter Concentration des Salzwassers und verhältniismäüsig schneller
Verdampfting desselben.
Hiermit würde es also scheinen, als ob eine äulsere Ursache, der
steigende Salzgehalt, einen entscheidenden Einfluls auf die geschlecht-
liche Differenzirung habe. Da die erwähnten Befinde von Schmanke-
witseh gelegentlich als instructives Beispiel för die Abhängigkeit der
Geschlechtsbestimmimg von äufseren Factoren genannt und verwerthet
worden sind — wir verweisen in dieser Hinsicht auf das Lehrbuch
von Korscheit und Heider (1902, S. 380), so glauben wir auf diesen
Punkt etwas näher eingehen zu müssen. Allerdings sind wir nicht in
der Lage gewesen, die Schmankewitseh 'sehen Befimde in vollem
Umfange nachzuuntersuchen, und sie namentlich dahingehend zu prü-
fen, ob in ganz schwach salzigem Wasser die Männchen häufig sind.
Es ist diels deswegen unmöglich, weil wir die von Schmankewitseh
beschriebene Varietas b in MoUa Kary überhaupt nicht angetroffen
haben.
In dieser Beziehimg müssen wir uns also eines Urtheils enthalten.
Dagegen scheint es uns nicht zutreffend zu sein, wenn auf Grund der
Schmankewitsch'schen Ergebnisse die Sache so einfach dargestellt wird,
daüs eine bestimmte Concentrationsstufe des Salzwassers für die Entstehimg
männlicher Thiere bei Artemia mafsgebend sei.
Wenn wirklich der steigende Salzgehalt des Wassers der entscheidende
Factor für die Production männlicher Thiere sein würde, so wäre in den
zahlreichen und zum Theil bis zum Selbstabsatz von Salz concentrirten
Wasserbecken von Molla Kary wohl für das Auftreten einer Anzahl männ-
licher Thiere in vielen Fällen die geeignete Gelegenheit geboten gewesen.
Unserer Aufmerksamkeit hätten die männlichen Thiere sicherlich nicht ent-
gehen können, und ihr Fehlen in den betreffenden Wasserbecken, das wir
16 M. Samter und R. Heymons:
demnach mit Bestimmtheit behaupten können, lafst also nur den Schluis
zu, dafe das Salz allein nicht den entscheidenden Einflufs bei der Geschlechts-
differenzirung besitzt.
Im Anschlufs hieran mag bemerkt werden, dafs die Fortpflanzungs-
erscheinungen von Artemia sich allem Anscheine nach im Rahmen der-
jenigen Erscheinungen bewegen, die wir von zahlreichen anderen, sich
auch theüweise parthenogenetisch fortpflanzenden Thierformen kennen.
Wir erinnern nur an die bekannten Beobachtungen an Cladoceren
und Rotatorien. Auch bei ihnen glaubte man, das Auftreten bestimmter
Fortpflanzungscyklen in erster Linie auf äufserlich einwirkende Ursachen
zurückfuhren zu können. So soll bei Hydatina nach Maupas die niedrige
Temperatur, nach Nufsbaum dagegen die mangelhafte oder ungenügende
Ernährung der jugendlichen Weibchen das Auftreten männlicher Thiere
begünstigen. Diese Befunde sind aber noch fraglich, denn nach den Unter-
suchungen von Lauterborn (1898) ist bei den limnetischen Rotatorien
der Eintritt der Sexualperioden keineswegs nur auf direct wirkende äußere
Ursachen zurückzuführen, sondern er hängt in erster Linie von inneren,
jeweilig mit dem Entwickelungsgange der betreflfenden Species in Zu-
sammenhang stehenden Ursachen ab.
Die Bedingungen für die Periodicität der parthenogenetischen und
gamogene tischen Generationen bei den Cladoceren sind ebenfalls trotz aller
der darauf gerichteten Ursachen noch nicht in ihrem eigentlichen Wesen
klar gelegt, es ist im allgemeinen wenigstens nicht möglich gewesen, das
Auftreten der Fortpflanzungscyklen mit Sicherheit allein auf äulsere Ur-
sachen zurückzufuhren. Nur in den eisigen Gewässern der hochalpinen
Regionen sowie in den Gewässern des hohen Nordens pflegt die zwei-
geschlechtliche Fortpflanzung regelmäfsig mit parthenogenetischer zu alter-
niren (Zschokke 1901), so dafs hier Klima und Jahreszeiten die Fort-
pflanzungsweise bestimmen.
Um noch einen Fall aus dem Insectenreiche zu erwähnen, so sei
bemerkt, dafs nach Uzei (1895) bei manchen Thysanopterenarten eine
bestimmte Gesetzmäfsigkeit in den Fortpflanzungscyklen in keiner Weise
nachweisbar ist, indem bei manchen Arten die parthenogenetische Fort-
pflanzung »ganze Jahre hindurch andauern kann, bis sich einmal zuföUig
zwischen die unzähligen parthenogenetischen Generationen eine Generation
einschiebt, welche aus befruchteten Eiern entstand«.
Die Variationen bei Artemia salina Leach, 17
Wir sind weit davon entfernt , diese Beispiele zu verallgemeinerny
sondern wollen damit nur betonen, dals man im allgemeinen Bedenken
tragen mufs, das zeitweilige Auftreten m&nnlicher Individuen bei vorzugs-
weise parthenogenetisch sich fortpflanzenden Thieren ohne weiteres diesen
oder jenen äu&eren Lebensbedingungen zuzuschreiben.
Die Erörterungen von Hertwig (1899) über die geschlechtliche und
ungeschlechtliche Fortpflanzung lassen vielleicht einen Vergleich mit den
Protozoen als zulässig erscheinen. Gerade wie bei den Protozoen die Noth-
wendigkeit vorliegt, zeitweise den Bau ihres einzelligen Körpers durch
Befruchtung zu reorganisiren , so ist wohl zweifellos auch bei allen Metazoen
die zeitweilige Vermischung der Idioplasmen zweier Individuen mittels Eizelle
und Samenzelle för den dauernden Fortbestand der Art erforderlich, und
es wird hiermit sogar bei den typisch parthenogenetisch sich fortpflanzenden
Thieren das gelegentliche Auftreten gamogenetischer Generationen noth-
wendig und verständlich.
Bei Anpassung der parthenogenetischen Thiere an eine ganz bestimmte
Lebensweise unter in streng gesetzmäfsigem Wechsel sich wiederholenden
äufseren Lebensbedingungen — Jahreszeiten, Futterwechsel — kann das
geschilderte Verfahren sehr leicht zu einem rhythmischen und regelmSfsigen
Cyklus von parthenogenetischen und gamogenetischen Generationen führen —
z. B. Cladoceren der alpinen und borealen Region, Aphiden — , und es
ist möglich, daüs hiermit thatsächlich äuiäere Factoren einen gewissen,
wenn auch niu* secundären Einflufs auf die Geschlechtsbestimmung aus-
üben können.
In anderen Fällen dagegen, und zwar wahrscheinlich namentlich dann,
wenn die äufseren Lebensverhältnisse weitergehenden imd verschiedenartigen
Schwankungen unterworfen sind, hat sich aber eine derartige Periodicität
noch nicht genügend befestigt, und das gelegentliche Auftreten begattungwS-
fähiger Individuen erfolgt in unregelmäfsigen Intervallen gerade so, wie das
Auftreten sich conjugirender Protozoenindividuen an keine bestimmte Zeit
und an keine bestinmite äufsere Ursache gebunden zu sein braucht.
Eine eigentliche Erklärung können wir in diesen Fällen in der Regel
ebensowenig wie bei den Conjugationen der Protozoen geben , sondern das
zeitweilige Auftreten copulationsfahiger oder richtiger gesagt copulations-
bedürftiger Nachkommenschaft auch bei den Metazoen nur inneren, in
der specifischen Organisation der betreffenden Thiere beruhenden und
Phys. Abh, nicht zur Äkad. gehör. Gelehrter, 1902, IL 3
18 M. Samtkr und R. Heymons:
uns ihrem eigentlichen Wesen daher noch unverständlichen Ursachen zu-
schreiben.
Äufeere Factoren gewinnen in diesen Fällen erst dadurch eine gewisse
Bedeutung, dafe eben die gesammte Constitution des Thieres bereits bis
zu einem gewissen Grade sich modificirt hat. Die äuDseren Bedingungen
sind die gleichen, sie waren sogar schon früher auch in dei-selben In-
tensität vorhanden, sie können aber erst dann einen Einflufs auf die
Zeugungsvorgänge ausüben, wenn nach langen Reihen gleichmäfsiger
Generationen die Beschaffenheit der Thiere selbst in irgend einer für uns
nicht erkennbaren Weise sich geändert hat.
Soweit sich die Dinge zur Zeit beurtheilen lassen, scheint sich
Artemia der letztgenannten Kategorie von Organismen anzureihen, bei
denen wohl irgend eine Gesetzmäfeigkeit in dem Einfluls äufserer Factoren
auf die Geschlechtsbestimmung nicht nachweisbar und erkennbar ist.
Abgesehen hiervon, müssen wir es aber auch noch Ar auJGserordent-
lieh zweifelhaft halten, ob das auslösende Moment zur Erzeugung getrennt
geschlechtlicher Individuen bei Artemia gerade in einer bestimmten Con-
centrationsstufe des Salzwassers zu erblicken ist.
DaSchmankewitsch gar nicht angegeben hat, welche Concentrations-
stufe bei zunehmendem Salzgehalte die entscheidende sein soll, so sind wir
zwar nicht in der Lage, seinen Angaben direct widersprechen zu können,
wir hielten es aber angesichts des Interesses, welches diesem Gegenstande
zweifellos doch zukommt, für angebracht, unsere eigenen negativen Befunde
in dieser Hinsicht hervorzuheben.
IIL DieYariationserscheinimgen der weiblichen Artemia von MollaEary.
Die Zahl der Salzseen und Salztümpel, denen wir in Molla Kary Artemien
entnahmen, betrug fünfzehn. In demselben Gebiete befanden sich noch
einige Tümpel, in welchen keine Artemien lebten. Der Salzgehalt dieser
Tümpel betrug nur i*^Beaume. Mit dem Steigen der Concentration , welche
in den betreffenden Seen und Tümpeln herrschte, stieg auch die Zahl der
in ihnen lebenden Individuen, um zwischen lo® und 24*^ Beaume ihr Maxi-
mum zu erreichen. Obwohl im allgemeinen mehr Individuen aus stark-
salzigem als aus schwachsalzigem Wasser xmtersucht werden konnten, so
Die Variationen bei Artemia saUna Leach. 19
genügt dennoch die Zahl der letzteren vollkommen, um den deutlichen
Beweis zu liefern, dals eine gleichmäCsige Stufenleiter der Abänderungs-
erscheinungen bei der Artemia in Abhängigkeit von dem Grade der Salz-
concentration zu constatiren ist.
Es nimmt in steigender Concentration die Länge des Körpers
schrittweise ab; das Abdomen wird relativ länger, indem das Ver-
hältnifs von Vorderkörper und Abdomen sich ändert. Auch an
den einzelnen Abdominalsegmenten läfst sich die Verlängerung
derselben auf das bestimmteste nachweisen, wie wenigstens ge-
naue Messungen des 6. bis 8. Abdominalsegmentes zeigen. Die
Furca wird relativ und absolut kleiner, die Zahl der Furcal-
borsten nimmt von Grad zu Grad ab, die Kiemen werden relativ
gröfser, der Mitteldarm schliefslich kürzer.
Es ist besonders hervorzuheben, dafe diese Anpassungserscheinungen
nicht an jedem einzelnen Individuum m gleichem Mafse hervortreten,
sondern dafs sie nur im allgemeinen fär die Summe der Individuen aus
einer und derselben Concentrationsstufe zutreffen. Es ändert sich also nicht
das Individuum mit allen seinen in Betracht kommenden Charakteren gleich-
mälsig und auf einmal ab.
In einem See oder Tümpel einer bestimmten Concentration zeigen in
Folge dessen auch durchaus nicht alle Individuen unter sich genau den
gleichen Grad der Anpassung durch gleichmäisige Umgestaltung aller ihrer
Charaktere. Sie stellen durchaus keine einheitliche Colonie dar, welche sich
von den Thieren aus Salzwasser von anderen Concentrationen unterscheidet,
und es kommt somit in den Seen und Tümpeln verschiedenen Concentrations-
grades auch niemals zur Entstehung verschiedener, von einander streng zu
sondernder, different gestalteter Varietäten. In jeder Concentration kommen
vielmehr alle möglichen Übergänge , alle möglichen Variationserscheinungen
der in Betracht gezogenen Charaktere vor, so dafs bei der ersten Prüfung
eine Abhängigkeit der Thierform von der Salzconcentration scheinbar gar
nicht nachzuweisen ist.
Die Messung des Salzgehaltes wurde na<5h dem Vorgange von Schm an-
kewitsch mit einer Beaume- Spindel vorgenommen, trotz der Nachtheile,
welche diese Art der Bestimmung nothwendig mit sich bringt. Die bei
einer Temperatur von 30*^ C. aufgenommenen Werthe wm-den auf 15® C.
umgerechnet.
20
AL Samter und R. Heymons:
Körpergröfse.
Um die Abhängigkeit der Eörperlänge von der Concentration nach-
zuweisen, wurden im ganzen 257 Individuen untersucht. Es wurden bei
allen Untersuchungen nur geschlechtsreife Weibchen berücksichtigt, welche
Eier trugen.
Am linken Rande der ersten Tabelle stehen die Goncentrationsgrade
nach Beaume unter einander. Am Kopfe derselben findet sich die Thierlänge
in Millimetern, ima Viertelmillimeter steigend, von s"""" bis 10T50. Die
Zahlen innerhalb der Tabelle geben die Zahl der Individuen an, welche bei
der betreffenden Concentration die entsprechende , obenstehende Körperlänge
besagen.
Beobachtete Werthe für die Korperlänge der Individuen nach dem Grade
der Concentration.
5
5-25 5-50
5-75
6
6.25
6.50
6.75
7
I
7-25 7.50
7-75
8
8.35
8.50
8.75
9
9.25
9.50
10
10.50
8
I
I
2
5
I
I
9
3
I
1
4
4
2
2
'
I
10
I
6
17
II 14
14
5
4
i
15
: I
2
2
4
II
4
9
5 , 3
7
4
2
I
1
23
I
I
2
5
6
5
2
i
1
24
I
9
12
20
IS
8
6
4
5 .
Es wurden demnach untersucht:
aus i®= I Expl.
» 8 = 10 »
» 9=17 »
» 10 = 72 »
» 15 = 55 »
» 23 ^ 22 »
» 24 =: 80 »
Hieraus geht hervor, dafs wir in MoUa Kary die absolut gröfsten
Individuen der Artemia salino im schwächer salzigen Wasser, die kleinsten
Individuen im stärker salzigen Wasser angetroflfen haben.
Auch relativ besitzt die Mehrzahl der Individuen im Salzwasser niedei-er
Concentration eine bedeutendere Körperlänge, als im Walser von höherm
Salzgehalt.
Die Variationen bei Artemia salina Leach. 21
Um einen leichtem Überblick zu ermöglichen, haben wir auf Grund
unserer Ergebnisse noch die durchschnittlichen Werthe berechnet. Es er*
gibt sich folgendes Resultat:
Berechnete Werthe für die K5rperlänge der Individnen nach dem Grade
der Concentration.
mm
Bei 1® = 9.50
8 =8.45
9 =8.26
10 =7-39
15 =7.01
23 =6.15
24 =6.17.
Diese Werthe zeigen deutlich, dafis bei steigender Concentration die
Eörperlänge abnimmt. Naturgemäfs können diese Zahlen nicht exact sein,
da die Zahl der Individuen ftkr jede untersuchte Concentration verschieden
ist, und nur diejenigen Zahlen dem wirklichen Werthe näher kommen, welche
auf die gröfste Zahl der untersuchten Individuen sich stützen. Da jedoch die
Fehlerquelle nur die erste Decimale trifft, so wird hierdurch das Gesetz selbst
in keiner Weise berührt.
Wenn sich nun constatiren läfst, dafs die Steigerung der Concen-
tration eine Verkleinerung der Individuen hervorruft, so zeigt zugleich die
Tabelle, dafs dieser Einflufs nicht gleichmäfsig auf sämmtliche Individuen
wirkt , da innerhalb derselben Concentration die Körperlänge stark variirt.
Wir müssen daher den Satz bezüglich der Einwirkung der Concentration
auf die Körperlänge dahin formuliren , dafs bei der Summe der Individuen
eine Beeinflussung der Körperlänge nach der Concentration zu Tage tritt.
Der Einflufs der Salzconcentration auf die Grölse des Thieres ist bedeutend,
denn von i® bis 24^ Beaume verliert dasselbe ungefähr -J- seiner ursprüng-
lichen Länge. Der mittlere Werth fiir die Concentration von i® ist wahr-
scheinlich höher als 9T50. Schmankewitsch hat den gleichen Grad
der Einwirkung auf die Thiergröfse berechnet, da nach ihm dieselbe von
14"" auf 10"°* zurückgeht.
Länge des Abdomens.
Um die Abhängigkeit der Abdominallänge vom Salzgehalt festzustellen,
wurde fiir jedes Individuum und für jeden Concentrationsgrad die Differenz
berechnet, um welche das Abdomen länger oder kürzer ist als der Vorder-
22 M. Sahteb und R. Hethons:
körper. Alsdann wurde för jedes Individuum das Verhfiltni6 der abdo-
minalen Difforenz zur KörperUUige berechnet. Durch diese VerhftltzüiszBlilen
müssen selbst kleine Abänderungen deutlicher zum Ausdruck kommen, als
durch Zahlen, welche das Verhältnils von Abdomen und Vorderkörper aus-
drücken.
Die Zahlen , welche in der ersten Columne unter einander stehen , geben
wiederum den Concentrationsgrad an, die Zahlen am Kopfe der Tabelle den
Theil, welchen die betreffende Abdominaldifferenz in Bezug auf die Körper-
Ulnge miJ^t, die Zahlen innerhalb der Tabellen selbst die Zahl der Individuen,
welche bei der betreffenden Concentration das oben angefahrte Verhftltnifs
zeigen.
Es wurden 260 Individuen auf die Lftnge des Abdomens untersucht.
Beobachtete Werth« far den Lftngenunterschied iwischea Vorderkdrper und
Abdomen gemessen nach der Körperlinge.
Es
wurden
demnach tmtersucht;
aus i* =
I Expl.
. 8 =
21 -
" 10 =
103 -
. 15 =
60 .
" 24 =
75 ■
hl.
te Werth
ffl
den Llngenuntersc
nach dem Gr»de d
hiod zwischen V
er Concentratio
Bei t" = den 19. Theil der KörpeHinge
- 8 = - 13
. 10 = . 13
- 15 = • 13
- 34 = . 11
r und Abdomen
Nach diesen Werthen ist eine Gröfsenzunahme des Abdomens bei
steigender Concentration vorhanden; sie bewegt sich jedoch in einem sehr
engen Rahmen, denn von 15* bis 24* tritt keine Steigerung ein, von 10" bis 15'
Die Variationen bei Artemia ealina Leach.
23
aber beträgt sie nur die Differenz zwischen dem 13. und 12. Theil der
Eörperlänge, welche diesen Concentrationen entspricht.
Wenn das ZahlenverhSltniTs för 8^ einen Schlufs gestattet, dann ist
auch zwischen 8 und 10® keine Differenz zu constatiren. Selbst wenn sie
aber auch noch höher anzuschlagen wäre» so wäre trotzdem keine bedeu-
tende Verschiedenheit in dem Verhältnifs vom Vorderkörper zum Abdomen
bei 8® und 10® Beaume vorhanden.
Es ist sicher» dafis bei dem von uns untersuchten Material von MoUa
Kary das Abdomen zum Vorderkörper nicht in dem starken Mafse nach
der Salzconcentration variirt» wie wir diefs nach den Untersuchungen
von Schm ankewitsch hätten annehmen sollen. Während nach seinen
Angaben das Verhältnils von Vorderkörper zum Abdomen in den Grenzen
von 15:18 bis 15 : 30 väriirt, schwankt das Verhältnils von Vorderkörper
und Abdomen bei der Artemia aus MoUa £[ary zwischen 16:18 bis 16:19.
Um weitere Belege für die Abhängigkeit der Abdominallänge von dem
Grade der Concentration zu gewinnen, schien es uns von Wichtigkeit zu
sein, die drei letzten Abdominalsegmente einzeln zu messen und sie in
Relation ziu* Körperlänge zu bringen.
Die Messungen wurden selbstverständlich sänmitlich unter dem Mikro-
skop vorgenommen und bis auf o™ooi berechnet.
Länge des 6. Abdominalsegmentes.
Es wurden 123 Individuen auf die Länge des 6. Abdominalsegmentes
untersucht. Die Zahlen am Kopfe der Tabelle geben wie in den folgenden
Tabellen den Theil der Körperlänge an, welchen das betreffende Abdominal-
segment beträgt. Ebenso zeigen die Zahlen innerhalb dieser wie der folgenden
Tabellen die Anzahl der Individuen an, welchen bezüglich des betreffenden
Abdominalsegmentes die obenstehenden Längenmafse zukommen.
Beobachtete Werthe für die Länge des 6. Abdoroinalsegmentes nach dem Grade
der ConcentratioB.
Vxo
'/„
V"
V.3
Vx4
VrS
V.6
'Ar .
V.e
I*
1
8
2
4
2
9
2
2
8
4
2
I
10
2
8
16
4
2
15
6
9
10
7
I
24
2
5
II
6
2
4
24
M. Samter und R. Hetmons:
Es wurden demnach untersucht:
aus 1^ = I Expl.
»8^8»
» 9 = 19 »
» 10 = 32 »
» 15 = 33 •
» 24 = 30 »
In den Concentrationen von i® bis 15® fehlen dem 6. Abdominalsegmente
die Verhältnisse 1:10 und i:ii, in den Concentrationen von 10® und 15°
die Verhältnisse 1:17 und 1:18, in der Concentration von 24® die Ver-
hältnisse i:i6 bis 1:18. In schwachen Salzconcentrationen hat demnach
Artemia ein relativ kürzeres 6. Abdominalsegment als in starken Salzconcen-
trationen. Noch deutlicher wird dieser Umstand, wenn wir aus der Summe
der beobachteten FäUe fiir jede Concentration den mittlem Werth bestimmen.
Berechnete Werthe für die Länge des 6. Abdominalsegmentes nach dem Grade
der Concentration.
Bei i^ = den i8. Theil der Rörperläuge
8 =
9 =
10 =
15 =
14.26.
»387.
«3-63.
Abdominalsegment relativ länger.
• 24 = •• 12.43. "
Mit steigender Concentration wird das 6.
Zu gleicher Zeit ist in jeder Concentration eine Variation in weitem
Umfange vorhanden.
Es besteht nur die Tendenz der Verlängerung, abhängig von der
Steigerung der Concentration. Die Tendenz tritt aus der Summe der In-
dividuen deutlich zu Tage.
Die nämlichen Gesetze gelten auch fiir die beiden letzten Abdominal-
segmente.
Beobachtete Werthe für die Länge des 7. Abdominalsegmentes nach dem Grade
der Concentration.
V-
V"
V"
Vx3
Vw
'As
Vx6
Vx7
Vx8
Vx9
I*
I
8
2
I
4
I
9
6
IG
4
2
IG
3
8
14
6
I
15
3
4
6
II
8
I
24
I
2
2
5
IG
7
5
I
I
Die Variationen bei Artemia salina Leajch.
25
Es wurden demnach untersucht:
aus 1° = I Expl.
» 8 = 8 »
»9=22 »
» lo = 32 »
» 15 = 33 »
» 24 = 34 »
In steigender Concentration wird das 7. Abdominalsegment länger.
Es variirt innerhalb der einzelnen Concentrationen.
Berechnete Werthe für die Länge des 7. Abdominaleegmentes nach dem Grade
der Concentration.
Es mifst das 7. Abdominalsegment :
bei i*^=:den 19. Theil der Rörperl&nge
. 8 = -
► 17.50. .
. 9 =: .
• 15.09. •
• 10 =s •
1 14.81. • •
• 15 = •
• 14.60. •
. 24 = .
. 14.14. •
Beobachtete Werthe fflr die L&nge des 8. Abdominalsegmentes nach dem Grade
der Concentration.
Vt
v«
V9
V-
V"
!•
I
8
2
4
3
I
9
4
10
20
»5
5
21
8
24
18
29
4
Es wurden untersucht:
aus I" =
I«»
=
I
Expl.
8
=
10
»
9
34
»
15
sz:
34
i>
24
=r
51
«
Berechnete Werthe für die Länge des 8. Abdominalsegmentes nach dem Grade
der Concentration.
Es miist das 8. Abdominalsegment:
bei i" = den 10. Theii der Körperlänge
• 8 = • 9*30. "
• 9 ^ • 8.47. •
• 15 s= • 8.08. •
• 24 s • 7.72. •
Thys, Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902, IL
26
M. S A M T £ R und R. H £ Y M O N s :
Lassen wir den filr die Concentration von i° gültigen Werth unbe-
rücksichtigt, so variirt nach den gefundenen Werth en in einer Concentra-
tion von 8® bis 24® Beaume die Länge des
6. Abdominalsegmentes vom 15. bis i2.Theil der Körperlänge
7. » » 17« • 14' » » »
8. » » 9. » 7. » • »
imd zwar ist die Variation abhängig vom Concentrationsgrad. Läfst sich
somit auch im einzelnen constatiren, dafs bei steigender Concentration die
drei letzten Abdominalsegmente relativ an Länge zunehmen, so ist zugleich
auch im einzelnen der geringe Grad dieser Zunahme nachgewiesen.
Es läfst sich demzufolge an der Artemia von MoUa Kary nicht dieselbe
Gröfsenzunahme in der Länge des Abdomens nachweisen, wie diefe fiir die
Artemia salina der Fall ist, welche Schmankewitsch untersucht hat.
Furca.
Auch die Furca ist der Einwirkung der Salzconcentration imterworfen,
in der Weise, dafs sie bei steigender Concentration an Länge sehr stark
abnimmt.
Die Verkleinerung der Furca in Folge starkem Salzgehaltes ist im
allgemeinen eine sehr viel wesentlichere und weit mehr aufifallige, als
die entsprechende Verlängerung der Abdominalsegmente aus derselben Ur-
saxjhe. Allerdings mufs hinzugefugt werden, dafs auch die FurcaUänge,
ähnlich wie diefs für die übrigen Cliaraktere zutrifft, durchaus nicht bei
allen Individuen ausnahmslos in genau dem gleichen Mafse von dem Ein-
flüsse des Salzgehaltes abhängig ist.
Die Länge der Furca wurde im Vergleich zur Länge des 8. Abdo-
minalsegmentes gemessen. Die Zahlen an der Spitze der Tabelle geben
den jeweiligen Theil der FurcaUänge im Vergleich zur Länge des ge-
nannten Segmentes an.
Beobachtete Werthe für die Länge der Furca nach dem Grade der Concentration.
V3
'A
Vs
'A
V7
Vs
V9
'Ao
V"
V"
V.3
Vrs
V16 i V'8
V«
1/
/29
8°
12
6
4
2
10
7
'7
34
3>
8
3
15
4
17
16
5
I
4
2
3
I
I
I
I
24
'
II
23
15
18
5
4
4
1
I
I
I
Die Vcttiatianen bei Artemia salina Leach.
27
Es wurden untersucht:
aus
8*»
^
24
FuTcaläste
»
lO
=
100
»
»
15
=
56
•
»
24
85
»
Berechnete Werthe für die L&nge der Furca nach dem Grade der Concentration.
1£a miist die Forca:
bei 8® SS den 3.83. Theil des 8. Abdominalsegmentea
• 10 SS • 6.25> • • •
• 15 =s • 7»'4' • • •
• 34 = • 7.57. • • •
Furcalborsten.
Mit zunehmender C!oncentration nimmt die Zahl der Furcalborsten ab.
Die Anzahl der Furcalborsten wird durch die Zahlen oben über der Tabelle
angegeben. Die Zahlen innerhalb der Tabelle geben die Häufigkeit des
Vorkonunens der betreffenden, am Kopfe der Tabelle stehenden Borsten-
zahl bei der betreffenden Concentration an.
Beobachtete Werthe für die Zahl der Furcalborsten nach dem Grade
der Concentration.
0
I
3
3
4
5
6
7
8
9
IG
1»
I
I
8
I
3
I
I
I
I
I
9
3
6
4
13
8
4
IG
3
4
IG
17
'5
6
4
3
3
3
I
15
1
6
8
18
18
9
3
I
24
I
4
19
30
13
4
I
Es wurden untersucht:
aus i^'ss
» 8 =
»
9
10
24
2 Expl.
8
36
65
64
71
28 M. Saht ER und R. Heymons:
Berechnete Werthe fflr die Zahl der Furcalborsten nach dem Grade
der Concentration.
Jeder der beiden Furcaläste besitzt:
bei i^ = 4.50 Borsten
. 8 = 5.25
• 9 =383
• 10 s 3.80 •
• 15 =340
• 24 s= 2.9t •
Abgesehen von der Variabilität innerhalb derselben Concentration hängt
die Zahl der Borsten von dem Salzgehalt ab. Selbst in den Concentrationen
niederer Grade zeigen sich durchschnittlich nicht so viel Borsten, wie
Schmankewitsch für die von ihm untersuchte Artemia gefunden hat.
Die Einwirkung des Concentrationsgrades ist daher bei der Artemia . aus
Molla Kary nicht sehr grofs.
Kieme.
Auch Ar die Kieme ist eine Verschiedenheit in der Einwirkiuig der
gleichen CJoncentration nach der Verschiedenheit der Localität hervorzu-
heben. Nehmen wir hierauf zunächst keine Rücksicht, so zeigen unsere
Aufstellungen, daßs die Kieme mit steigender Concentration eine Gröfsen-
zunahme erfahrt. Sie wird zugleich breiter und länger. Breite und LAnge
sind nach unseren Befunden an der Zunahme durchaus gleichmä£sig be-
theiligt. Es wird also in der Form der Kieme bei verschiedenartiger Con-
centration kein Unterschied hervorgerufen. Die Kieme behält ihre lang-
ovale Gestalt in allen Concentrationsgraden. Von 9^ bis 24^ Beaimie beträgt
stets ihre Breite -J ihrer Länge.
Die Gröfsenzunahme ist eine relative; in der gesättigten Concentration
ist die Kieme daher nicht grö&er, sondern etwas kleiner als in schwacher
Concentration. Da aber in steigender Concentration die Thierlänge schneller
abnimmt, wird die Kieme bei steigender Concentration verhältnifsmäfeig
gröfser. Innerhalb derselben Concentration divergiren bei den einzelnen
Individuen die Gröfsenverhältnisse stark. Man kann daher wiederum nur
von einer Tendenz zur Vergröfserung der Kieme bei steigender Salzcon-
centration sprechen.
Die erste Tabelle gibt die Länge, die zweite die Breite der Kieme im
Verhältnifs zur Länge des Thieres. Die Zahlen über den beiden Tabellen
geben demnach den Theil an, welchen die Kieme in Bezug auf die ganze
Die Variationen bei Artemia salina Leach.
29
Eörperl&nge miist. Die Zahlen in den Tabellen geben die Häufigkeit des
Vorkommens der betreffenden Mafse an.
Beobachtete Werthe fflr die Lftnge der Kieme nach dem Grade der Concentration.
V.4
•/.,
V.6
7.7
V.8
Vi9
v~
V"
Vm
V.5
V-
'/.»
9*
I
I
4
3
2
2
1
I
I
I
lO
2
3
II
4
6
I
»5
I
4
II
5
4
I
24
2
3
lO
4
3
3
Es wurden demnach untersucht:
aus 9®= 17 Expl.
» 10 = 26 »
» 15 = 26 »
» 24 = 25 »
Berechnete Werthe fflr die L&nge der Kieme nach dem Grade der Concentration.
Bei 9* s den 30.23. Theil der Körperl&nge
• 10 = * 18.50. • • •
• 15 = " ^7*38' • ■ •
• 24 s • 16.48. • • •
Mit steigender Concentration nimmt die Länge der Kieme relativ zur
Körperlänge zu. Absolut ist aber die Kieme am gröfsten in schwachen
Concentrationen. Durchschnittlich mifst sie bei einer Concentration:
von 9® Beaume 0T40,
» 24® » 0T37.
Beobachtete Werthe fflr die Breite der Kieme nach dem Grade der Concentration.
Vk>
V«
V..
V.3
Vm
V.5
V.6
•At
V.«
V.9
V30
V31
•Ä.
V33
V34
9*
•
2
I
I
I
2
I
4
2
I
10
I
2
I
2
3
I
12
4
'5
3
I
3
I
6
6
4
I
'
24
I
2
2
3
6
2
3
4
2
Es wurden untersucht:
aus
g''
=
15
Expl.
»
10
^
26
»
»
15
=
26
»
9
24
rs
25
w
30 M. Saht ER und R. Heymons:
Berechnete Werthe für die Breite der Kieme nach dem Grade der Concentration.
Bei 9° = dem 29.93. Theile der Korperlänge
• 10 = • 3^* '9* • • •
• 15 = • 26.96. • • •
• 24 ^ • 25.44. • • ••
Auch die Breite der Kieme nimmt mit steigender Concentration relativ
zur Körperlänge zu. Absolut aber nimmt die Breite der Kieme in steigender
Concentration ab. Durchschnittlich mifst sie:
bei 9® Beaume o"*."2 7,
» 24? » o°r24.
In dem Salzwasser verschiedenen Grades, welchem wir bei unseren
Untersuchungen die Artemia entnahmen, ändert sich bei den letzteren das
Verhältnifs von Kiemenlänge und Kiemenbreite zu einander nicht. Die
Breite der Kieme beträgt, wie oben erwähnt, bei 9** bis 24® Beaxune ^ ihrer
Länge.
Nach den Untersuchungen von Schmankewitsch beträgt bei der
Artemia aus den Seen von Odessa bei 9** die Breite der Kieme -j-, bei 24^
^ ihrer Länge. Demnach ist bei der Artemia aus Odessa die Kieme, je
nach der Concentration, Gestaltsveränderungen imterworfen, sie kann aus
einer langovalen in eine rundovale Form übergehen.
Nun zeigt ein Vergleich der von Schmankewitsch und von uns
gefundenen Werthe, bezüglich der Längenzunahme der Kieme, eine inter-
essante Thatsache. Nach den von Schmankewitsch angegebenen Ver-
hältnifszahlen beträgt bei der Artemia aus Odessa die Kiemenlänge
bei 9^ = o™6i,
» 24^ = 0^76.
Demnach wird bei dieser Artemia die Kieme bei steigender Concen-
tration absolut länger.
Nach unseren Beobachtungen beträgt aber bei der Artemia aus MoUa
Kary die Kiemenlänge
bei 9® = o°r40,
» 24^=0^^37.
In diesem Falle wird also die Kieme bei steigender Concentration
absolut kürzer.
Würde sowohl auf die Artemia aus Odessa wie von Molla Kary die
Concentrationssteigerung eine gleichmäfsige Oberflächenvergröfserung der
Die Variationen bei Artemia salina Leach, 31
Kiemen herbeiftlhren , dann müfste die Kieme der Artemia aus Molla Kary
in gleichem Verl) ältnüs, wie sie an Länge abnimmt , an Breite zunehmen.
Sie müfste aus einer rundovalen in eine kreisrunde Form übergehen. Da
sie aber im Gegensatz zu der von Sehmankewitsch charakterisirten Form
an Breite gar nicht zunimmt, an Länge aber sogar abnimmt, so wirkt die-
selbe Concentration auf die Kieme der Artemia aus Odessa und MoUa Kary
verschieden. Diese Verschiedenheit ist eine beträchtliche.
Zusammenfassung.
Das Resultat unserer Untersuchungen läfst sich in folgenden beiden
Sätzen zusammenfassen :
1 . Der Salzgehalt des umgebenden Wassers übt auf den Organismus
der Artemia salina einen nachweisbaren Einflufe aus, der sich namentlich
in gewissen Umgestaltungen hinsichtlich der Gröfsen- und Formverhältnisse
des Körpers ausspricht.
2. Die Einwirkung der Salzconcentration ist eine relative, sie kommt
zwar immer bei der überwiegenden Mehrzahl der Individuen mehr oder
weniger deutlich in annähernd übereinstimmender Weise zum Ausdruck,
dagegen ist individuellen Schwankungen hierbei noch ein ziemlich weiter
Spielraum gesteckt, so dafs durchaus nicht bei jedem Einzelindividuum
genau die gleichen Abänderungen in den Gröfsen- und Zahlenverhältnissen
des Körpers und seiner Anhänge die Folge einer bestimmten Salzconcen-
tration sind.
32 M. Samter und R. Heymons:
2. Allgemeiner Theil.
I. Das Yariationsproblem bei Artemia in seiner ursprünglichen
Formulinmg.
Nachdem wir in dem ersten Theile dieser Arbeit die Ergebnisse unserer
eigenen Untersuchungen mitgetheilt haben, schliefst sich jetzt die Frage an,
ob wir auf Grund dieser Befunde zu den gleichen theoretischen Ergebnissen
wie die früheren Autoren, und namentlich wie Schmanke witsch, kommen
können, oder ob diels nicht der Fall ist.
Wie in der Einleitung gesagt wurde, hat diese Frage den eigentlichen
Ausgangspunkt unserer Untersuchungen gebildet, denn es sollte nicht nur
unsere Aufgabe sein, den thatsächlichen Umfang der Variationserscheinungen
bei Artemia salina auf Grund erneuter Untersuchungen festzustellen, sondern
wir verfolgten von vom herein die Absicht, die von anderer Seite gezogenen
Schlufsfolgerungen mit den neuerdings festzustellenden Thatsachen zu ver-
gleichen und sie auf ihre Berechtigung hin zu prüfen.
Die Ergebnisse von Schmankewitsch, soweit sie auf allgemeines
und weitgehendes Interesse Anspruch erheben, gipfeln in drei Hauptsätzen,
hinsichtlich deren Begründung wir theils auf die Originalarbeit von
Schmankewitsch, theils auf die von uns gegebenen folgenden kritischen
Erörterungen verweisen,
1. Durch Einwirkung von Salzwasser von bestimmter Concentration
werden bei Artemia salina bestimmte Varietäten gebildet.
2. Durch den Einfluls starksalzigen Wassers gewinnt die Artemia
salina die Charaktere einer anderen Form, Artemia mühauseni.
3. Durch den Einflufs schwachsalzigen Wassers nähert sich die Ar-
temia salina dem Genus Branchipus,
Schmankewitsch hat diese Hauptsätze zwar nicht ausdrücklich in
der vorliegenden Fassung formulirt, sie lassen sich aber doch ohne weiteres
aus seinen Darlegungen ableiten. In den folgenden Abschnitten der vor-
liegenden Arbeit wird festzustellen sein , ob und in wie weit die theoretischen
Ergebnisse von Schmankewitsch als zutreffend angesehen werden können.
Die Variationen bei Artemia salina Leach. 33
II. Die Varietätenbildong bei Artemia in Abhängigkeit von der
Salzconcentration.
Im speciellen Theil haben wir darauf aufmerksam gemacht, dafs bei
der Artemia in MoUa Kary zwar der Einflufs des Salzes auf die über-
wiegende Mehrzahl der Individuen mehr oder weniger deutlich ersichtlich ist,
dafs er aber trotzdem nicht in jedem einzelnen Falle in gleicher Intensität
zu Tage tritt. Bei einzelnen Individuen weichen einzelne Charaktere stärker
ab, als bei anderen, nur bei der Hauptmenge der Individuen bleibt die
Tendenz der Variation immer die gleiche.
Es geht hieraus hervor, dals die verschiedenfiich concentrirten Salz-
wassertümpel und Salzwasserseen in MoUa Kary auch nicht von bestimmten,
scharf von einander zu isolirenden Artemia-FQtmtrx bevölkert sind. Jedes
Wasserbecken hat zwar seine vorherrschende Artemia-Form, seinen von
der jeweiligen Salzconcentration abhängigen Specialtypus; diesen Formen
oder Typen kann aber keineswegs der Rang von Varietäten in dem ge-
bräuchlichen zoologischen Sinne zugesprochen werden, da es eben factisch
unmöglich ist, irgend welche Abgrenzungen zwischen ihnen vorzunehmen.
Alle die verschiedenen -Ärtonia-Typen gehören in Wirklichkeit einem und dem-
selben Formenkreise an, alle möglichen Übergänge kommen zwischen ihnen
vor, und wollte man hier von Varietäten sprechen , so würde man bald ge-
zwungen sein, für jede Wasserlache eine oder mehrere Varietäten aufzustellen.
Dieses Resultat contrastirt mit den Ergebnissen von Schmankewitsch.
Dieser Forscher beschreibt nur eine geringe Zahl von Varietäten aus den
Limanen von Odessa, welche durch ganz bestimmte Merkmale ausgezeichnet
sind und stets in einer bestimmten Concentrationsstufe des Wassers leben.
Es ist klar, dafe der herv^orgerufene G-egensatz ein nicht unwesent-
licher ist, er ist wenigstens von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit,
sobald wir die Frage der Artbildung bei Artemia prüfen wollen. Varietäten
werden bekanntlich sehr häufig als begiimende Arten angesehen. Kommen
nun bei der Artemia Varietäten im Sinne von Schmankewitsch vor,
Varietäten, welche sich scharf von einander sondern lassen imd durch
prägnante Merkmale ausgezeichnet sind, dann ist wenigstens theoretisch
nicht die Möglichkeit von der Hand zu weisen, dafs aus diesen Varietäten
durch Consolidirung ihrer Merkmale auch im Laufe der Zeit Subspecies
oder Species werden können.
Pkys, Ahh. nicht zur Akad, gehör. Gelehrter, 1902, IL 5
34 M. Samter und R. Heymons:
Wir haben mit diesen Worten nur kurz auf die Bedeutung der
Varietätenfrage bei Artemia hinweisen wollen, wir gehen jetzt in medias
res und wenden uns zu einer Kritik der Angaben des genannten Forschers.
Schmankewitsch untersuchte die Variationserscheinungen an der
Artemia salina aus dem:
1 . Chadschibai- ) \
2. Kujalnitzki- ) ^ bei Odessa,
3 . Salz wasserpfötzen )
4. Sakki-Liman und Anf kleinen Seen bei Sewastopol,
5. Seen aus der Umgegend von Astrachan.
Da ihm ein derartig um&ssendes Material zur Verf&gung stand, imd
er seine Beobachtungen über sechs Jahre (1871 — 1876) fortgesetzt an-
stellte, wobei er die Artemien zu derselben Jahreszeit an verschiedenen
Ortlichkeiten und zu verschiedenen Jahreszeiten an ein und derselben
Fundstätte sammelte, so erhielt er Arfemia-Formen , welche den verschieden-
artigsten Einwirkungen der Concentration ausgesetzt waren , und wir dürfen
wohl annehmen, daCs in diesen Einwirkungen die Summe der Möglich-
keiten enthalten ist.
Schmankewitsch hat 5 Varietäten aufgestellt:
I. Artemia saüna^
Varietät a,
Varietät b,
erste Varietät der Artemia milhauseni,
zweite Varietät der Artemia milhatiseni.
Eine einheitliche Zusammenfassung der Charaktere, welche diese Ysr
rietäten von einander sondern, hat Schmankewitsch nicht gegeben. Trotz-
dem vergleicht er aber unter den obigen Namen die verschiedenen von
ihm aufgestellten Artemia-Formen mit einander und zieht aus diesen Ver-
gleichen seine Schlufefolgerungen.
In Folge der sehr unübersichtlichen Anordnung des Stoffes in der
Schmankewitsch'schen Arbeit (1877) ist es aber för den Leser derselben
aufserordentlich schwierig, ja sogar ohne ein eingehendes Studium fast im-
möglich , sich über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der SchluJ&folgerungen
ein Urtheil zu bilden.
Erst dann läfst sich Klarheit über die positiven Ergebnisse der
Schmankewitsch'schen Untersuchungen gewinnen, wenn man sich der
2
3
4
3
Die Variationen bei Artemia salina Leach. 35
Mühe unterzieht, die yerschiedenen von ihm gegebenen Einzelangaben
einander gegenüberzustellen. Da eine solche Zusammenstellung bis jetzt
fehlt, so glauben wir im Interesse der hier zu erörternden Fragen zu
handeln, wenn wir zunächst einmal die Charaktere der von Schmanke-
witsch beschriebenen ilrfemila -Varietäten an der Hand der vom Autor
selbst gegebenen Unterscheidungsmerkmale zu Diagnosen zusammenfassen.
Artemia salina.
Fundort. Hauptsächlich der Ghadschibai-Liman; ferner der Kujal-
nitzki-Liman und die Salz wasserpfutzen , je nach der jeweiligen Concen-
tration derselben.
Concentrationsgrenzen. 5® — 1 2® Beaume.
Farbe. Grau oder röthlich-grau, bisweilen auch dunkler roth.
Gröfse. 14"". Die Sommergenerationen sind kleiner als die Herbst-
generationen.
Verhältnifs des Vorderkörpers zum Abdomen. Meist wie 5: 6,
aber auch wie 5 : 7.
1. Antenne. Der breite Conus an der Spitze der Antenne trägt drei,
der schmale Conus einen Riechfaden.
2. Antenne. Die Fühler sind an ihrem zweiten Gliede sehr ver-
breitert und von der Form der Fühler der Artemia arieiina nach der
Zeichnung von S. Fischer (1851). An ihrer Vorderseite zwischen dem
Kopf und ihren Erhöhimgen nahe dem nach unten gekehrten Rande befinden
sich zwei Haufen kegelförmiger Zähne oder Stacheln zu je einem Häufchen
auf jeder Seite.
Die 9 Fühler sind breit und grofs.
Mitteldarm. Derselbe endigt in der Mitte des 7. Abdominalsegmentes.
Seine LSnge hängt von dem Alter der Thiere ab.
Kiemensack. Etwas gröfser als bei der Varietät a, und zwar zweimal
so lang als breit.
Branchialblatt. Relativ kleiner als bei der Varietät a.
Der Endlappen des Fufses besitzt xmgef&hr 30 Borsten.
6. Abdominalsegment. In der Regel etwas kürzer als das siebente.
8. Abdominalsegment. Zweimal länger als das siebente und homolog
den beiden letzten Abdominalsegmenten der Branchiptis- Arten.
Die Stachelhäufchen an den Segmentgrenzen fehlen.
5*
36 M. Samt ER und R. Heymons:
Für ca. Sechsmal kürzer als das 8. Abdominalsegment, doch kann
sie auch ebenso lang wie bei der Varietät a, d. h. viermal kOrzer, sein.
Furcalborsten. 4 — 12 Borsten, selten mehr, und zwar stehen diese
nicht nur am Ende, sondern auch an den Seiten der Furcaläste. Die Zahl
der Borsten kann auch eine geringere sein.
Varietät a.
Fundort. Hauptsächlich der starksalzige Kujalnitzki.
Concentrationsgrenzen. Mehr als i2®Beaume. Bei 20** und 24®
treten bereits die Varietäten der Artemia milhatiseni auf.
Farbe. Roth; doch ist die Farbe nicht constant.
Gröfse. 17-18"". Die Gröfse bildet den Hauptcharakter.
Verhältnifs des Vorderkörpers zum Abdomen wie 5:8. Das
Abdomen ist länger als bei der Art und auch dünner. Geringe Schwan-
kungen in dem Verhältnifs sind möglich.
1 . Antenne. Der breite Conus trägt drei, der schmale einen Riechfaden.
2. Antenne. Beim Männchen schmäler als beim Männchen der
Artemia salirui. Die Stacheln sind stärker entwickelt. Beim 9 schmäler
und kleiner als bei dem der Artemia salina.
Mitteldarm. Erreicht nicht das Ende des 6. Abdominalsegmentes.
Kiemensack. Etwas kleiner als bei Artemia salina.
Branchialblatt. Etwas gröfser als bei der Artemia salina.
Der Endlappen des Fufses besitzt imgefähr 33 Randborsten.
6. Abdominalsegment. Etwas länger als bei Artemia salina und
meist etwas länger als das 7 . Abdominalsegment. Statt der Stachelhaufen
an den Segmentgrenzen des 3. — 7. Abdominalsegmentes sog. »cuticulare
Zellen«, welche sich über die Oberfläche nicht erheben.
Für ca. Ist viermal kürzer als das 8. Abdominalsegment. Die Länge
der Furea kann aber auch gleich der der Artemia salina sein.
Furcalborsten. 8 — 15, selten mehr. Man findet aber auch
weniger als 4 Borsten.
Varietät b.
Fundort. Salzpfiitzen bei Odessa und Sewastopol.
Concentration. 4** Beaume.
Farbe. Mehr grau und durchsichtiger als bei Artemia salina.
Gröfse. Ungefähr 14'
mm
Die Variationen bei Arternia salina Leoch. 37
Verhältnifs des Vorderkörpers zum Abdomen. Das Abdomen
ist kfirzer oder gleich lang oder aber kaum länger als der Vorderkörper,
je nach dem Alter der Individuen.
1. Antenne. Die Zahl der Riechf&den betr> fünf statt vier.
2. Antenne. Bei den Männchen finden sich auf der vorderen nach
unten gerichteten Seite nahe dem Rande zwischen den rauhen Höckern
und der Mitte aufser dem Haufen von Zähnen einige Erhöhungen oder
Hautverdickungen. Die Antenne des Weibchens ist merklich schmäler als
bei Arternia salina.
Mitteldarm. Reicht über den Anfang des 8. Abdominalsegmentes hinaus.
Kiemensack. Etwas kleiner, besonders schmäler als bei Arternia saHna.
Abdominalsegmente. Kürzer und dicker als bei den anderen Varietäten.
9. Abdominalsegment. Bisweilen durch einen mehr oder weniger
deutlichen Querring, unmittelbar hinter den letzten Tastborsten, welche
sich bei der Arternia salina etwas oberhalb der Mitte des 8. Abdominal-
segmentes befinden, abgesetzt.
Das 3. — 7. Abdominalsegment besitzt an den Segmentgrenzen je
zwei oder je vier Häufchen von Stacheln, aus deren Mitte die Tastborste
entspringt. Ebenso finden sich in der Mitte des 8. Abdominalsegmentes diese
Stachelhäufchen .
Für ca. Besteht aus zwei lanzettförmigen Asten. Dieselben sind zwar
nicht abgegliedert, aber an den Seiten durch einen Querring vom Abdomen
abgetheilt. Sie sind gröfser als bei den anderen Artemia-Arten und zwar
nur 2-^- mal kürzer als das 8. Abdominalsegment.
Furcalborsten. An den Seiten und an dem Ende sind die Furcaläste
mit 12 — 22 Borsten besetzt.
Erste Form der Arternia milhauseni.
Dieselbe stammt von der Arternia saUna ab.
Fundort. Hauptsächlich ein besonderer Theil des Kujalnitzki.
Concentration. 20® Beaume.
Färb e. Dunkelroth.
Gröfse. Ungefähr 10™.
Verhältnifs des Vorderkörpers zum Abdomen. 5:8. Das Ab-
domen ist annähernd doppelt so lang wie der Vorderkörper, doch kürzer
als bei der zweiten Form der Arternia milhauseni.
38 M. Samt ER und R. Heymons:
2. Antenne. Zeigt am Grunde und in der Mitte eine Verbreiterung.
Mitteldarm. Erreicht kaum den Anfang des 6. Abdominalsegmentes.
Kiemensack. Oval oder mehr rundlich. Durchschnittlich ^ so breit
als lang, relativ also breiter als der der Artemia saÜna.
Endlappen der Extremit&t besitzt ungef&hr 25 Randborsten.
Abdominalsegmentation. Weniger scharf als bei den vorher be-
schriebenen Varietäten, besonders die der letzten Segmente. Abdominalende
ist plattgedrückt und verbreitert.
Für ca. Fehlt oder ist nur schwach entwickelt.
Furcalborsten. o — 3.
Zweite Form der Artemia milhauseni.
Dieselbe stammt von der Varietät a.
Fundort. Ein abgeschlossener Theil der Kujalnitzki.
Coneentration. 23** — 24** Beaimie.
Farbe. Stark dunkelroth.
Gröfse. Ungefähr 12°*"*.
Verhältnifs des Vorderkörpers zum Abdomen. 5 : 9 oder 5 : 10.
Das Abdomen ist fast doppelt oder doppelt so lang wie der Vorder-
körper, also länger als bei der ersten Form der Artemia mähaiLseni.
In den übrigen Charakteren stimmt sie mit der ersten Form der Artemia
milhauseni überein.
Aus dieser Aufstellung ergibt sich, dafs es sich im wesentlichen um
Umbildungserscheinungen bezüglich der Thiergröijse , des Verhältnisses vom
Vorderkörper zum Abdomen, der Zahl der Abdominalsegmente, der relativen
Gröfse der Furca, der Zahl der Furcalborsten, der Gröfse der Kiemen und
Branchialblätter und der Länge des Mitteldarmes handelt. An der Hand dieser
Charaktere sucht Schmankewitsch zu beweisen, dafe die Individuen der
Artemia salina in einer Coneentration von i^bis 5®Beaume sich zur Varietät b
umändern, welche sich dem Genus Branchipus nähert, und dafs durch die
steigende Salzconcentration stufenweise nach der Steigerung Varietäten ent-
stehen, welche alle Übergänge bis zu der kleinsten Varietät, der Artemia
mühauseni darstellen , welche eine Kummerform der gesättigten Salzconcen-
tration von 24**Beaume verkörpert. Die Annäherung an den jBra«cÄ^pw5-Typus
bringt die Varietät b im wesentlichen durch die Neunzahl der Abdominal-
Die Variationen bei Artemia salina Leach. 39
Segmente, durch das annShemd gleiche Verhältniis von Vorderkörper und
Abdomen, durch die absolute LAnge der Furcalftste und die groCse Zahl
ihrer Borsten, durch die L&nge des Mltteldarmes und die geringe Aus«
bildung der Kieme und des Branchialblattes zum Ausdruck. Bei allmählich
steigender Conc^ntration wird das Thier kleiner, das Abdomen relativ länger,
die Segmentation des Abdomens undeutlicher, die Furca und die Zahl ihrer
Borsten nimmt an 6rO&e ab. Der Mitteldarm verkürzt sich, die Kiemen
und Branchialblätter dagegen werden gröfser. Soll nun in Folge der Ein-
wirkung des Salzes die Bildung von Varietäten herbeigeführt werden , dann
müssen die fünf aufgestellten Varietäten in Bezug auf jeden in Betracht ge-
zogenen Charakter eine Stufenreihe der Umbildung darstellen. Ist dieses nicht
der Fall , dann ist in erster Reihe die AufSstellung von Varietäten unhaltbar.
I. Sonderung der von Schmankewitsch aufgestellten Varietäten
nach der Concentration.
Gehen wir an eine Kritik der Darlegungen von Schmankewitsch,
so gibt uns dieser Autor selbst die beste Handhabe , seine These von der
Existenz getrennter Varietäten , welche an eine bestimmte Concentration ge-
bimden sind, zu widerlegen. Die erste Bedingung, welche wir an das Vor-
handensein von Varietäten stellen, besteht darin, dais diese Varietäten sich
nach der Concentration sondern.
Varietät b darf nur in Concentrationen von i® bis 5** Beaume,
Artemia saUna nur von 5® bis 1 2^ Beaume,
Varietät a nur in 1 2® bis 20®,
erste Form der Artemia milhauseni nur in ungef&hr 20^,
zweite Form der Artemia mühavseni nur in 23® und 24®
anzutreffen sein.
Wir finden Schmankewitsch (1877) S. 465, dals Varietät a besser bei
hoher Concentration des Salzwassers lebt, als Artemia salina. Grelegentlich
also müssen beide gemeinsam in derselben Concentration zu finden sein. An
anderer Stelle heifst es , dafs die Charaktere der Artemia salina sich aufserdem
gegen die der Varietät a nicht scharf abgrenzen lassen. Wie nun die Zu-
sammenstellung zeigt, soll die verschiedene Gröfse das Hauptunterscheidungs-
merkmal zwischen beiden Varietäten sein. Mithin aber ßlllt auch die Gröüse
als Unterscheidungsmerkmal fui' zwei Varietäten, welche durch verschiedene
Concentrationsgrade hervorgerufen werden sollen, aber trotzdem gelegentlich
40 M. Samt ER und R. Heymons:
gemeinsam in derselben Concentration leben, hinweg. Was bleibt aber dann
von der Varietät a und was von dem Abstammungsunterschied zwischen der
ersten und der zweiten Form der Artemia milhausem? Auch die Beobachtung
von Schmankewitsch lehrt, daXs zwischen seiner Varietät a und der Ar-
iemia salma alle Combinationen ihrer Eigenthümlichkeiten zu finden sind,
und diese Summe von Variationserscheinungen kommt Individuen zu, welche
innerhalb der gleichen Concentrationsgrenzen leben. Femer sind die Unter-
schiede zwischen der Varietät a und der ersten Form der Artemia mü"
hauseni so geringfügig und zweifelhaft, dals auch hier einer Combination der
Charaktere Thfir und Thor geöffnet ist.
Für den Nachweis, dafs die Varietäten, wie sie Schmankewitsch
aufgestellt hat, sich nicht von einander abgrenzen lassen, ist das VerhältnÜs
der beiden Formen der Artemia milhauseni zu einander und zu ihrer Ab-
stammung von besonderm Werth. Wenn in der That eine Sonderung in
Varietäten existiren würde, dann würde speciell durch das Vorhandensein
der beiden Formen der Artemia mähauseni im Zusammenhang mit ihrer ge-
trennten Abstammung das Vorhandensein einer Einwirkung der Salzconcen-
tration durchaus negirt werden müssen. Das Verhältnifs, wie es Schman-
kewitsch gibt, ist folgendes:
Beide Formen der Artemia milhauseni leben im Kujalnitzki bei ver-
schiedenen Concentrationsgraden. Die erste Form bei 20**, die zweite Form
bei 23® und 24? Beaume. Die zweite Form ist die am stärksten degradirte
Varietät der Artemia salina. Bezüglich ihrer Abstammung macht Schman-
kewitsch einen Unterschied, zu dem er durch Hypothese gelangt. Er
läfst die erste Form der Artemia milhauseni von der Artemia salina, die zweite
von der Varietät a abstammen. Es müssen demzufolge beide, Artemia
salina und Varietät a, in dem Kujalnitzki, und zwar wenn beiden eine
verschiedene Concentration eigen ist, zu verschiedenen Zeiten anzutreffen
sein. Folgen wir den Angaben von Schmankewitsch, dann mufs sich
bei niederer Concentration allein Artemia salina in dem Kujalnitzki finden,
steigt die Concentration , dann mufs die ausgewachsene Artemia salina selbst
zur Varietät a werden, da nach den Experimenten von Schmankewitsch
auch das ausgewachsene Thier Umbildungen je nach der Concentration
erfährt.
Gleichzeitig aber wird auch die erste Brut dieser sich anpassenden
Jlrfemia -Varietät gemäfs der Salzconcentration zur Varietät a werden. Steigt
Die Variationen bei Arlemia salina Leach, 41
nun die Concentration auf 20® Beaume und producirt die zur VarietÄt a
umgebildete Stammgeneration eine zweite Brut, dann ist diese nach der
Abstammungstheorie von Schmankewitsch die erste Form der Ariemia mü-
hauseni. Die Varietät a aber, welche von der typischen Artemia salina
bei steigender Concentration producirt wurde, würde bei weiterm Steigen
der Concentration die zweite Form der Artemia milhauseni produciren , welche
alsdann die Enkelgeneration der Artemia salina darstellt.
Hieraus würde sich erstens mit Nothwendigkeit ergeben, dafs entweder
Form I und Form 2 der Artemia mühauseni gleichzeitig auftreten, obwohl
in der zweiten Form eine durch die stärkere Concentration gesteigerte
Degradation zum Ausdruck gebracht werden soll, oder aber es müTste
zwischen der Varietät a und der zweiten Form der Artemia milhauseni eine
Ubergangsform existiren, welche der Form i vollständig gleicht und auf
diese Weise den Abstammungsimterschied , welcher in der Form i und 2
liegt, vollständig aufhebt. Zweitens aber ist auch der gesonderte Ursprung
selbst unter den oben geschilderten Umständen ein rein illusorischer, denn
die erste Brut der Artemia salina , welche sich in dem concentrirtern Wasser
zur Varietät a entwickelt, ist von der Artemia salina^ welche in der ge-
steigerten Concentration die Charaktere der Varietät a annehmen mufs,
nicht zu unterscheiden. Nur dann hätte die Hypothese einer getrennten
Abstammung eine reale Bedeutung, wenn zwei neben einander existirende
imd von einander unabhängige Stammformen , Artemia salina und Varietät a,
vorhanden wären.
Da Schmankewitsch die Nothwendigkeit dieser Forderung empfindet,
so hebt er zu diesem Zwecke, ganz im Gegensatz zu dem stufenweisen Ab-
hängigkeitsverhältnifs , in welchem die fünf Varietäten unter einander stehen,
die Varietät a aus diesem Zusammenhange heraus und coordinirt sie der
Artemia salina. Nach S. 470 seiner Darstellung sind Artemia salina und
Varietät a durch Theilung und Entartung aus einer gemeinsamen mittleren
Stammform hervorgegangen. Wenn nun Varietät a und Artemia saUna zwei
coordinirte Formen sind, und die Varietät a nicht eine durch den erhöhten
Goncentrationsgrad hervorgerufene Anpassungsvarietät der Artemia salina dar-
stellt, dann mufs in dem Kujalnitzki entweder die Artemia salina gemeinsam
zu gleicher Zeit mit der Varietät a auftreten, und zwar als typische Ar-
temia saUna^ oder aber zu der Zeit, in welcher sich im Kujalnitzki die
Varietät a findet, mufs mit dieser zugleich die erste Generation der Artemia
Phys, Ahh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter, 1902. II. 6
42 M. S A M T E R und R. Heymons:
saHna, d. h. die erste Form der Ariemia milhauseni zu finden sein. Beide
Möglichkeiten aber würden die bedingungslose Abhängigkeit der Form von
der Salzcon Centration über den Haufen werfen.
2. Die Körperlänge der von Schmankewitsch aufgestellten
Varietäten.
Der Grundgedanke, welcher Schmankewitsch bei seinen Arbeiten
geleitet hat, war die Meinung, dais die Entstehung der beiden Gattungen
Branchipus imd Artemia aus einer gemeinsamen Stammform im Laufe der
Zeit durch den Salzgehalt des xmigebenden Wassers bedingt worden sei.
Durch den Einflufs von Süßwasser sei die Bildung der verhältnÜsmäXsig
grofsen Branchipus -Yorm, durch den Einflufs salzigen Wassers die Bildung
der relativ kleinen Artemia -Yotm zu Stande gekonmien.
Für diese Prämisse galt es Beweise zu liefern, und solche glaubte er
in der That durch die Beobachtung verschiedener Varietäten bei der Artemia
salina gefimden zu haben. Es mufste, um die obige Annahme zu stützen,
in erster Linie gezeigt werden, dafs diejenige Varietät, welche in dem am
schwächsten salzigen Wasser lebt (Varietät b), am grö&ten ist, und dafe
sie sich hierin, wie auch in anderen Merkmalen, am meisten dem Genus
Branchipus nähert, und es mufste ferner gezeigt werden, dais diejenige
Form Artemia milhauseni^ welche in dem am stärksten salzigen Wasser lebt,
am kleinsten ist und sich somit am weitesten von dem Genus Branchipus
entfernt.
In dieser allgemeinen Fassung läfst sich auch in der That gegen die
Mittheilungen und thatsächlichen Feststellungen von Schmankewitsch
nichts einwenden. Prüft man jedoch die Angaben, die er über die Körper-
länge der Varietäten in Abhängigkeit von der Salzconcentration gemacht
hat, genauer, so ergeben sich alsbald nicht unerhebliche Widersprüche.
Die erste Form der Artemia milhauseni stammt nach ihm bekanntlich
von der Artemia salina. Letztere mifet durchschnittlich 14"", die erste Form
der Artemia milhauseni 10"". Demnach mi£st die Artemia in hoher Concen-
tration ungefthr ^ ihrer ursprünglichen Länge oder aber sie verliert un-
gefilhr -J derselben.
Die zweite Form der Artemia mähauseni stammt von der Varietät a.
Diese mifst durchschnittlich 17-18"*", die zweite Form der Artemia rnä'
hauseni 1 2 °*". Hiernach würde die Artemia in der Varietät a bei der Er-
Die Yariationen bei Artemia salina Leach. 43
höhung der Concentration -^ ihrer ursprünglichen Eörperlftnge messen oder
aber -J derselben durch die Erhöhung der Concentration verloren haben.
Da nun zwischen der für die Artemia salina und der für die erste Form
der Artemia mUhauseru eigenthümlichen Salzconcentration eine grölsere Diffe«»
renz bestehen mufs^ als zwischen der Concentration, welche f&r die Varietät a
und die zweite Form der Artemia milhauseni möglich ist , so ist die Reaction
der Salzeinwirkung eine verschiedene, denn die geringere Concentrations*
Steigerung zwischen Varietät a und zwischen der zweiten Form der Artemia
salina bringt eine grö&ere, die stärkere Concentrationssteigerung zwischen
der Artemia saUna und der ersten Form der Artemia milhauseni eine geringere
Abnahme der Körperlänge hervor. Gerade das Gegentheil will und mufste
Schmankewitsch beweisen.
Nach seiner eigenen Darstellung S. 476 tritt die erste Form bei 20®,
die zweite Form der Artemia mUhauseni bei 23® und 24* Beaume auf. Es lebt
also mit anderen Worten im Wasser geringerer Concentration eine kleinere
nur 10"" grofee i4r/<?mia -Varietät, in höherer Concentration aber eine gröfsere
Varietät von 12"".
Wäre das Verhältniis zwischen Varietäten und Salzconcentrationen das
von Schmankewitsch fixirte, dann wäre die Theorie von der retardirenden
Einwirkung des Salzes nicht aufrecht zu erhalten. Dasselbe ergibt auch der
Vergleich der übrigen von Schmankewitsch aufgestellten Varietäten.
Folgerichtig ist gemäfs der Theorie von dem Einflufs der Salzconcen-
tration auf die Thierlänge die erste Form der Artetnia milhauseni kleiner
als die Artemia salina ^ die zweite Form der Artemia milhauseni kleiner als die
Varietät a; die Varietät b aber, welche der schwächsten Salzconcentration
angehört, ist im Gegensatz zu der Theorie, anstatt die gröfste der Artemia-
Varietäten zu sein, gleich der Artemia salina und sogar kleiner als Varietät a,
welch letztere bei mindestens 7® höherer Concentration -J gröfser als die
Varietät b ist. Dadurch dafs Schmankewitsch die Varietät a aus der
Stufenfolge der Abhängigkeitsformen heraushebt, sucht er einigermaXsen
Einwänden zu begegnen. Hat aber Artemia salina und Varietät a einen
gemeinsamen Ursprung, und soll eine Herabminderung des Salzgehaltes in
der Summe der Charaktere auch die Körperlänge in progressivem Sinne
beeinflussen, dann kann die Varietät b nicht kleiner sein als die Varietät a,
denn die mittlere Länge der subponirten Stammformen kann nicht kleiner
sein als diejenige der Artemia salina.
6*
44 M. S A M T £ R und R. Heymons:
Auf Grund unserer eigenen Beobachtungen können wir zwar auch be-
stätigen , dafs die im starksalzigen Wasser lebenden Individuen der Ärtemia
salina im allgemeinen kleiner, die im schwachsalzigen Wasser lebenden
Individuen dieser Art dagegen durchschnittlich gröfser sind; eine streng
gesetzmäfsige Abhängigkeit der Eörperlänge von der Salzconcentration , wie
sie Schmankewitsch durch die Aufstellung einer Anzahl verschiedener
Varietäten begründen wollte , ist aber nicht vorhanden xmd kann nicht vor-
handen sein, wie aus den widersprechenden Angaben von Schmanke-
witsch selbst ersichtlich ist.
3. Die Furcallänge.
Das Unzulängliche der Schmankewitsch 'sehen Varietäten geht aus
dem Verhältnifs der Furca und der Körperiänge bei steigender Concen-
tration des weitem hervor. Das Verhältnifs vom Vorderkörper zum Ab-
domen verhält sich bei Ärtemia salina wie 5 : 6 oder 5:7, bei Varietät a
wie 5 : 8,
Die Körperlänge der Ärtemia salina beträgt 14™", die der Varietät a
17-18"^.
Mithin ist das Abdomen und mit ihm das 8. Abdominalsegment der
Varietät a absolut und relativ länger als das der Ärtemia salina.
Da die Furca der Ärtemia salina -^^ die der Varietät a aber -J der Länge
des 8. Abdominalsegmentes beträgt-, so mufs die Furca der Varietät a ab-
solut und relativ länger als die der Ärtemia salina sein. Die in dem con-
centrirtern Wasser lebende Varietät a hätte demnach eine stärker ausge-
bildete Furca als die Ärtemia salina selbst.
"Zusammenfassung.
Somit zeigt es sich, dafs die Varietäten der Ärtemia salina, welche
Schmankewitsch beschrieben hat, gar nicht einmal zur Stütze derjenigen
Sätze und Behauptungen dienen können, die der Autor selbst aufgestellt
hat. Schmankewitsch beabsichtigte die streng gesetzmäfsige Abhängig-
keit der Körperformen von der Salzconcentration des umgebenden Mediums
darzutliun und wurde wohl hierdurch in erster Linie veranlagt, auch scharf
von einander zu sondernde Formenkreise, die in der genannten Hinsicht
in Abhängigkeit von den äufseren Lebensbedingungen stehen, aufzusuchen.
Allein die Durchfuhrung dieser Absicht ist nicht gelungen, denn bei der
Die Variationen bei Artemia salina Leach, 45
Beschreibung der verschiedenen Varietäten verwickelt sich der Autor in
eine Reihe unlösbarer Widerspräche, wie aus den oben gegebenen kriti-
schen Erörterungen seiner eigenen Angaben hervorgeht.
In Wirklichkeit gehen die Formen s&mmtlich in einander über, die
fünf von Schmankewitsch beschriebenen Varietäten lassen sich nicht von
einander sondern, und wir sind daher gezwungen, ihre Aufstellung als
unberechtigt anzusehen. Bedingungslos an die Concentration des
Salzwassers geknüpfte Varietäten gibt es bei der Artemia salina
nicht, sie kommen zweifellos ebenso wenig in den Limanen von
Odessa vor, wie wir sie in den Salzlagunen der transkaspischen
Steppen auffinden konnten.
nL Die ümgestaltang der Artemia salina zur „Artemia milhauseni".
Das Ergebnifs des vorigen Abschnitts lautete, dals wir den fönf von
Schmankewitsch als Varietäten beschriebenen Formen keine Bedeutung
in systematischem Sinne zusprechen können. Da Artemia mühauseni eine
dieser fünf Formen ist, so geht hieraus schon zum Theil hervor, dafs wir
auch die Aufstellung einer eigenen Art •milhauseni* natürlich ebenso wenig
für zutreffend und berechtigt ansehen können. Indessen ist nicht Schman-
kewitsch, sondern Fischer von Waldheim (1834) der Autor der ge-
nannten Art, und es mag daher im Hinblick auf das allgemeinere Interesse
dieser Frage noch besonders auf die Artemia mühmiseni eingegangen werden.
Grerade die Möglichkeit, dafs den Befunden von Schmankewitsch
zufolge durch Veränderung des Salzgehaltes aus einer Artemia salina all-
mählich eine Artemia mühauseni werden kann , hat seiner Zeit ein gewisses
Aufsehen erregt, denn hiermit schien ja der Nachweis gefiihrt zu sein, dafs
eine Thierspecies sich unter veränderten äufseren Lebensbedingungen zu
einer anderen Thierspecies umzugestalten vermag.
Indessen liegt dieser Meinung nur ein Mifsverständnifs oder eine irrthüm-
liche Auffassung zu Grunde, der Schmankewitsch namentlich in seinen
früheren Publicationen allerdings gewissen Vorschub geleistet hat. In
Wahrheit hat aber Schmankewitsch in seiner letzten Arbeit nicht nur
Zweifel an der Berechtigung der Artemia mühauseni als einer eigenen Art
ausgesprochen, sondern er hat sogar ausdrücklich erklärt, dals er die von
ihm im stark concentrirten Salzwasser beobachteten, etwas abweichenden
46 M. Samter und R. Hetmons:
^r/^mta- Formen nicht für eine eigene Art halten kOnne, selbst dann nicht»
wenn dieselben alle Kennzeichen der Ärtemia mühauseni trögen.
Es ist darauf hin eigentlich gar nicht zu verstehen, wie sich trotzdem
die Meinung einbürgern und erhalten konnte, als sei es Schmankewitsch
gelungen, eine Thierart beliebig in eine andere zu verwandeln. Er selbst
(1877) schreibt wörtlich: »Nach allem Gesagten hoffe ich, wird Niemand
daran denken, dafe ich dahin strebe, mittels der Veränderung des Elementes
bei der Zucht der Thiere aus einer Art eine andere oder irgend welche
neue Arten hervorzubringen«.
Bateson (1894) hat sich späterhin auch noch der Mühe unterzogen,
die Berechtigung der Species Ärtemia milhavseni einer Kritik zu unterwerfen.
Er kommt gleichfalls zu dem Ergebnifs, dafs diese Form keine eigene Art
sei, weil sie nur an der Hand ungenügend conservirten und schlecht er-
haltenen Materials aufgestellt sei, und ferner, weil noch niemals ein Männ-
chen der Ärtemia mUhauaeni aufgefunden sei.
Wir schliefsen uns der Meinung von Schmankewitsch und Bateson
in dieser Beziehung vollkommen an. Ärtemia milhauseni ist nur einer der
zahllosen Variationstypen, die bei der Ärtemia salina auftreten, und zwar
ein solcher, bei welchem die Rückbildung der Borstenzahl und die Undeut-
lichkeit in der abdominalen Segmentirung am weitesten fortgeschritten ist.
Dieser Milhauseni 'Typus gehört aber in den Formenkreis der Ärtemia salina
hinein; er ist unzweifelhaft durch alle Übergänge mit anderen Variations-
typen der Ärtemia salina verbunden.
Wir stimmen Schmankewitsch auch darin bei, dafs der MilAauseni-
Typus durch den Einflufs stark salzigen Wassers bedingt wird. Auch in
den stark concentrirten Wasserbecken von Molla Kary finden sich jeden-
falls Formen vor, welche diesen Milhauseni^Typns deutlich und unverkenn-
bar zur Schau tragen. Eine eigene Rasse oder eine eigene Varietät im üb-
lichen Sinne ist hierdurch aber in keiner Weise entstanden.
Irgend eine Consolidirung der Milhauseni- ChsiTskteTe ist nach unseren
Erfahrungen in keinem einzigen Falle eingetreten, denn wir fanden selbst
in stark salzigem Wasser mit den sogenannten Milhafisem-Formea zusammen
auch immer noch andere Formen vor, welche wenigstens nicht in demselben
Mafse die Eigenthümlichkeiten des ausgesprochenen Mähatiseni -Typus be-
safsen. Wir können uns in dieser Hinsicht sogar auf die eigenen Expe-
rimente von Schmankewitsch selbst berufen, denn auf Grund derselben
Die Variationen bei Artemia saüna Leach. 47
kann es keinem Zweifel unterliegen, dafs durch Verringerung des Salz-
gehaltes bei künstlichen Zuchten die Mehrzahl der Individuen in den folgen*
den Generationen ohne weiteres wieder die MilhatLseni-Form verliert und
schlie&lich zur typischen Artemia salina wird.
Die ^Artemia milhausenU stellt demnach weder eine eigene
Art — Species — , noch eine constante Rasse — Subspecies oder
Varietät — dar.
Wir wenden uns hiermit nur gegen die Au&ahme der ^Artemia
mUhausmi* als einer feststehenden und selbständigen Form in das syste*
matische System. Wenn der Ausdruck Varietät in dem Sinne ange*
wendet wird, wie er neuerdings von Schulze (1902) empfohlen wurde,
d. h. »zur Bezeichnung gewisser Erscheinungen, welche mit der rein
systematischen Eintheilung nichts zu thim haben«, so ist es selbst-
verständlich zulässig, von einer Artemia salina Leach. ^ var. milhauseni zu
sprechen.
Nicht allein Schmankewitsch hat derartige von der Salzconcentration
abhängige Varietäten beschrieben. Ihm ist wenigstens in gewissem Sinne
Simon (1886) gefolgt, der in ähnlicher Weise vier verschiedene Formen
bei der Artemia unterschied — forma principaliSj intermedia ^ mähauseni,
koeppeana — . Wir verweisen ferner auf Entz, der Daday (1888) zufolge
aus siebenbfirgischen Salzwasserteichen eine Artemia salina var. biloba aus
concentrirtem , und eine var. ßsrcata aus schwächer salzigem Wasser be-
schrieben hat.
Es wird Sache künftiger Untersuchungen sein, die Frage zu beantwor-
ten, inwieweit diese letztgenannten verschiedenen Formentypen wirklich
als durch bestimmte Merkmale ausgezeichnete und durch die Salzconcen«-
tration bedingte systematische Abarten angesehen werden dürfen. Die Ver-
muthung, daüs das Resultat ähnlich lauten wird, wie wir es für die von
Schmankewitsch beschriebenen Varietäten erhalten haben, liegt jeden-
falls nahe.
Auch für die gleichfalls stark variirenden Branchipus-Formen liegen schon
entsprechende Beobachtimgen vor, denn nach der Meinung Daday 's (1888)
sind die von manchen Autoren beschriebenen Arten nichts anderes als »ein
und dieselbe Stammform in Local- oder Perioden Veränderung«.
48 M. Samter und R. Heyhons:
lY. Die Yarietätenbildmig der Artemia salina in Abhängigkeit von der
Localität (Localvarietäten).
Obwohl wir durchaus nicht in Abrede stellen , dafe der Salzgehalt des
Wassers auf den Körperbau der Arkmia bis zu einem gewissen Grade tun-
wandelnd und modificirend wirken kann, so müssen wir doch entschieden
bestreiten, dafs im Freien unter natürlichen Verhältnissen dieser Einflufs
des Salzes allein ausreichend ist, um an einem Orte bestimmte Varietäten
zu schajSen.
Es handelt sich jedenfalls nicht um Varietäten in dem conventionellen,
bei anderen Thierformen in der Regel gebräuchlichen Sinne , nicht um be-
stimmte formbeständige Rassen mit fixirten Eigenthümlichkeiten , sondern
es handelt sich in den Lagunen von MoUa Eary imd unserer Meinung nach
auch in den Limanen von Odessa nur um Typen, die alle zu einem und
demselben Formenkreise gehören, und deren Zahl ganz nach subjectivem
Ermessen beliebig hoch und beliebig niedrig angenommen werden kann.
Änderungen des Salzgehaltes begünstigen also zahllose Variationen, sei
es nach dieser, sei es nach jener Richtung hin. Ohne das Hinzutreten
weiterer Umstände kann aber die Salzconcentration allein niemals zur Ent-
stehung eigener Rassen oder Abarten , die durch feststehende Merkmale von
der typischen Artemia saUna unterschieden sind, fiihren.
Wir treten hiermit in principiellen Gegensatz zu Schmankewitsch.
Letzterer verwahrt sich zwar ausdrücklich dagegen, experimentell oder durch
Beobachtung in fireier Natur die Entstehung neuer Arten oder Gattungen
festgestellt zu haben, allein er glaubt doch durch seine Untersuchungen
den Weg aufgedeckt zu haben, dessen sich die Natur bedient, um neue
Formen zu schaffen. Veränderungen äufserer Lebensbedingungen, und zwar
nach Schmankewitsch Änderungen vornehmlich eines einzelnen Factors,
nämlich des Salzgehaltes, soUen im Stande sein, allmählich neue Formen
hervorzubringen. Dieser Meinung des russischen Forschers müssen wir auf
Grund imserer eigenen Ergebnisse auf das Entschiedenste widersprechen,
denn so einfach liegt die Sache nicht.
Gewifs sind auch wir der Meinung, dafs Änderungen des Salzgehaltes
das Auftreten von Variationen, sei es nach der einen, sei es nach der an-
deren Richtung hin, sei es im progressiven, sei es im regressiven Sinne
Die Variationen bei Artemia salina Leach. 49
bei der Artemia salina begünstigen, allein die bisherigen Experimente und
vor allem auch sämmtliche Beobachtimgen in freier Natur sprechen dafür,
dafe ohne das Hinzutreten weiterer wesentlicher Umstände die Salzconcen-
tration niemals zur Entstehung eigener formbeständiger Rassen oder Abarten
fuhrt, ganz zu schweigen von der Entstehung neuer Arten oder gar neuer
Gattungen auf diesem Wege.
Diefs ist jedenfalls das Resultat unserer bisherigen thatsächlichen Er-
fahrungen. Würden Abarten, Varietäten, Untergattungen u. s. w. auf dem
von Schmankewitsch angegebenen Wege sich herausbilden imd schliels-
lieh als solche formbeständig sich erhalten können, so würde man wohl
annehmen müssen, an irgend einem Punkte der Erde einmal eine reine
Artemia mUhauseni ausgeprägt zu finden, welche sieh consolidirt hat und
nicht mehr ihre Charaktere verliert, oder man würde erwarten müssen,
irgendwo eine reine Form der Schmankewitsch 'sehen Varietätb zu treffen,
deren Merkmale befestigt und im Laufe der Zeit constant geworden sind.
Diefs hat sich aber noch niemals in Wirklichkeit bestätigt gezeigt. So-
weit eben zur Zeit alle bisherigen Erfahrungen reichen, ist doch in der
That noch niemals der Fall eingetreten, daXs allein durch Veränderungen
des Salzgehaltes bei Artemia in freier Natur neue Rassen oder Abarten mit
Constanten Merkmalen entstanden sind. Die Gründe hierfür liegen auf der
Hand, denn die Schwankungen des Salzgehaltes sind ja immer nur perio-
dische. Naturereignisse mannigfaltiger Art, die gelegentlich eintreten, fuhren
nothwendiger Weise wieder zu einem Ausgleich der extremen Lebensbe-
dingungen. Trockenheitsperioden bedingen eine Verstärkung des Salzge-
haltes , Regengüsse und Überschwemmungen veranlassen eine Verringerung
desselben , und letztere bedingen gleichzeitig in unvermeidlicher Weise immer
wieder eine Vermischung der in benachbarten Wasserbecken lebenden ver-
schiedenen Formentypen imter einander, so dafs es damit an einer und der-
selben Localität immer wieder zu einem Rückschlag in die typische Artemia
salina kommen mufs.
Rassenbildungen, die man mit vollem Rechte als Localvarietäten, oder
wenn man will, als beginnende Subspecies bezeichnen kann, treten un-
zweifelhaft auch bei der Artemia salina zu Tage , aber sie scheinen gerade
wie bei vielen anderen Thieren immer nur bei genügend weiter räumlicher
Trennung von einander, welche eine Vermischung ausschliefst, entstehen
zu können.
Phys, Ahh. nicht zttr Akad. gehör. Gelehrter. 1902. II. 7
5U M. Samt ER und R. Heymons:
Die asiatische Ärtemia saline, welche wir in Molla Kary sammelten,
unterscheidet sich durch eine Reihe kleiner, aber doch eonstanter Kenn-
zeichen von der europäischen Artemia salina aus den Limanen von Odessa,
oder von derjenigen aus den Lagunen von Capo d' Istria.
Nichts steht im Wege, hier thatsächlich von Localvarietäten oder viel-
leicht von besonderen Unterarten — Subspecies — zu sprechen. Die Rang-
ordnung, die man diesen localen Rassen im zoologischen System geben will,
ist ja im wesentlichen doch immer dem subjectiven Ermessen anheim ge-
geben, denn bei verschiedenen Thiergruppen ist in dieser Beziehung nach
verschiedenen Principien verfahren worden. Das wesentliche und wichtige
Moment liegt darin, dafs sich solche Localrassen durch constante Merkmale
von anderen Rassen desselben Arttypus unterscheiden.
Die Artemien in Molla Kary z. B. haben keine auffallenden Gruppen
cuticularer Vorsprünge — »Zellen« — oder sogenannte Stach elhaufchen an
den Abdominalsegmenten, die Artemien in Odessa besitzen solche. Hand
in Hand hiermit gehen andere kleine Diiferenzen, auf welche wir oben bereits
aufinerksam gemacht haben.
Ahnliche kleine morphologische Unterschiede pflegen sich bekanntlich
bei sehr vielen räumlich von einander getrennten Thierformen nachweisen
zu lassen. In allen wesentlichen Punkten findet sich eine völlige Überein-
stimmung, und erst bei genauer Untersuchung lassen sich einige unbedeutende,
aber doch constante Differenzen auffinden. Bei manchen Thiergruppen —
z. B. Mammalia — werden neuerdings solche kleinen Unterschiede von einigen
Forschern als genügend angesehen, um daraufhin neue Arten aufzustellen.
Diefs ist, wie gesagt, bis zu einem gewissen Grade Sache der persönlichen
Entscheidung, und es dürfte wohl kaum möglich sein, in dieser Beziehung
allgemein gültige Regeln aufzustellen. Wir glauben am besten zu thun,
wenn wir uns im vorliegenden Falle darauf beschränken , auf das thatsäch-
liehe Auftreten solcher Localrassen auch bei der Artemia salina hinzuweisen.
Wir haben uns hier nicht mit der Frage zu beschäftigen, welchen syste-
matischen Werth diese besitzen , sondern unsere Aufgabe ist es nur, die Be-
dingungen zu prüfen, unter welchen solche Localrassen bei Artemia entstehen.
Ganz gewifs kann es niclit das Kochsalz allein sein, das hier als Ent-
stehungsursache angesehen werden darf. Haben wir doch Artemien in Molla
Kary zum Theil aus Wasserbecken von genau derselben Concentrationsstufe
untersucht, wie Schm ankewitsch seiner Zeit bei den Artemien aus den
Die Variationen bei Artemia salina Leach. 51
Limanen von Odessa. Der Salzgehalt ist in beiden Fällen durchaus der
gleiche gewesen, die kleinen morphologischen Differenzen waren aber trotz-
dem immer vorhanden, so dafe man daraufhin von einer besonderen Local-
varietät oder Localrasse der Artemia salina bei Odessa und einer besonderen
Localvarietät oder Localrasse der Arteinia salina bei MoUa Kary sprechen kann.
Nicht nur in morphologischer Hinsicht unterscheiden sich übrigens
diese beiden Rassen, sondern auch kleine physiologische Differenzen sind
ihnen eigenthümlich. Wie unsere Untersuchungen zeigen, bewegen sich die
Reactionen der Artemia salina aus Molla Kary hinsichtlich der Gesammt-
länge des Körpers , der Länge des Abdomens und der Furca in Folge der
jeweiligen Salzconcentration in engeren Grenzen, als diefs bei der Artemia
aus Odessa und wohl auch bei derjenigen aus Capo d' Istria der Fall ist.
Die gleichen Schwankungen des Salzgehaltes haben also verschiedene Schwan-
kungen in den durchschnittlichen Gröfsenverhältnissen bei den verschiede-
nen Localrassen zur Folge. Würde man Artemia salina in derselben ein-
gehenden Weise von anderen Fundstellen prüfen, so würde man zweifel-
los die Zahl solcher durch geringfiigige morphologische und physiologische
Eigenthümlichkeiten ausgezeichneten Localrassen noch sehr wesentlich er-
höhen können.
Es ist somit klar, dafs das Salz allein nicht im Stande gewesen ist,
diese Rassenbildungen zu veranlassen, denn die Salzconcentrationen als solche,
wie sie sich an der Beaume-Scala ablesen lassen, sind auch an räumlich
weit von einander getrennten Fundorten doch immer ungefähr dieselben;
es kehren im wesentlichen immer die nämlichen Procentsätze von Kochsalz
wieder, mag auch sonst der Gehalt des Wassers an Magnesium, an Calcium,
an Sauerstoff u. s. w. ein noch so verschiedenartiger und abweichender sein.
Nicht also das Salz allein als einziger oder als vorzugsweise wirkender
Factor, wie Schm ankewitsch es durch seine umfangreichen Experimente
und langjährigen Beobachtungen nachweisen wollte, fuhrt bei dem uns
interessirenden Krebsthierchen zur Entstehung neuer Formentypen mit
dauernden und constanten Eigenschaften, sondern das Auflreten solcher
neuen Formen mufs unbedingt von anderen Ursachen und andersartigen
Bedingungen abhängig sein. Wir sind zur Zeit bei der Artemia salina
ebenso wenig wie bei anderen Thieren im Stande, diese Bedingungen
im einzelnen genauer zu analysiren; wir dürfen aber wohl mit Bestimmtheit
annehmen, dafs die verschiedenen Bestandtheile der speciellen chemischen
52 M. Samt ER und R. Heymons:
Zusammensetzung des Wassers, die an den verschiedenen Fundorten immer
eine etwas andersartige sein wird, die hiervon abhängigen verschieden-
artigen Ernährungsbedingungen, die an verschiedenen Localitäten sich in
abweichender Weise geltend machenden klimatischen Einflüsse, die jeweilige
Intensität der Sonnenbeleuchtung und andere Umstände hierbei in Betracht
kommen werden abgesehen davon, dafe auch innere, constitutionelle Ur-
sachen mafsgebend gewesen sein mögen, welche sich weiter vererbten imd
damit der Localrasse einen bestimmten Typus verliehen. Es ist noch nicht
festgestellt, ob dieser oder jener der genannten Factoren vielleicht eine be-
sonders entscheidende und ausschlaggebende Bedeutung besitzt, man darf
aber sicherlich behaupten, dafs durch das Zusammenwirken solcher oder
ähnlicher Umstände jedenfalls ein sehr viel erheblicherer Einflufs auf die
Entstehimg besonderer Rassen oder (Local-) Varietäten ausgeübt wird, als
dies seitens des von Schm ankewitsch so eingehend geprüften Chlor-
natriumgehalts des Wassers der Fall sein kann.
Eine dauernde Fixirung solcher speciellen Formentypen ist aber bei
der Artemia salina, gerade wie dies bei zahlreichen anderen Thieren zuzu-
treffen scheint, wohl nur dann möglich, wenn aufser den erwähnten ver-
schiedenartigen äufseren Einflüssen auch noch eine genügende räumliche
Trennung vorliegt , um Rückschlagserscheinungen und Vermischimgen mit
anderen Typen auszuschliefsen.
Y. Die ßattongen Branchipos und Artemia und ihre Abhängigkeit
von den äufseren Lebensbedingungen.
Wir wenden uns zum Schluls zu einem Vergleich der Artemia mit
dem nahestehenden Genus Branchipus. Aus den vorstehenden Mittheilungen
hat sich ergeben, dafs bei der in Molla Kary vorkommenden Artemia zwar
keine constanten Varietäten auftreten, von uns wenigstens nicht beobachtet
werden konnten, dafs aber die Variabilität, wenn sie auch in ziemlich weiten
Grenzen sich bewegt, sich doch im allgemeinen an die von Schmanke-
witsch beschriebenen Verhältnisse anschlie&t. Es hat sich namentlich ge-
zeigt, dafs im stärker salzigen Wasser durchschnittlich die Körperlänge eine
geringere, die Beborstung eine schwächere wird, während umgekehrt im
schwächer salzigen Wasser im allgemeinen die Körperlänge etwas zunimmt
und die Beborstung eine ausgiebigere wird.
Die Variationen bei Artemia salina LeacJi. 53
Da die zuletzt hervorgehobenen Merkmale im grofsen und ganzen
auch fär die vorzugsweise im süfsen Wasser lebende Gattung Branchipus
als charakteristisch angesehen werden können, so schliefet sich jetzt wohl
naturgemäfs die Frage an, in welcher Hinsicht die Artemia vom Branchqms
sich unterscheidet , und auf welchen Merkmalen die Trennimg dieser beiden
Genera beruht. Erst hiernach wird es sich beurtheilen lassen, welche
Umgestaltungen und welche Veränderungen noth wendig wären, um wirklich
eine Artemia-Vorm in eine -Bran<3Äijpi«-Form oder vice versa zu überföhren.
Schmankewitsch hat bekanntlich besonderes Gewicht auf die ver-
schiedene Gliederung des Abdomens bei den genannten beiden Gattungen
gelegt. Noch in seiner ausführlichen und letzten Publication hebt er hervor,
»dafs bei der Abwesenheit besonderer Kennzeichen bei Artemia zum
Unterschiede von Branchipus man fiir das Genus Artemia acht fufslose Ab-
dominalsegmente annehmen mufSs«, während er für das Genus Branchipus
neun solcher Segmente als typisch und charakteristisch bezeichnet. Freilich
liest man in seiner von Widersprüchen bekanntlich nicht freien Arbeit
schon sehr bald darauf den Satz: »Es wäre erkünstelt, auf Grund eines
einzigen Kennzeichens (Gliederung des Abdomens) die einen Arten zum
Genus Artemia^ die anderen zum Genus Branchipus zu rechnen« und er
f> dann sogar noch ausdrücklich hinzu: »es gibt andere Kennzeichen,
nach denen die Species von Branchipus von Artemia zu unterscheiden sind«.
Von diesen weiteren Unterschieden erwähnt Schmankewitsch die starke
Entwickelxmg der zweiten Antenne beim männlichen Branchipus y die bei
demselben im Gegensatz zur männlichen Artemia mit besonderen Anhängen
versehen ist, und ferner macht der Autor auf die im allgemeinen stärkere
Ausbildung der Schwanzgabel und auf das Fehlen der Parthenogenese bei
Branchipus aufinerksam.
Durch alle Arbeiten von Schmankewitsch zieht sich aber doch
in imverkennbarer Weise, gewissermafsen wie ein rother Faden, ein leitender
Grundgedanke hindurch, nämlich die Ansicht, dafs Artemia durch den
Aufenthalt in stärker ausgesüfstem Wasser bestimmte 5rancÄ^pt/5- Charaktere
annehme. Nach der Leetüre der Schmankewitsch'schen Arbeiten kann
der Leser auch nicht im mindesten mehr darüber im Zweifel sein, dafs
diese Branchipus -Q/YihTBkteve neben einigen anderen Merkmalen, wie z.B.
der stärkeren Beborstung der Schwanzgabel, in erster Linie und haupt-
sächlich in der Ausbildung von neun fiifslosen Abdominalsegmenten zu
54 M. Samt ER und R. Heymons:
suchen sind. Gerade die Existenz von neun fiiMosen Segmenten wurde von
Schmanke witsch (1875) als »das Hauptkennzeichen des Genus Branchtpus*
hingestellt.
Unstreitig gebührt dem hervorragenden Crustaceenforscher C. Claus
(1886) das Verdienst, in knapper und zugleich in klarer und präciser
Weise die unterscheidenden Merkmale von Artemia im Vergleich zu
Branchipus aus einander gesetzt und auf die Bedeutung derselben hinge-
wiesen zu haben. Von Seiten der früheren Autoren, von denen wir aufser
Grube (1853) und Schmankewitsch (1877) auch noch Simon (1886)
erwähnen, dessen Arbeit ungefähr gleichzeitig mit derjenigen von Claus
erschien, war die Charakterisirung von Artemia jedenfalls noch nicht in
hinreichender Weise durchgeführt worden.
Claus hebt in erster Linie hervor, dafs Branchipics während seiner
Larvenentwickelung ein Stadium durchlaufe, in dem er sich hinsichtlich
seiner abdominalen Gbederung gar nicht von Artemia unterscheidet. Das
letzte Segment des Abdomens stellt nach Claus bei den beiden Formen
auch gar kein echtes, den vorhergehenden Abdominalsegmenten gleich-
werthiges Metamer dar, sondern es sei nebst den Furcalästen als After-
stück (Telson nach der neuereu Terminologie) zu bezeichnen. Der Unter-
schied zwischen den beiden Gattungen beschränkt sich also hinsichtlich
der Gliederung des Abdomens nur auf den Umstand, dafe bei Branchipus
das Afterstück mit seinen mächtig entwickelten Furcalgliedem segment-
artig abgesetzt ist, während dasselbe bei Artemia als unmittelbare Fort-
setzung des vorausgehenden ebenfalls 8. Abdominalsegmentes erscheint und
eine bedeutende Länge erreicht.
Artemia bleibt in dieser Beziehung also noch dauernd auf einer
mehr primitiven und jugendlicheren Stufe stehen und wird schon während
derselben geschlechtsreif. Dieses Verhalten schreibt auch Claus in Über-
einstimmung mit Schmankewitsch dem Einflüsse des Salzwassers zu.
Als weitere Gattungscharaktere der Artemia werden von Claus noch
die folgenden Eigenthümlichkeiten hervorgehoben:
I. Die weite mediane Trennung der zweiten Antennen (oder Stim-
hörner), welche eine viel einfachere, mehr den jugendlichen Antennen von
Branchipus entsprechende Form bewahren, ohne im männlichen Geschlechte
die für die Arten der letzteren Gattung charakteristischen Fortsätze und
Anhänge zu bilden.
Die Variationen hei Artemia salina Leach. 55
2. Die Ovarien zeigen einen geringern Umfang und reichen nicht in
die mittleren Abdominalsegmente . herab.
3. Die Windmigen der Schalendrflse verhalten sich einfacher, ohne
eine Schlinge in das erste Beinsegment zu senden.
4. Von der Antennendrflse persistirt ein Überrest im ausgebildeten
Zustand.
Andere für die Gattung Artemia charakteristische Unterschiede be-
treffen nach Claus:
1. Die bedeutendere Länge des Afterdarms , welcher am Ende des
17. Segmentes (6. Abdominalsegmentes), bei Branchipus erst im Endsegmente
des Abdomens beginnt.
2. Die Verkümmerung des Maxillartasters , welcher dem Basalstücke
des Eliefers fast unbeweglich anliegt.
3. Die Zahl und Stellung der Tastborsten an den letzten Abdominal-
segmenten.
4. Der Mangel der Bauchdrüsen, w&hrend Beindrüsen vorhanden sind.
5. Die bereits von Schmankewitsch erörterte Sculptur des In-
teguments, welche Claus zufolge .wahrscheinlich auf den directen Einflufs
des Salzwassers sich zurückföhren lassen soll.
Hinsichtlich dieses letztern Merkmales müssen wir jedoch bemerken,
dafs wir ihm keine besondere Bedeutung beimessen können, weil die be-
treffende Sculptur, wie schon oben erwähnt wurde , bei der in MoUa Kary
lebenden Varietät von Artemia überhaupt nicht nachzuweisen war. Weder
die sogenannten Stachelhäufchen, noch besondere »Haufen cuticularer
Zellen« mit Borsten zeigten sich an den betreffenden (Abdominal-) Segmenten
ausgebildet. Es gilt diefe für die aus ganz verschiedenen Concentrations-
stufen stammenden Exemplare der asiatischen Artemia salina.
Bateson (1894) hat sich in seinem Werke über die Variation haupt-
sächlich auf die Ausführungen von Claus gestützt. Vor allem wendet
er Schmankewitsch gegenüber ein, dafs die abweichende Gliederung
des Abdomens nicht die einzige Differenz zwischen Branchiptis und Artemia
sei, sondern dafs die verschiedenartige Entwickelung der zweiten Antennen
im männlichen Geschlechte als ein viel entscheidenderes Kennzeichen an-
gesehen werden müsse. Es läge jedoch keine Veranlassung zu der Annahme
vor, dafe die differenten Sexualcharaktere bei den beiden Gattungen durch
die verschiedenartige Concentration bedingt worden wären.
56 M. S A M T £ R und R. Heymons:
Die aufserordentlich nahe Verwandtschaft zwischen Branchipus und
Artemia kann unserer Meinung nach gar keinem Zweifel unterliegen. In
Wirklichkeit scheint es sogar gar kein einziges durchgreifendes morpho-
logisches Merkmal zu geben, welches allein ausreichend ist, um die beiden
Gattungen von einander zu trennen. Wenigstens ist bis zur Zeit noch
kein derartiges Unterscheidungsmerkmal bekannt geworden. Die häufig
genannte verschiedenartige Gestaltung der zweiten Antennen des Männchens
kann jedenfalls durchaus nicht ohne weiteres zur absoluten Trennung ver-
werthet werden. Es ist somit auch nicht richtig, wenn Claus schreibt,
dafs bei Artemia die zweiten Antennen median in weitem Abstände getrennt
bleiben, während sie bei Branchipus verwachsen sind, denn das von uns
untersuchte männliche Artemia ''Exem^^lar zeigt ganz deutlich die mediane
Verwachsung der Antennen, so dafs hiermit im Princip genau das gleiche
Verhalten wie bei Branchipits zu Tage tritt.
Ebenso wenig können wir Bateson beipflichten, welcher sagt: »It
should be remembered that by the sexual character of the males, Bran-
chipua is absolutely separated from Artemia^. Gewifs finden sich einige
relative Unterschiede in den Gröfsen- .und Formverhältnissen, aber eine
absolute Trennung von Branchipus und Artemia wird durch dieselben nicht
bedingt.
Bateson stützte sich besonders auf die verschiedene Gestaltung der
männlichen Greifantennen, welche bei der Gattung Branchipus niemals die
charakteristische blattförmige Verbreiterung wie bei Artemia saUna und
Artemia gracilis zeigen sollen. Gerade diesen Punkt, der uns fraglich
erschien, haben wir nun einer Nachprüfung unterzogen, sind dabei aber
zu wesentlich abweichenden Resultaten gekommen.
Die blattförmige Gestalt ist nämlich schon bei den beiden genannten
Artemia-Artexi^ salina und gracilis^ eine verschiedene. Bei der ersteren Form
handelt es sich um ein breites, fast dreieckiges Gebilde, das von dem
zweiten und dritten Antennengliede gebildet wird, bei der letztgenannten
Form, die wir an einigen Stücken aus Earajak Nunatak von Grönland
untersuchten , ist dagegen der betreffende Theil der Antennen lang gestreckt,
lanzettförmig und nur basal verbreitert. Wendet man sich nun zur Bran-^
chipus-Gruppe und untersucht die mämiliehen Antennen von Branchinecta
paludosa^ so ist der Formenunterschied im Vergleich zu den Antennen
der Artemia gracilis keineswegs ein irgendwie wesentlicher. Wir treffen
Die Variationen bei Artemia salina Leach. 57
bei BrancMnecta paludoea wieder dasselbe lanzettförmige Gebilde an , dessen
basale Erweiterung etwas umgebogen ist. Diese Umbiegung an der basalen
Partie des zweiten Antennengliedes ist aber nicht von Bedeutung , denn
sie zeigt sich an der nämlichen Stelle sogar schon bei Artemia saUna an-
gedeutet, worauf wir bereits oben hingewiesen hatten. Noch ein Schritt
weiter fahrt uns zu den Antennen von Brandiipus. Durch weitere Streckung
und Umbiegung hat sich die basale Erweiterung ausgeglichen und die
Antenne ist zu einem mehr stabf5rmigen Organ mit rundlichem Quer-
schnitt geworden. Schon bei Untersuchung dieser wenigen Vertreter zeigt
es sich alsOy dafis die Formenunterschiede in der Gestaltung der männ-
lichen Antennen sich bei den beiden Gattungen Branchipus und Artemia
durchaus nicht unvermittelt einander gegenüberstehen. Bei der Unter-
suchung einer grOlseren Zahl verschiedener Branchipodiden würden sich
wohl zweifellos noch manche weitere Übergänge dieser Art feststellen
lassen. Wir kommen demnach zu dem Ergebnils , dals es sich nicht um
ein specifisches Merkmal handelt, wenn in dem einen Falle die Antennen-
glieder mehr flach und blattförmig, in dem anderen Falle mehr lanzett-
förmig und abgerundet sind, denn diese Formenunterschiede können sogar
innerhalb der Ar^^titi- Gruppe und innerhalb der £rancAi]pti8- Gruppe bei
verschiedenen Arten in recht verschiedenem Mafse ausgeprägt sein. Es
kann auf solche Formenunterschiede um so weniger Gewicht gelegt werden,
als sowohl die morphologische als auch die physiologische Bedeutung der
genannten EOrperpartie in allen Fällen immer die gleiche ist.
Abgesehen von dem eben besprochenen, von Bateson hervor-
gehobenen Merkmal pflegt nun auch häufig Gewicht darauf gelegt zu
werden, dafs bei den männlichen BrancMptis die Greifantennen besondere
Fortsätze und Anhänge tragen, welche den Arfemta- Männchen fehlen.
Hier heilst es indessen keine Regel ohne Ausnahme, denn die genannten
Anhänge fehlen auch bei Branchinecta pahuiosa und ferox , zwei in anderer
Beziehung typischen BrancÄ^ptw-Formen , welche also in diesem einen Merk-
mal wieder absolut mit der Artemia übereinstimmen und deswegen in der
von Simon (1886) gegebenen Übersicht der eiu*opäischen Branchipodiden
sogar thatsächlich zu der Artemia-Gnippe gestellt wurden. Jedenfalls kann
den Fortsätzen der männlichen Antennen kein besonderer Werth zugeschrieben
werden. Übrigens hat auch schon Schmankewitsch darauf aufmerksam
gemacht, dafs die knopfförmigen Höcker, die an den Basalgliedern der
i%5. Abh. nicht zur Ähad. gehör. Gelehrter, 1902. IL 8
58 M. Samt ER und R. Heymons:
zweiten Antennen beim Artemia'-M&nnchen sich vorfinden , als ein Rudiment
oder als eine Andeutung der in Rede stehenden Anhänge des Branchipus-
Männchens aufzufassen seien. Wir können uns dieser Deutung von
Schmankewitsch anschliefsen.^
Falst man das Gesagte zusammen, so ergibt sich, dais zwar im all-
gemeinen und im grofisen und ganzen gewisse Verschiedenheiten in den
hervorgehobenen Sexualcharakteren bei den Arten der Artemia- Gruppe einer-
seits und bei den Arten der Branchipus-GfTxyp^e andererseits vorhanden sind,
dafs es aber keineswegs richtig ist, wenn nian erklärt ,. dafis durch diese
Charaktere ohne weiteres eine scharfe und absolute Trennung der beiden
Gattungen bedingt würde.
Die Sache liegt demnach so, dafs nicht, wie Schmankewitsch es
ursprünglich wollte, und wie auch noch neuerdings Bateson gemeint hat,
ein Einzelnes oder einige wenige Eigenschaften in Betracht kommen, son*
dern dafs eine ganze Summe verschiedenartiger, zum Theil sogar die innere
Organisation betreffender Merkmale entscheidend sind, ob eine Art zu
Branchipus oder zu Artemia zu stellen ist.
Im allgemeinen läfst sich sagen , dafs Artemia im Gregensatz zu Branchi-
pus eine Reihe primitiver Charaktere aufweist, daCs sie oiehr larvale Eigen«
thümlichkeiten ziu* Schau trägt und daher gewissermafsen auf einer niederen
Entwickelungsstufe verharrt, während BrancJüpus eine weiter fortgeschrittene,
oder im Sinne von Schmankewitsch gesprochen, eine weiter progressiv
entfaltete Thierform darstellt.
Gewils liegt die Vermuthung sehr nahe, dafs die im Grunde genommen
doch recht geringfiigigen Gattungsunterschiede von Branchipus und Artemia
dadurch entstanden sind, daOs sich die erstere Form im allgemeinen an
das Süfswasser, die zweite Form im allgemeinen an das Salzwasser an-
gepaßt hat, und dafs es dann eben in Folge der verschiedenartigen Lebens-
weise allmählich zu einer Consolidirung, zu einer Befestigung der vor-
herrschenden Gattungscharaktere gekommen ist.
Es ist aber wohl kaum erforderlich ausdrücklich hervorzuheben, da&
wir hiermit nur einer allerdings naheliegenden und daher auch schon von
^ Es ist nicht ohne Interesse, d&£s die knopffÖrmigen Höcker auch an den Antennen
eines weiblichen Artemia -\ndiw\dM\xms von uns gefunden wurden, so dafs es in diesem ein-
zelnen Falle zu einer Übertragung eines wenn auch nur untergeordneten Sexualcharakters
auf das andere Geschlecht gekommen ist
Die Variationen bei Ariemia salina Leach. 59
anderer Seite ausgesprochenen Annahme Ausdruck geben. Es handelt sich
hierbei ausschliefslich um eine Hypothese, flir welche sich lediglich einige
Wahrscheinlichkeitsgründe geltend machen lassen. Namentlich ist der Um-
stand zu erwähnen, dais heutzutage weitaus die meisten Arfemea - Formen
im Salzwasser, und weitaus die meisten BraruMpus-Yormeni im Süi^wasser
leben. Dies spricht sicherlich för ein gewisses ursächliches Verhältnils,
das zwischen der Lebensweise und der allmählichen Fixirung der Gattungs-
charaktere bestanden hat. Femer ist es auch wohl nicht ohne Bedeutung,
dafs bei Artemia durchschnittlich die meisten Variationen im schwachsalzigen
Wasser eine gewisse Annäherung an die Brandiipus-^Y ormeUy im starksalzigen
Wasser eine Entfernung von ihr, wenn auch nur in recht untergeordneten
Merkmalen, zu erkennen geben. Wenn auch alle diese Variationen sich
immer streng innerhalb der Artgrenze der typischen Artemia salina bewegen,
und sie niemals zur Entstehung eigener gesonderter Typen führen , so mag
doch immerhin dieser Umstand zu Gunsten eines bestimmten Einflusses der
äu&eren Lebensbedingungen auf den Organismus der uns interessirenden
Phyllopoden sprechen. Insoweit und in diesem Sinne haben unsere Er-
gebnisse zu einer gewissen Bestätigung der Darlegungen von Schmanke-
witsch gef&hrt.
Von der thatsächlich vorhandenen Einwirkung des Salzes auf den
Körperbau der Artemia salina bis zur Entstehung einer neuen Art oder gar
der Gattung BrancMpus ist aber ein weiter Weg! Ein wirklicher Beweis,
dafs nur und allein die Anpassung an einen bestimmten Salzgehalt und
damit an verschiedenartige Lebensbedingungen die Trennung der in Rede
stehenden beiden Genera bedingt hat, wflrde erst dann geffthrt sein, wenn
es gelingen würde, sei es durch Beobachtung in freier Natur, jsei es auf
experimentellem Wege, den Übergang der einen Gattung in die andere bei
veränderten Lebensverhältnissen festzustellen. Die Art und Weise der
Sehmankewitsch 'sehen Publicationen hat wohl anfangs der Meinung,
daXs diefs in der That möglich sei, gewissen Vorschub geleistet. In Wirk-
lichkeit ist aber ein solcher Nachweis niemals gefiihrt worden, und der
genannte Autor hat sich sogar in seiner letzten Schrift ausdrücklich gegen
eine derartige Deutung seiner Funde verwahrt.
Die Gattungscharaktere von Branchipus und Artemia ^ mögen sie seiner
Zeit wirklich nur durch den Einflufs des Chlomatriiungehaltes von Seiten
des umgebenden Mediums, oder mögen sie, was doch gleichfalls sehr leicht
60 M. Samter und B. Heymons:
möglich ist, noch aus anderen uns unbekannten Ursachen entstanden sein,
haben sich allem Anscheine nach in der Gegenwart doch schon so weit
gefestigt, sie sind bereits schon so weit constant und dauernd geworden,
dafs die Überführung der einen in die andere Form unserer Meinung nach
nimmehr vollkommen ausgeschlossen ist. Jedenfalls verwandelt sich bei
verändertem Salzgehalt weder Branchipus in eine Ärtemia^ noch wird die
Artemia zu einem BranMpus. Wir verweisen hierbei auf diejenigen Falle,
in denen sowohl Artemia^ wie Brand^ptis* Arten ausnahmsweise auch unter
Bedingungen leben können, die eigentlich der anderen Gattung eigenthüm-
lieh sind, während sie dabei doch keineswegs ihre specifischen Merkmale
einbüfsen.
Von Interesse sind in dieser Beziehimg besonders die Beobachtungen
von Grochowski (1895), der aus dem süfeen Vranasee auf der Insel Cherso
eine typische Artemia-Form (Calaanella dyhowskn) beschrieben hat. Wenn
auch von Grochowski die Eigenthümlichkeiten der inneren Organisation
dieses Thierchens nicht untersucht wurden, und somit also noch nicht
sämmtliche in Betracht kommenden Merkmale geprüft worden sind, so ist
CaUwneüa in ihrem ganzen Habitus, in dem Vorhandensein von acht Aifslosen
Abdominalsegmenten, in dem Fehlen von Anhängen an den zweiten Antennen
des Männchens eine echte Artemia und kein Branchipus. Calaanella ist so-
mit trotz des fehlenden Einflusses von Salzwasser (wir stützen uns auf die
Angaben von Grochowski) nicht zu einer progressiven Entwickelung, zu
einer Erwerbung von ^rancAijpt^- Charakteren f&hig gewesen.
Umgekehrt zeigen sich Branchipus-^Formen (Branchipus ferox und spinosus)
im salzigen Element, welche trotz des Salzes ihre JSrancA^jpw- Charaktere bei-
behalten und nicht die typischen Merkmale von Arternia gewinnen.
Ebenso wenig wie gegenwärtig in der freien Natur noch eine Artemia
zu einem Branchipus oder umgekehrt werden kann, so wird es sicherlich
auch niemals gelingen, auf künstlichem Wege in den Aquarien die eine
Thierform in die andere zu Überföhren.
Die Variationen bei Artemia saUna Leach. 61
Litteratorverzeiolmifs.
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Ossa Leibnitii.
Von
Prof. Dr. W. KRAUSE
in Berlin.
Phys. Abh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. III. 1
Vorgelegt in der Gesammtsitzung am 24. Juli 1902
[Sitzungsberichte St XXXVIII. S. 864].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 16. August 1902.
Am 4. Juli 1902 wurde durch Hrn. Architekten Schaedtler das Grab von
Gottfried Wilhelm Freiherm von Leibniz in der Neustädter Kirche zu
Hannover aufgedeckt. Der Grabstein trug die Aufschrift »Ossa Leibnitii
f 1716«. Diese Inschrift ist aber erst später, jedenfalls vordem Jahre 1830,
gesetzt worden. Es können nach den vorliegenden Nachrichten Zweifel
darüber bestehen, ob die Inschrift an der richtigen Grabstätte angebracht
worden ist, zumal die Kirchenbücher, welche Aufschluls geben könnten,
wie es scheint, verloren gegangen sind. Weiteres hierüber findet man
bei Kuno Fischer: Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben, Werke und
Lehre. 4. Aufl. Heidelberg 1902, S. 297 und im Hannoverschen Tage-
blatt, Nr. 199 vom 20. Juli 1902. £s wurde auch vermuthet, dafs die Leiche
des grolsen Mannes, der zu Hannover am 14. November 17 16 gestorben
war, in ihrem ersten Sarge nicht bestattet worden sei. Sie sei vielmehr,
nachdem sie in diesem Sarge mehrere Wochen in einem Gewölbe der Kirche
gestanden habe, in einen anderen, einfacheren Sarg gelegt und in diesem
in der Kirche bestattet worden. Wir wissen nichts über die Gründe, die
zu diesem Verfahren, wenn es überhaupt als sicher anzusehen ist, geführt
haben könnten. Vielleicht war es der freie Standpunkt des Philosophen
in religiösen Dingen, der Schwierigkeiten entstehen liefs. Dafar spricht,
dafs man ihn im Volke in Verdrehung seines Namens »Loewenix« (Glaube-
nichts) benannte und dafs er von Niemand als seinem Gehülfen Eck hart
(auch Eccard oder Ekhard geschrieben) zur Gruft geleitet wurde. Über
diese Dinge lesen wir verschiedene Angaben. Kuno Fischer, a. a. 0.
S. 299, giebt nach »Doebner, Briefwechsel mit Bernstorff, S. 20« an,
dafe Leibniz erst vier Wochen nach seinem Tode, am 14. December
1 7 1 6 , beerdigt sei ; vorher sei der Leichnam vorläufig in einem Gewölbe
der Kirche beigesetzt gewesen. Es sei nicht wahr, daJfe Eck hart, wie
4 W. Krause:
dieser es berichte, allein die Sorge ftlr die Bestattung auf sich genommen
habe. Andreae (Chronik der Residenzstadt Hannover, 1859, S. 163) sagt,
dafs Leibniz ganz in der Stille, nur von seinem getreuen Freunde Eccard
begleitet, in der Neustadter Kirche am 14. November 17 16 beigesetzt
worden sei. Die Nachricht Andreae's dürfte ein Schreibfehler sein (No-
vember statt December) und ist keinesfalls im Datimi genau, da Leibniz
am 14. November erst in der zehnten Abendstunde gestorben ist(6uhrauer:
Leibniz, Th. II, S. 328ff., citirt nach Kuno Fischer).
Dafs Eckhart ein wahrer Freund Leibniz ens gewesen sei, wird
von Kuno Fischer mit guten Gründen bestritten; es ist daher auch den
Angaben Eckhards kein besonderes Vertrauen zu schenken.
Das Grab war, wie das aus dem weiter unten mitgetheilten Befimde
erhellt, meistentheils oder doch sehr häufig von Grundwasser getränkt.
Als es am 4. Juli 1902 geöflfhet wurde, zeigte es sich, daXs es schon ein-
mal seitlich erbrochen gewesen war, indem drei Reihen von Mauersteinen
an der Ost -Seite weggenommen und kunstgerecht wieder eingemauert
worden waren. Man hat keine Kenntnifs davon, weshalb dies geschehen
sei; nach Aussage des Hrn. Schaedtler war die Öffnung nicht grofis ge-
nug, um einen Erwachsenen durchzulassen.
Nach den angeführten Daten kann es zweifelhaft erscheinen, ob die in
der mit »Ossa Leibnitii« bezeichneten, am 4. Juli 1902 eröffneten Gruft vor-
gefundenen, von mir untersuchten und im Nachfolgenden beschriebenen
Gebeine in der That die Gebeine von Leibniz waren. Ich nahm die
Untersuchung im Auftrage von Prof. Waldeyer erst am 9. Juli d.J. vor,
indem ich, alsbald nach dem Eintreffen der von Hm. Architekten Schaedt-
ler an Prof. Waldeyer gelangten Mittheilung, nach Hannover mich be-
gab. In unseren Händen befindet sich eine amtliche Beglaubigung des
Pastor Primarius Mohr von der Neustädter St. Johanniskirche , dafs in-
zwischen die der Grabstätte entnommenen Gebeine in der Sacristei imter
Verschlufs gehalten waren, bis sie mir übergeben wurden. Was ich also
untersucht habe, waren thatsächlich die der Gruft mit der Bezeichnung
»Ossa Leibnitii« entstammenden Gebeine.
Nun fragt es sich aber, wie gesagt, sind das wirklich Leibnizens
Gebeine? Offenbar kann man bei den unsicheren geschichtlichen Angaben,
die wir nur besitzen , sich zur Feststellung der Identität des ausgegrabenen
Skelets nur an anatomische Merkmale halten. Es soll deshalb gleich hier
Ossa LeämiüL 5
bemerkt werden, dafs an der Identität des Skelets kein Zweifel bestehen
kann. Das Skelet war das eines alten Mannes, dem die oberen Vorder-
zahne fehlten, mit langem Untergesicht, Anchylose des Phalangengelenkes
der rechten grofsen Zehe und einer Knochengeschwulst am unteren Ende
der linken Tibia. Leibniz, der am i. Juli 1646 (N. St.) geboren war, hatte
aber ein Alter von 70 Jahren erreicht und an Podagra und einem Fufs-
leiden gelitten (Andreae, a.a.O. S. 157), so dafs er längere Zeit vor
seinem Tode im Gehen behindert gewesen war. Auch stimmt die I^nge
des Skelets mit seiner Statur, wie sie uns wohlbeglaubigt überliefert ist,
überein, sowie die Form des in der Gruft vorgefundenen Schädels mit
seiner von ihm selbst behaupteten slavischen Herkunft.
Die Knochen des Skelets waren sehr nafs, braunschwarz, von Grund-
wasser durchtränkt. Der Sarg, von Eichenholz, war in kleinere Stücke zer-
fallen; die Beschläge bestanden aus Zinn und Blei, waren gröfstentheils zer-
stört und zeigten niedliche Engelsköpfchen , als ideale Grabwächter, wie sie
in Gräbern aus jener Zeit häufig vorkommen. Es wurde aber gar nichts
von den zahlreichen Verzierungen und Emblemen aufgeftmden, welche dem
ersten Sarge , aus dem die Leiche wieder herausgenommen war, zugeschrieben
werden. Die Knochen lagen in feuchter schwarzer Humuserde, wie sie aus
dem Zerfall von pflanzlichen und thierischen Geweben hervorgeht, dazwischen
viele eiserne, zum Theil an den Spitzen umgebogene Sargnägel.
Der Schädel war bei der Herausnahme nafs, braunschwarz, nach dem
Trocknen braungelb. Der Unterkiefer war ebenfalls nafs und pafste sehr
genau in seine Gelenkgruben am Schädel. Alle Messungen wurden an den
noch feuchten Knochen vorgenommen, wobei ich mich der Assistenz des
Hm. Dr. Berthold in Hannover in dankenswerthe^ster Weise zu erfreuen
hatte.
Die Dimensionen des Schädels betrugen in Millimetern:
Gerade Länge 175
Grofste Länge 172
Intertuberallänge 1 70
Grölste Breite 158
Kleinste Stirnbreite 97
Ganze Hohe 116
Hülfshohe 117
6 W. Krause:
Ohrhöhe 114
Hulfs-Ohrhühe —
Länge der Schädelbasis 98
Breite der Schädelbasis 107
Länge der Pars basilaris 22
Gröfste Länge des Foramen magnum 36
Gröfste Breite des Foramen magnum 32
Horizontalumfang des Schädels 519
Sagittalumfang des Schädels 353
Verticaler Querumfang des Schädels 328
Gesichtsbreite 97
Jochbreite 133
Gesichtshohe 114
Ober- (Mittel-) Gesichtshöhe 64
Nasenhöhe 51
Gröfste Breite der Nasenöffnung 25
Gröfste Breite des Augenhöhleneinganges . . 46
Horizontalbreite des Augenhöhleneinganges 45
Gröfste Höhe des Augenhöhlen einganges . . 34
Verticalhöhe des Augenhöhlen einganges ... 34
Gaumenlänge 58
Gaumenmittelbreite 45
Gaumenendbreite 44
Profillänge des Gesichtes 99
Profilwinkel 85»
Capacität des Schädels (mit Graupen) . . 1422«*^"*
Hieraus ergeben sich folgende Indices:
90.3 hyperbrachycephal,
66.3 chamäcephal,
85® orthognath,
II 7.5 schmalgesichtig,
63.9 schmales Obergesicht,
85.7 chamäprosop,
48.1 chamäprosopes Obergesicht,
75.6 chamäconch,
49.0 mesorrhin,
77.6 leptostaphylin,
56.7 Calottenhöhe.
Der Schädel war rundlich, kaum von mittlerer Gröfee, hyperbrachy-
cephal und chamacephal, femer schmalgesichtig. Der Unterkiefer kräftig
und von dem vorspringenden Kinn bis zum oberen Rande der Alveole des
medialen Schneidezahnes 3 3"" hoch, während die Differenz zwischen Gresichts-
höhe (114°°*) und Obergesichtshöhe (64"") sehr bedeutend sich herausstellt.
Ossa Leibnitü. 7
Der Sch&del war sehr gut erhalten, zeigte nur mehrfache, kleine, beim
Ausgraben entstandene Verletzungen. Die rechte Stirnhöhle war eröühet,
1 5"^ tief. Die Ossa lacrimalia sehr beschädigt. Das rechte Nasenbein stark
beschädigt, das linke nur wenig. Alle Schädelnähte waren verwachsen,
mit Ausnahme der Suturae squamosae, der mittleren Abschnitte der Kranz-
naht an beiden Seiten, und einem kleinen hintersten Stück der Pfeilnaht.
Der Schädel zeigt ziemlieh bedeutende Processus und Cristae, nur die
Processus coronoidei des Unterkiefers sind klein und schmal. OhrOffnungen
trichterförmig, Pori acustici extemi und Meatus auditorii extemi sehr eng.
Processus styloidei spitz und ziemlich lang; die Condyli occipitales sind
flach. Der Schädel zeigt eine lange Reihe von nicht gewöhnlichen Bildungen
und Abnormitäten. Er ist sehr asymmetrisch (s. d. Abbildungen), die linke
Hälfte der Squama occipitalis ist stark nach hinten vorgewulstet. Die Linea
nuchae superior ist an der linken Seite viel stärker, verläuft höher und steigt
steiler empor. Schwacher Torus occipitalis transversus. Linea nuchae inferior
sehr stark entwickelt. Linkerseits zeigt sich an der Squama frontalis in
der Profilansicht (auch auf der Photographie) ein rundlicher glatter Höcker
von etwa i *" Durchmesser und ein paar Millimeter Höhe , dicht vor dem un-
teren Ende der Sutura coronalis , in gleicher Höhe mit dem linken Processus
zygomaticus oss. frontalis und 1 8"™ hinter letzterem Fortsatz. Die Lage dieses
Höckers entspricht dem unteren Ende der dritten Stimwindung, er befindet
sich jedoch nicht unbeträchtlich nach vorn von der Fissura cerebri lateralis.
Entsprechend der linken Mastoidfontanelle findet sich ein Schaltknochen
von etwa i*" Durchmesser. An beiden Pori acustici extemi sehr kleine Spinae
supra meatum. Der Sattelwinkel, woselbst die medianen Axen der Pars
basilaris oss. occipitalis und des Corpus oss. sphenoidalis zusammenstofsen,
dürfte sehr grofs sein.
Gesicht. Die Asymmetrie des Schädels setzt sich auf das Gesicht fort.
Die Medianebene ist unterhalb der Sutura nasofirontalis nach links convex
ausgebogen, dann in der Nase nach rechts convex, an der Alveole des
linken medialen Schneidezahnes wiederum nach rechts convex. Es ist
nämlich die Sutura internasalis nach links convex gebogen, das Septum
nasi osseum nach rechts convex, die Alveole des Incisivus medialis siuister
springt weit nach rechts vor und ist sehr grofs, der Zahn ist cariös ge-
worden und ausgefallen. Die Jochbeine ragen stark hervor und sind schräg
gestellt, besonders das linke; der linke Jochbogen ist dicker als der rechte.
8 W. Krause:
Unterkiefer. Die Medianlinie des Corpus mandibulae verlauft senk-
recht. Das Corpus ist in dieser Linie 33°°" hoch. Die Processus coronoidei
sind spitz und klein. Cristae massetericae und pterygoideae internae stark
entwickelt. Sulci mylohyoidei sehr deutlich und tief. Spina mentalis
interna stark entwickelt und doppelt.
Zähne. Die noch vorhandenen waren gesund, aber stark abgekaut,
bis auf die Basis der Kronenhöcker, so dafs noch (in den Furchen) Schmelz-
reste vorhanden waren.
Im Oberkiefer zeigten die Stellen der Schneidezähne und Eckzähne
leere Alveolen, nur rechts war ein Rest eines stark abgekauten Eckzahnes
vorhanden. Rechts fand sich ein hinterer Prämolaris, die Alveole des vor-
deren Prämolaris war oblitterirt. Links waren beide Prämolares erhalten.
Die Alveolen beider Weisheitszähne oblitterirt, der vordere und mittlere
Molarzahn beiderseits vorhanden.
Im Unterkiefer waren alle Schneidezähne erhalten, ebenso die beiden
Eckzähne, femer rechterseits der vordere Prämolaris, der mittlere und
hintere Molarzahn.
Links war die Alveole des vorderen Prämolaris leer, vom hinteren
Prämolaris war noch ein Rest vorhanden, die drei Molarzähne waren längst
ausgefallen, die Alveolen oblitterirt, der Kieferrand oben scharfkantig ge-
worden.
Skeletknochen.
Folgende wurden gefunden:
Epistropheus,
8 Rückenwirbel,
5 Lendenwirbel,
Kreuzbeinrest (3 Wirbel),
Manubrium sterni, 43°*" hoch,
beide Synchondroses sternocostales primae (ganz verknöchert),
31 Rippenfragmente (4. linke Rippe sehr dünn),
I Clavicula (sinistra),
Scapula sinistra vollständig,
Scapula dextra zerbrochen,
I Os coxae (sinistrum),
I Os ischii (dextrum) zerbrochen.
Ossa LeämiüL 9
Extremitäten.
2 Humeriy
2 Sadii,
2 Ulnae,
I Femur (dextrum), 47"^ lang,
1 Femur (sinistrum), 46*" lang,
2 Tibiae, dextra und sinistra, beide 38*^5 lang,
2 Fibulae,
2 Calcanei, 45"" hoch,
2 Tali,
2 Ossa navicularia,
2 Ossa cuboidea,
19 Metatarsal- und Phalangenknochen des Fuises.
Der Atlas fehlte. Die Clavicula stark gekrümmt. An den Scapulae
waren die Processus coracoidei sehr klein. Die Gelenke der oberen Ex-
tremitäten waren unverändert. Das vorgefundene Os coxae sinistrum zeigte
männliche Charaktere.
Das rechte Femur war 47"^ lang, die Tibia sS^'s. Aus dem Femur
folgt eine Körperlänge = 175, aus Femur -+• Tibia X 2 + 37°r5 nach der
Formel von Thurnam (Davis, Thesaurus cran. Suppl. 1875, p. 77) eine
Körperlänge von 174T8. Die linke Tibia hatte eine am lateralen Malleolus
anliegende glatte Exostose, 3*™ hoch, 2''"' breit, mit verästelten, ziemlich
rechtwinkelig aufeinander gestellten Knochenlamellen im Innern. Wahrschein-
lich handelte es sich um eine Ecchondrosis ossificans , nicht um ein Sarcom
oder Carcinom des Knochens. Unter der Exostose verlief ein schmaler Sulcus
wie von einer Muskelsehne. Auch fanden sich kleine Rauhigkeiten und Exo-
stosen an der hinteren Fläche des distalen Endes des rechten und linken
Oberschenkelbeines, am linken Trochanter major und an den Condylen der
linken Tibia. Die Nagelphalanx der rechten grofsen Zehe zeigte sich schief
lateralwärts ansitzend und synostotisch mit der ersten Phalanx verbunden.
Beim Vergleich mit der gi-ofsen Büste von Leibniz, welche am
Waterlooplatz in Hannover aufgestellt ist, zeigt die Gesichtsbildung eine
befriedigende Übereinstimmung mit dem knöchernen Gesicht, namentlich
in der lünge des Untergesiclites und in der Jochbreite. — Übrigens hat
Phys. Abh. nicht zur Ähad. gehör. Gelehrter. 1902, III. 2
10 W. Krause: Ossa LeibniäL
Hr, H. Graeven, Assistent am Kestner- Museum in Hannover, eine Arbeit
über die vorhandenen Büsten von Leibniz in Aussieht gestellt.
Fassen wir die charakteristischen Befunde des hier beschriebenen
Schadeis kurz zusammen, so ist derselbe klein im Verhältnifs zur Körper-
gröfse, rundlich, breit imd niedrig, mit hervortretenden Backen-
knochen und Kinn; diese Charaktere entsprechen den gewöhnlichen oder
doch häufigen Befunden bei Slaven, speciell Polen und Slovenen.
Für die Capacität des Schädels folgt aus Davis (Proceedings of the
Royal Society of London, 1868, vol. XVI, p. 236) im Durchschnitt =
1696"° för Deutsche, 1591 für Polen, so dafs auch die noch niedrigere
Capacität des in Rede stehenden Schädels ihn eher zu den Letzteren stellt.
Alles dies stimmt zu der slavischen (polnischen) Form des Namens. Leibniz
hat selbst an dieser Abstammung festgehalten.
Nimmt man den von Gehirnhäuten u. s. w. ausgefäillten Raum zu
15 Procent der Schädelcapacität an und das specifische Gewicht des Ge-
hirnes zu 1.04, so erhält man ein Gehirngewicht = 1257*. Es gehört
also das Gehirn von Leibniz zu den kleinen mit geringem Gewicht; auch
das Gehirn Gambe tta's war bekanntlich nicht schwerer.
Zu meinem Bedauern wurde die Erlaubnifs, das kostbare Object nach
Berlin zu einer eingehenderen Untersuchung mitzunehmen, nicht ertheilt.
Es wäre dann ein AusguTs des Schädels gemacht worden, wodurch wir
unzweifelhaft über die Form des Gehirnes nähere Aufklärung erhalten
haben würden. Auch hätten sich dann nach Absägung der Calotte und
Anfertigung eines medianen Durchschnittes genauere Ermittelungen über
die innere Formung der Schädelhöhle und des Sattelwinkels ergeben.
Pigüpenerkläning.
Durch Hrn. Photographen Alperts jun. in Hannover wurden die Photographien des
Schädels in halber natürlicher Grofse in der Norma frontalis, occipitalis, lateralis sinistra,
basalis und verticalis aufgenommen. Die Frankfurter Horizontallinie vom oberen Rande der
OhrofTnung zum unteren Rande des Augenhöhleneinganges wurde ftir die Norma lateralis
(^^g* 3) i^it Hülfe des Ranke 'scheu Apparates horizontal gestellt und bei den übrigen
Aufnahmen die rechtwinkelige Stellung mittelst Loth und Winkelmafs controlirt In der
Norma basalis reicht die Ala magna des Os sphenoidale linkerseits in Folge der Asymmetrie
des Schädels dicht an den Jochbogen heran. Vom Schädel sowie vom rechten und linken
Oberschenkelbein und dem linken Schienbein sind durch Hrn. Bildhauer Stitz in Hannover
Gipsabgüsse angefertigt.
T
K. Preuß. Akad. d. Wüsmsch.
Über Tenon'schen Raum und Tenon*sche Kapsel.
Von
Dr. H.VmCHOW.
Fhyt. Abh. nicht tur AJcad. gehür. Gelehrter. 1902, IV.
Vorgel^t in der Sitzung der phys.-math. Ciasse am 31. Juli 1902
[Sitzungsberichte St. XL. S. 927].
Zum Druck eingereiclit am gleichen Tage, ausgegeben am 3. December 1902.
Veranlassung zu vorliegender Mittheilung bot der Umstand, dafs ich eine
Bearbeitung der äulseren Augenhaut (Sdera und Cornea) und der Lider
übernommen habe und mich deswegen auch Aber die angrenzenden Theile
unterrichten muJ&te. Ich habe zu diesem Zweck schon im vorigen Jahre
und wieder in der letzten Zeit eine Reihe von Wochen ausschlielslich auf
die Präparation des Orbitalinhaltes verwendet und hoffe, eine Form ge-
funden zu haben, in welcher Manches priciser und körperlicher auftreten
wird, als in den vorliegenden Darstellungen der Lehrbücher. Die Fest-
stellung der topographischen Verhältnisse der Augenhöhle ist selbst für den
anatomisch Geschulten, der sein Messer zu fuhren und voreilige Schnitte
zu meiden gelernt hat, schwer; und auch am Schlüsse der Präparation
kann bei mehr als einem Punkte eine Meinungsverschiedenheit über die
Formulirung des Gefundenen entstehen. Angesichts des Umstandes, da(s
so viele bindegewebige Formationen, Stränge, Membranen hier in Ver-
bindung treten, kommt man mehr als einmal in Zweifel, ob man eines
dieser Gebilde als selbständig oder als Bestandtheil, Anhang, Ausstrahlung
eines andern hinstellen soll. Die Grefahr liegt vor, dais auf der einen Seite,
wenn zu viele Theile als selbständig aufgefalst werden, die Schilderung
auseinanderfSllt; auf der anderen Seite, wenn zu viele Theile nur als An-
hänge anderer bezeichnet werden, die locale Eigenart verwischt und ein
kraftloses Gesammtbild gezeichnet wird, welches wohl eine schematische
Zusammen&ssung begünstigen kann, aber die reale Kenntnifs nicht ge-
deihen läfst.
Selbst der Gang der Präparation und die Vorbereitung des Materials
kann die Auffassung beeinflussen, und ich hebe deswegen hervor, dafs ich
mit Vortheil zwar nicht ausschlielslich, aber doch grofsentheils Orbital -In-
1*
4 H. ViRCHOw:
halte benutzt habe, welche durch Formalin-Alkoholinjection vorbereitet
waren. Der Leiche werden durch die eine Carotis 9 Liter Alkohol mit
I Liter Formalin eingespritzt, und man läfet dann dieselbe mehrere Wochen
oder Monate liegen, bevor man die Präparation beginnt. In welcher Con-
centration diese Mischung die einzelnen Gewebe triflPb, weils ich nicht,
jedesfalls ist aber Alles so steif, dafe auch bei wochenlanger Präparation
alle Theile ihre Lage genau bewahren. Führt man an derartig vorbereite-
ten Orbitae ein schmales scharfes Messer stechend durch die Mitte des Bulbus
bis zimi Augenhintergrunde und durchschneidet von innen heraus nach
unten und oben, oder — an einem andern Präparat — nach der medialen
und lateralen Seite die Weichth eile, woran sich die Durchsägung des Knochens
in der Schnittebene anzuschliefsen hat, so gewinnt man Präparate, an denen
man von der Schnittfläche her, d. h. von innen nach aufsen, den Orbital-
inhalt präpariren kann, wodurch die gewöhnliche, beim Knochen begin-
nende Präparation eine sehr wesentliche Ergänzung erfährt.
Am wenigsten Aufschlufs erhält man durch die Schnittuntersuchung.
Wenn ich auch Schnitte durch den ganzen Orbitalinhalt einschlieMich der
Lider besitze, so mujfe ich doch ausdrücklich hervorheben, dals solche nur
auf bestimmte Einzelfragen Auskunft ertheilen können, und dieis auch nur
dann , wenn die Einzelfragen vorher auf Grund der Zergliederung bestimmt
formulirt und umgrenzt sind. Es ist geradezu erstaunlich , wie verschieden
bindegewebige Formationen je nach der Vorbehandlung, Schnittbehandlung
und auch Schnittdicke erscheinen. An derselben Stelle glaubt man das
eine Mal ein zartes, lockeres und das andere Mal ein dichtes, festes Gewebe
zu sehen. Einige der neueren Methoden, wie die Säurefuchsin -Pikrinfar-
bung und die Färbung mit Mallory'schem Hämatoxylin, geben geradezu rohe
Bilder. Über das aber, worauf es bei Bindegewebspräparaten ja immer
ankommt, über Consistenz, Ziehbarkeit u. s. w., lehren sie gar nichts, ganz
abgesehen davon, dafs ja die mechanischen Zustände im Bindegewebe durch
die Befestigung an Nachbarth eilen bestimmt sind, worüber die isolirten
Schnitte nur in ganz seltenen Fällen Auskunft ertheilen können. Hier mufe
der geduldigen wiederholten anatomischen Präparation die erste Stelle ver-
bleiben, und von der Schnittuntersuchung sind nur gewisse ergänzende
Auskünfte zu erwarten.
Die Ausdrücke »innen« und »au&en« werden im Folgenden mit Be-
ziehung auf den Muskelkegel gebraucht, so wie man von intramusculärem
Über Tenorischen Raum und Tenorische Kapsel. 5
und extramusculärem Fettpolster spricht. So haben z. B. die Recti eine
»innere« und »äufsere« Fläche.
L Das Qewebe des Tenon'schen Ramnes.
Der Tenon'sche Raum wird wohl meistens von denen, die ihn nicht
untersucht haben, als ein Hohlraum aufgefafst, wozu wesentlich der tra-
ditionelle Vergleich beiträgt, nach welchem der Augapfel ein Gelenkkopf
ist, der sich in einer Pfanne dreht. Indessen gibt schon Schwalbe an,
dafe die beiden Wände des Raumes »mehrfach durch feine bindegewebige
Bälkchen verbunden werden«.' Noch bedeutungsvoller erscheint dieses Ge-
webe in der Darstellung von Merkel und Eallius, nach welcher die
Kapsel »überall mit dem Bulbus durch zarte Bindegewebsbündel verbunden«
ist.' Auch in anderen Lehrbüchern der Anatomie wird dieses verbindende
Gewebe erwähnt.
Ich finde nun, daüs ein solches Gewebe thatsächlich , wie Merkel und
Kallius angeben, im Tenon 'sehen Räume überall vorhanden ist. Ich
finde jedoch nirgends »Bündel« oder »Bälkchen«; sondern es handelt sich
um zartes gerüstartiges Gewebe, welches den Raum erfüllt, und welches
bei jeder Art der Präparation gesehen werden muCs. Nur ist es nothwendig,
unter der Präparation selbvst genau aufzupassen. Denn da man in den
Tenon*schen Raum nicht hineinblicken kann, ohne entweder die Wände
desselben auseinanderzuziehen, oder einen Theil der Wand wegzunehmen,
so ist es ganz unvermeidlich, dafs, wenn man nicht mit der allergrölsten
Vorsicht verfährt, ein Theil des Gewebes durchrissen, durchschnitten oder
durchstreift wird, und dafs man dann nur den übrigbleibenden Rest zu
sehen bekommt. Dabei werden aber die zarteren Partien naturgemäfs am
ehesten zerstört, und das Gewebe zieht sich auf die noch erhaltenen, von
Anfang an derberen Partien zurück und macht dann den Eindruck von
Strängen und Balken, die in dieser Form vorher nicht vorhanden waren. Was
man dabei macht, ist dasselbe, als wenn man mit einem Stock in ein
Spinnengewebe fahrt, wobei ich weniger an die flächenhaflen Netze, wie
* Schwalbe, G., Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane. Erlangen 1887. S. 223.
* Merkel, Fr. und Kallius, £., Makroskopische Anatomie des Auges. In Graefe-
Sae misch, Handbuch der gesammten Augenheilkunde. II. Aufl. 29. und 30. Lieferung.
Leipzig 1901. S. 76.
6 H. ViRCHOw:
an die dreidimensionalen Gespinste denke: das Grewebe wickelt sich als
eine dichte Masse um den Stock, oder wenn man nicht ganz so grob vor-
geht, so zieht es sich doch, nach Durchreilsung einer Anzahl von Fäden,
nach den noch erhaltenen Stellen zusammen.
Das erwähnte gerOstartige Gewebe ßndet sich in allen Theilen des
Tenon 'sehen Raumes, ist jedoch nicht überall gleich dicht; vielmehr gibt
es in demselben typische Unterschiede, auf welche ich indessen erst
eingehen will, nachdem ich die Kapsel geschildert habe.
2. Die Tenon'sche Kapsel.
Die Tenon'sche Kapsel endigt vom am Fornix der Conjunctiva
und hinten an der Eintrittsstelle des Sehnerven.
Ich mufs den Sinn und die Berechtigung dieser Ausdrucksweise ge-
nauer bestimmen.
Ich sage nicht: die Kapsel »befestigt sich am Fornix«, sondern: »sie
endigt« dort. Sie hängt hier zusammen mit der Tunica propria der Con-
junctiva und zwar sowohl der Conjunctiva bulbi wie der Conjunctiva pal-
pebrae, von denen die letztere dicker ist wie die erstere. Man wäre da-
her auch vollkommen berechtigt, zu sagen: »die Kapsel setzt sich fort«,
»geht über in die Conjunctiva bulbi und palpebrae«. Doch scheint mir
die vorgeschlagene Ausdrucksweise besser, weil sie der Conjunctiva ihre
Selbständigkeit beläfst. Auf keinen Fall aber darf man sagen: »die Kapsel
setzt sich fort in die Conjunctiva bulbi«. Die& wäre ganz falsch. Will
man es vorziehen, die Kapsel nicht am Fomix enden zu lassen, dann mufs
man zugeben, dafs sie sich hier spaltet, und dafs sie sich sowohl vor wie
hinter dem Fornix in die Conjunctiva fortsetzt. Die Tunica propria der
Conjunctiva palpebrae ist besonders dick am untern Lide; und dement-
sprechend ist auch der Kapselansatz unten erheblich dicker als oben. Weit-
aus am dicksten aber ist der vordere Kapselrand an der medialen Seite,
wo er die Form eines auf dem Horizontalschnitt dreieckigen Polsters an-
nimmt, dessen nach vorn gewendete, 4"*" breite Basis mit der Carunkel,
der Plica conjunctivalis und dem Boden sowie den Rändern des Thränen-
sees verbunden ist, und dessen nach hinten gewendete, in den dünnem
Tlieil der Kapsel übergehende Spitze 7™" von der Basis entfernt ist. Wenn
man den Thränensee als eine locale Verbreiterung des Fornix ansieht , was
•• ^^ ^^ ^^
über Tenon^schen Raum und Tenorische Kapsel 7
morphologisch wohl anfechtbar, aber topographisch -descriptiv statthaft ist,
so ist es ja damit eo ipso gegeben , da& die Kapsel an der gleichen Stelle
eine locale Verbreiterung besitzt. Es ist eine Consequenz meiner Auffassung,
bez. meiner Ausdrucksweise, dafs die Xenon 'sehe Kapsel vom nicht so
weit reicht, wie der Tenon'sche Raum, sondern da& des letztem vor-
derstes StQck durch die Conjunctiva bulbi begrenzt wird.
Die hintere Endigung der Kapsel ist nicht leicht festzustellen. Da
mit der Annftherung an den Sehnerven die Kapsel selbst sehr dfinn wird
und zugleich das Gewebe des Tenon 'sehen Raumes sich verdichtet, so
kann man im Zweifel sein, ob die Kapsel selbst sich an den Bulbus an-
setzt, oder ob sie durch Vermittelung des Gewebes eine Befestigung ßndet.
Daher ist es auch begreiflich , dafs die Angaben der Autoren über diesen
Punkt auseinandergehen; wfthrend Schwalbe den Teno n 'sehen Raum in
den »supravaginalen Raum« des Sehnerven fortfuhrt^ lassen Merkel und
Kallius die Kapsel sich in der Weise an die Sclera befestigen , daCs eine
ungefähr i*" breite Stelle des letztern freibleibt, welche nicht nur den
Nervus opticus, sondern auch die Eintrittsstellen der Ciliamerven und
-gefafse enthält.* Meine eigenen Erfahrungen gelien dahin, dafs die Kapsel
sich an der Eintrittsstelle des Sehnerven selbst festsetzt mit Ausnahme der
lateralen Seite, wo der Ansatz, dem hintern Rande der Scheide des Ob-
liquus inferior entsprechend, 2°^ entfernt bleibt. Es mufs aber hier aus-
drücklich auf die Möglichkeit eines präparatorischen Irrthums hingewiesen
werden. Wenn man nämlich von vorn her kommend, wo die Kapsel noch
eine gröfsere Dicke besitzt , Bulbus und Kapsel trennt und dabei das zarte
Bindegewebe von der Sclera abstreift, so mufs sich dieses in eine mem-
branartige Schicht zusammenlegen, welche leicht mit der hier sehr dünnen
Kapsel verwechselt werden kann.
In keinem Falle habe ich gefunden, dafs etwa die zur Sclera tretenden
Gefäfse und Nerven von besonderen Hüllen des Gewebes begleitet wären.
Bei den Arterien ist diefs schon dadurch ausgeschlossen , dafs dieselben bei
ihrem Herantritt an die Sclera nicht unerheblich gewunden sind. Ich
möchte, wenn man solche Umhüllungen bei der Präparation findet, in der
schon angegebenen Weise erklären, dafs das zarte durchstreifte oder zer-
rissene Bindegewebe sich nach den festeren Strängen, an denen es einen
^ A. a. O. Fig. 102, S. 221.
» A. a. O. S. 76, Fig. 33.
8 H. ViRCHOw:
Halt findet, zurückzieht. Ganz sicher wird auf die Venae vorticosae von
Seiten des Gewebes des Tenon*schen Raumes gar keine Rücksicht ge-
nommen; sie treten durch denselben hindurch, ohne dals sich um sie eine
Verdichtungszone bildete. Die Venenlöcher in der Kapsel sehen genau
ebenso aus wie die Venenlöcher in der Sclera.
Da ich keine Injectionen in den Tenon 'sehen Raimi gemacht habe,
so habe ich keine eigenen Erfahrungen darüber, ob auf diesem Wege sich
ein bestimmteres Urtheil über die hintere Endigung bez. über eine Ver-
bindung mit dem »supravaginalen Raum« gewinnen läfst. Das Eine aber
ist sicher, dafe es für die mechanischen Verhältnisse der Tenon 'sehen
Kapsel ganz gleichgültig ist, ob sie selbst sich hinten an den Bulben be-
festigt, oder ob diese Verbindung durch das Gewebe des Tenon 'sehen
Raumes vermittelt wird.
3. Der »supravaginale Ramn«.
Von einem supravaginalen Räume kann aus dem so zu sagen negativen
Grunde gesprochen werden, weil sich an die äufsere Scheide des Sehnerven
nirgends festere Bindegewebsblätter oder -bälkchen befestigen, und weil
die Fettlappen des intramusculären Raumes nicht mit ihr verwachsen sind.
In diesem Räume findet man beim Auseinanderziehen wenige überaus feine
Fäserchen, also nicht ein Gewebe von gleicher Dicjitigkeit wie das des
Tenon 'sehen Raumes. Die äufsere Begrenzung, welche übrigens auch in
dem Schwalbe'schen Schema^ nur durch eine punktirte, imd nicht durch
eine ausgezogene Linie wiedergegeben ist, wird durch ein sehr zartes Häut-
chen gebildet, welches genau so aussieht, wie die sehr schwachen Binde-
gewebsblätter, die die Fettläppchen des intramusculären Raumes trennen
und begrenzen; ja man möchte auf Grund der rein präparatorischen Er-
fahrung glauben, dafs die »äufsere Wand des supravaginalen Raimies«
thatsächlich nichts weiter ist, als die zu den angrenzenden Fettläppchen
gehörigen Bindegewebsblätter. Die Möglichkeit einer solchen Auffassung
steigert sich noch dadurch, dafs die Fettläppchen des intramusculären
Raimies oft in der Richtung des Sehnerven gestreckt und daher auch die
zu ihnen gehörigen Septa in dieser Richtung verlängert sind. So fand ich
einmal einige Millimeter vom Sehnerven entfernt ein diesem paralleles Sep-
^ A. a. O. Fig. I02 auf S. 221.
••
Über Tenorischen Baum und Tenorische Kapsel. 9
tum fast vom Grunde der Augenhöhle bis an die Tenon'sche Kapsel ganz
gerade verlaufend von genau dem gleichen Aussehen, wie die firagliche
Wand des supravaginalen Raumes. Ich habe, wie gesagt, Injectionen nicht
gemacht, aber rein präparatorisch spricht nichts för das Dasein eines sol-
chen Raumes.
4 Die Kapselschlitze.
Die Schlitze in der Wand der Tenon 'sehen Kapsel far den Durch-
tritt der Sehnen der Augenmuskeln bez. der Muskeln selber erwähne ich
nur im Interesse der Deutlichkeit der nachfolgenden Darstellung.
Was zunächst die vier Schlitze für die Recti angeht, so ist wegen
der schiefen Durchsetzimg der Kapsel und des fast tangentialen Zutrittes
der Sehnen nur eine »innere« Lippe an den Schlitzen vorhanden; eine
»äufsere« Lippe gibt es nicht, sondern hier geht die Wand der Muskel-
scheide ganz ohne Grenze in die Tenon'sche Kapsel über.
Sämmtliche innere Lippen sind so zu sagen versteift durch einen von
Merkel und Kallius erwähnten^ »festen Bindegewebsring«. Ob es
sich dabei wirklich im strengen Sinne um eine geschlossene ringförmige
Bildung handelt, lasse ich dahingestellt.
Der meridional gestellte Schlitz för den M. obliquus inferior an
der lateralen Seite der Kapsel verhält sich ebenso wie die ftlr die Recti:
an ihm ist die untere Lippe scharf und die obere fehlt.
Der gleichfalls meridional gestellte Schlitz fär den Obliquus superior
dagegen ist in mehrfacher Hinsicht abweichend. Zunächst trifft diese
Sehne die Kapsel nicht in der gleichen Weise schief oder tangential, wie
die fünf anderen Sehnen es thun, sondern steiler. Sodann bewahrt die
Sehne, solange sie von der Kapsel umhüllt ist, ihre rundliche Gestalt,
und erst, indem sie die innerste Schicht der Kapsel durchbohrt, breitet
sie sich aus, so dafs sie bis an die innerste Schicht der Kapsel heran
nur 2"", beim Austritt aber bereits 3"°5 breit ist, worauf sie sich bis
zum Ansätze an die Sclera noch auf 6""* verbreitert. Endlich aber liegt
die Sehne innerhalb der Kapsel nicht völlig frei, sondern ist theilweise,
besonders am hintern Rande und an der unteren Fläche, fester mit der
Kapsel verbunden, und als Fortsetzung dieser Verbindung findet sich noch
nach dem Austritt derselben in den Tenon'schen Raum ein von dem hin-
' A. a. O. S. 77.
Phl/s. Ahh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter, 1902. IV.
10 H. ViROHOw:
tem Rande der Sehne nach der Kapsel gehendes »Adminiculum« vor.
Aus allen diesen Gründen kommt ein deutliches Bild eines »Schlitzes«
nicht zu Stande, am ehesten kann man noch von einem Recessus sprechen,
der sich an der obern Seite der Obliquussehne , einem Schleimbeutel
ähnlich, gegen die Trochlea erstreckt, aber auch nicht leer, sondern von
der zarten Modification des Gewebes des Tenon'schen Raumes eingenom-
men (s. später). Dieser Recessus ist seiner Lage nach weniger ein directer
Recessus des Tenon'schen Raiunes als ein solcher der Scheide des Rectus
superior.
5. Beziehungen der Kapsel zu den hinterliegenden Theilen.
Muskelscheiden. — Die Augenmuskeln sind, wie andere Muskeln
auch, von Fascien scheidenartig umhüllt, und man kann im Interesse einer
deutlichen Beschreibung von »inneren« und »äufseren« Fascien sprechen,
welche in Kanten zusammenstofsen. Diels gilt von den vier Recti, während
die Scheide des Obliquus inferior aus einer anfangs oberen, späfer me-
dialen und einer anfangs unteren, später lateralen Wand besteht, die sich
in einer vorderen und hinteren Kante vereinigen.
Verfolgt man nun die Muskelseheiden nach vorn, so gelangt man an
die Tenon'sche Kapsel, und es besteht somit zwischen Scheiden und
Kapsel ein Verhältnifs , welches man in dreifacher Weise beschreiben kann ;
entweder i.: die Muskeln sind von Fascienscheiden eingehüllt, welche sich
dort, wo die Muskeln in die Kapsel eintreten, mit dieser verbinden:
oder 2.: die Fascienscheiden der Muskeln bilden, indem sie sich in
der Umgebung des Bulbus durch seitliche Ausbreitungen verbinden, die
Tenon'sche Kapsel; oder 3.: die Tenon'sche Kapsel sendet rückwärts
scheidenartige Fortsätze zur Umhüllung der Muskeln aus. Man kann
nicht geradezu sagen, dafs die eine oder andere dieser Formulirungen
falsch wäre; aber man mufs sich jedenfalls far eine derselben bestimmt
entscheiden, um eine klare Grundlage für die weitere Beschreibung zu
haben. Es scheint, dafs Merkel und Kallius die zweite dieser Auf-
fassungen befürworten wollen mit den Worten, dafs sich die Tenon'sche
Kapsel »aus den im Fett hinter dem Augapfel befindlichen Scheiden ent-
wickelt«.^ Am meisten auf die Spitze getrieben tritt uns diese Auffassung
1 A. a. 0. S. 76.
•» ^^ ___
Vher Tenorischen Ravm und Tenon'sche Kapsel. 11
entgegen in der Schilderung von Gunn in dem Morris'schen Handbuch.^
Hier hat sie eine Form angenommen, durch welche sie zugleich un-
beabsichtigt ad absurdum gefiihrt wird. Der Ver&sser sagt nämlich: die
Fascie eines Rectus spalte sich, am Augapfel angelangt, in zwei Blätter,
von denen das eine vorwärts weiter geht, das andere sich rückwärts wendet.
Das ist ähnlich, als wenn man das Verhältnis des Harnleiters zur Harn-
blase so schildern wollte: der Harnleiter spaltet sich in zwei Blätter, von
denen das eine vorwärts läuft und den Blasengrund bildet, während das
andere aufwärts liegt imd die Hinterwand der Blase bildet. Sappey ver-
tritt die dritte Auffassung, indem er die Muskelscheiden als Fortsätze der
Kapsel (Prolongements de l'aponevrose orbitaire) bezeichnet.^
Ich bin der Meinung, dafs man sich hierin unbedingt an Sappey
anschliefsen müfs, weil die Tenon'sche Kapsel doch eine grofse Selb-
ständigkeit und Eigenart besitzt, und weil die Muskelscheiden, wie
Sappey an der citirten Stelle angibt, in ihren vorderen Abschnitten hin-
sichtlich der Dicke und Resistenz der Kapsel gleichen. Ich mache
jedoch einen Zusatz bez. eine Einschränkung zu dieser Auffassung, indem
ich die Muskelscheiden nur so weit als Kapselfortsätze auffasse, als sie den
Charakter der Kapsel haben. Ich nenne daher den vordem Theil der
Scheiden ihren »Kapseltheil« und den dahinter folgenden Theil ihren
»Fascientheil«.
Da die Scheiden, wie gleichfalls schon von Sappey angegeben ist,
sich nicht bis an das hintere Ende der Recti verfolgen lassen , vielmehr die
ganze hintere Hälfle dieser Muskeln einer Scheide entbehrt, so ist aller-
dings der Fascientheil derselben sehr kurz, trotzdem möchte ich aber
doch die genannte Zweitheilung befürworten, weil damit ein prägnanterer
Ausdruck för die thatsächlichen Verhältnisse gewonnen wird.
Es kommt nämlich hinzu, dafs dort, wo die Scheide dünner wird,
eine Stelle festesten Zusammenhanges zwischen ihr und dem Muskel
gelegen ist; denn die Recti sind mit ihren Scheiden nicht dort am feste-
sten vereinigt, wo sie sie verlassen, d. h. an den Schlitzen, sondern weiter
hinten. Diese Stellen liegen ungef&hr io°*" von der inneren Lippe des
Schlitzes entfernt; doch haben meine Messungen erhebliche Differenzen
dieser Abstände ergeben.
' Morris, A treatise on human anatomy. II. Edition. London 1898. p. 858.
' Sappey, Ph. C, Traite d'anatomie descriptive. III. edition. T. IL 1876. p.107.
2*
12 H. ViRCHow:
Es ist hierüber noch Folgendes zu bemerken. Das vorhin erwähnte
Gewebe des Tenon'schen Raumes setzt sich auch in die Kapseltheile der
Scheiden hinein fort und stellt eine Verbindung zwischen den Muskeln
und ihrer Umhüllung her, sowie ja alle Muskeln mit ihren Fascien ver-
bunden sind, bald lockerer, bald fester. Diese Verbindungen verstärken
sich aber an den genannten Stellen, und wenn man genau präparirt, so
sieht man, dafs diefs zu Stande kommt durch feine Bälkchen, welche vom
Muskel gegen die Scheide schief vorwärts austreten.
In dem Falle, dafs eine der beiden Wände der Scheide fester als
die andere mit dem Muskel verbunden ist, so ist es ausnahmslos die
äufsere, wie ich im Gegensatz zu einer Angabe von Schwalbe* hervor-
hebe. Dieses Verhalten ist ja auch a priori aus mechanischen Gründen
zu erwarten, denn ein Zug an der inneren Wand einer Scheide würde
nur dahin föhren können, die Tenon'sche Kapsel von der Rückseite des
Bulbus abzulieben , wogegen ein Zug an der äufseren Wand in Folge seiner
tangentialen Richtung sich auf die mit dem vordem Ende der Kapsel
verbundene Tunica propria der Conjunctiva bulbi und Conjunctiva palpebrae
übertragen muls.
Das Bild dieser »Scheidenverbindungen« der Muskeln erhält noch eine
besondere Prägung durch den übertritt von Partien des Muskels selbst
an die Scheide. Diese directe oder ausdrucksvollere Verbindung zwischen
Muskel und Scheide durch ein Bündel des Muskels selbst findet sich, soweit
mir bisher bekannt geworden ist, stets an den gleichen Stellen, wo auch
schon ohnediefs die Befestigung der Scheide an dem Muskel eine innigere
ist. Es handelt sich aber dabei nicht um längere Muskelbündel, sondern
man kann sagen, dals ein solches Bündel in dem Moment, wo es den
Muskel verlälst, auch schon die Scheide erreicht. Ich fand solche Bündel
bisher nur entweder an einer Muskelkante oder neben derselben an der
Aufsenfläche, höchstens in der Breite von 2°", meistens aber schwächer;
die eine Kante kann ein Bündel aufweisen, während die gegenüberliegende
davon frei ist. Ich habe in einigen Fällen Notizen über die Befunde ge-
sammelt, verzichte aber auf die Anfuhrung derselben, weil ich nicht zu
beurth eilen vermag, ob ein Typus zu constatiren ist. Ich kann aber diesen
Befunden keine wesentliche Bedeutung beimessen, denn da an diesen Stellen
^ A. a. O. S. 223 unten.
Über Tenon' sehen Raum und Tenon^sche Kapsel 13
die Scheide ohnediefs fester mit dem Muskel zusammenhingt, so ist in
dem Übertritt eines Muskelbündels mehr eine Bekräftigung dieses Ver-
haltens als ein Moment von selbständigem mechanischem Werthe zu sehen.
Durch die Verbindung der Muskeln mit ihren Scheiden entsteht ein
Verhältnifs, welches an das der Schultergelenkskapsel erinnert.
Das bisher Gesagte gilt von den Scheiden der vier Recti. Das Ver-
halten der Sehne des Obliquus superior zur Kapsel wird in einem an-
dern Zusammenhang besprochen werden. Der Obliquus inferior dagegen
läfst sich hier anreihen.
Die Scheide des Obliquus inferior bekleidet den ganzen Muskel
bis an seinen Ursprung am Knochen, wie schon Sappey angegeben hat^;
nur die untere Wand derselben wird dicht am Ursprünge so dürftig, dafs
man sagen kann, sie fehle hier. Sie ist weit gleichmäfsiger als die Scheiden
der Recti xmd hat fast in ihrer ganzen Ausdehnung den Charakter der
»Fascienscheide«. Auch unter der Mitte des Bulbus, wo sie unter der
hier sehr dicken Kapsel hin wegzieht, läfst sich ihre obere Wand noch
von letzterer trennen. Eine so feste Verbindung zwischen Muskel und
Scheide, wie sie an den Recti vorkommt, wird nicht gefunden. Zwar
schien es mir, als wenn an der vorderen Kante dort, wo der Muskel schon
zur lateralen Seite des Bulbus au&teigt, das intravaginale Bindegewebe
etwas dichter ist, doch ist diefs, wenn es wirklich vorhanden sein sollte,
nicht wesentlich.
Intervaginale Verbindungen. Es ist aus den Lehrbüchern be-
kannt, dafs der intramusculäre und extramusculäre Raum der Augenhöhle
zwischen den Recti hindurch in Verbindung stehen. Dieses Verhalten er-
leidet jedoch in der Nähe der Kapsel eine Einschränkung durch blattartige
Fortsetzungen , welche von der Kapsel aus nach hinten gehen und zwischen
den Kanten benachbarter Muskelscheiden ausgespannt sind. Auch dieses
Verhalten ist schon von Sappey erwähnt worden.* Würde es sich dabei
um eine im ganzen Umfange continuirliche Bildung handeln, so würde ich
vorschlagen, dieselbe als »kragen förmigen Fortsatz« oder »Kapsel-
kragen« zu bezeichnen. Ich finde jedoch diese Formation in ausgeprägter
Form nur in dem obem lateralen Quadranten, d. h. zwischen der Scheide
des Rectus superior und der des Rectus lateralis entwickelt.
^ A. a. O. p. io8.
* A. a. O. p. 107.
14 H. ViRCHOw:
6. Der blättrige Ban der Kapsel
Die Tenon'sche Kapsel ist nicht von gleichmäfsigem oder homogenem
Geffige; vielmehr finden sich in ihr dichtere Partien von geringerer oder
gröfserer Ausdehnung, bald mehr strangartig, bald mehr platt enförmig,
dazwischen lockere Stellen, sogar Fettläppchen, manchmal praparatorisch
darstellbar, manchmal nur mittels des Mikroskopes auf Schnitten zu er-
kennen. Eine der festeren Formationen ist der schon erwähnte Binde-
gewebsring, welcher die inneren Lippen der Schlitze sichert. Man mufs
aber bei solchen Angaben wohl unterscheiden zwischen dick und dicht.
Da nun, wie alle Beschreibungen hervorheben, die Kapsel mit den
interadipösen Septa der Augenhöhle in Verbindung steht, so kann in
manchen Fällen ein Zweifel entstehen, ob man gewisse kleine Partien
noch zur Kapsel oder zu ihrer Umgebung rechnen soll; doch wird man
bei sorgfaltiger und besonnener Präparation immer zu einem befriedigenden
Ergebnifs kommen. Wenn es bei Merkel-Kallius von der Kapsel heilst:
»nach vom aber verdünnt sie sich rasch zu einem ungemein dünnen Häut-
chen, dessen Nachweis Schwierigkeiten machen kann«', so weicht aller-
dings diese Auffassung von meiner anfangs gegebenen Darstellung ganz
erheblich ab, und ich vermuthe, dafs dieses »dünne Häutchen« ein Kunst-
product ist, nämlich das durch Abstreifung von den Recti- Sehnen und
der Sclera seiner inneren Ansatzpunkte beraubte und zu einer membran-
artigen Bildung zusammengeschnurrte lockere Gewebe des Tenon'schen
Raumes. Sollte aber auch diese meine Vermuthung falsch sein; sollte es
wirklich im vordem Theil der Kapsel ein derartiges feines Häutchen geben,
so müfsten doch die ihm aufliegenden dicken Schichten erklärt werden;
und diese könnten dann nach der Ausdrucksweise von Merkel und Kallius
nur »Fascienzipfel« sein. Auf die »Fascienzipfel« werde ich noch beson-
ders zu sprechen kommen. Ich kann aber doch hier schon bemerken, dafs
f&r eine Bildung, welche ringsherum abgesclilossen ist und keine den ein-
zelnen Muskeln entsprechenden Unterbrecliungen zeigt, der Ausdruck »Fas-
cienzipfel« wenig bezeichnend ist. Aber wenn man auch diesen Begriff
noch so weit ausdehnen wollte, so bleiben doch immer gewisse Partien,
Schichten, Verdickungen übrig, wie vor allem das schon erwähnte me-
^ A. a. O. S. 77.
Über Tenofi sehen Raum und Tenon'sche Kapsel 15
diale Polster, welche weder ihrer Gestalt, noch ihrem Gefüge nach unter
die Kategorie von Fascien gebracht werden können. Man müfste also
jedesfalls auHser jenen »dünnen Häutchen« und den »Fascienzipfeln« noch
ein drittes Element, n&mlich diese localen Verdickungen, einfuhren, wenn
man darauf ausgeht, eine wirklich körperliche Vorstellung der bindege-
webigen Formationen in der vorderen Hälfte der Orbita zu vermitteln.
Diesen Schwierigkeiten entgeht man, wenn man den Begriff der »Kap-
sel« in dem Sinne fafst, wie ich es im Vorangehenden, im Anschluls an
Sappey, gethan habe. Es ist gewüs nicht nur berechtigt, sondern ver-
dienstlich, den Faserrichtungen nachzuspüren, welche als Fortsetzungen
oder Ausstrahlungen der äu&eren Muskelfascien im vordem Theil der
Kapsel nachweisbar sind. Aber man geht zu weit, wenn man den ganzen
vordem Theil der Kapsel in Fascienzipfel auflösen und nur das »unge-
mein dünne Häutchen« übrig lassen will. Thatsächlich ist in diesem vor-
dem Theil der Kapsel nichts von Fascien, noch weniger aber von »Zip-
feln« zu sehen. »Zipfel« treten erst weiter vorn auf, wo es sich um die
Befestigung der Kapsel am Knochen handelt, und hier werde ich die Er-
örterung wieder aufnehmen, ob diese Verbindungen als Ausstrahlungen
von Fascien anzusehen sind.
Die Tenon'sche Kapsel ist also, um es zu wiederholen, ein Gebilde
von ungleichmäfsiger Dicke und von ungleichmäfsigem Gefüge,
und deswegen ist auch der Ausdruck »Tenon'sche Fascie« diu-chaus nicht
anwendbar.
Wenn sie soeben als »blättrig« bezeichnet wurde, so soll damit doch
keineswegs gesagt sein, dafs sie aus ununterbrochenen, schalenförmig in-
einandersteckenden Schichten besteht. Vielmehr sind manche dieser dich-
teren Lagen ausgedehnter, andere mehr beschränkt, und vielfach hängen
sie mit Nachbarlagen zusanmien. Nun ist man bei einem derartig unvoll-
kommen geschichteten Bau immer in Gefahr, Kimstproducte zu erzeugen:
ist man bei der Präparation in eine Spalte, d, h. in eine weniger dichte
Stelle hineingerathen , so kann man aLsdann leicht die Spaltung weiter treiben,
ohne dafs eine wirkliche Berechtigung dazu vorliegt. Auch ist zu vermuthen,
dafs in den Einzelheiten individuelle Varianten existiren, so dafe, wenn
man zu sehr auf Feinheiten eingehen wollte, man von dem Allgemein-
gültigen abkommen würde. Auf der anderen Seite ist sicher zu erwarten,
dals, wie überall in der Bindesubstanz, auch hier bestimmte mechanische
16 H. ViRCHOw:
Beanspruchungen vorherrschen und demgemäfs bestimmte Faserrichtungen
ausgebildet sein werden. Die genauere Erforschung dieser Verhältnisse ist
zweifellos lohnend, aber ebenso zweifellos sehr schwierig; vor allen Dingen
ist dabei die strengste Einhaltung der topographischen Verhältnisse uner-
läfslich. Bei der gewöhnlichen Art der Präparation werden die darzustellen-
den Theile zu besserer Bequemlichkeit des Präparanten verlagert, gespannt,
gedehnt, und es geht dabei Alles verloren, worauf es hier ankommt. Faser-
züge werden in die Richtung anderer gebracht, mit denen sie in Wahr-
heit Winkel bilden, und sie erscheinen als Fortsetzungen, Ausstrahlungen,
»Fascienzipfel«, während sie in Wahrheit eine absolute oder relative Selb-
ständigkeit besitzen.
Mir scheint es, dafs in dem Gefiige der Kapsel locale Differenzen
vorkommen, und wenn ich auch nicht wage, in dieser schwierigen Frage
ein letztes Wort zu sprechen, so möchte ich doch einige Erfahrungen vor-
legen.
Im untern medialen Quadranten ist die Kapsel verdickt, wozu
eine Anzahl kleiner in derselben enthaltener Fettläppchen beiträgt. Diese
Verdickung setzt sich auch auf die Unterseite fort, doch ist auch hier
noch, d. h. an der Unterseite, die dicke Kapsel von der ihr unten an-
liegenden dünnen Scheide des Obliquus inferior präparatorisch trennbar.
Im untern lateralen Quadranten ist die Kapsel schwächer; sie
wird hier gebildet durch die in sie einrückende (anfangs untere, später)
laterale Fascie des Obliquus inferior.
An der medialen Seite, d. h. medial vom Rectus medialis, ist die
Kapsel ausgezeichnet durch das schon erwähnte, auf dem horizontalen
Schnitt dreieckige Polster. Eine Schichtung ist hier nicht vorhanden.
Man mufs allerdings zugeben, dafs die innerste dem Muskel nächste Lage
ein mehr fascienartiges Gefiige hat und sich von dem Polster unterscheidet,
aber eine Trennung zwischen beiden lälst sich dennoch nicht machen.
An der lateralen Seite, d. h. lateral vom Rectus lateralis, lä&t sich
die hier sehr kräftige Kapsel deutlich in zwei gleichdicke Blätter oder
Lagen spalten, welche durch eine dünne Schicht mehr lockern Ge-
webes getrennt sind; und diese Schichtung gewinnt dadurch an Bedeu-
tung, dafs die innere dieser beiden Lagen mit der Conjunctiva bulbi , die
äufsere mit der Conjunctiva palpebrarum verbunden ist. Die innere be-
ginnt erst an der »Scheiden Verbindung« des Muskels und besitzt hier ein
■ »
Über Tenon' sehen Raum und Tenofische Kapsel 17
sehnenartiges Aussehen. Die äulsere der beiden Lagen lä£st sich am Muskel
weiter nach hinten verfolgen in die äulsere Wand der Fascienscheide.
Diese Spaltung der lateralen Seite VkSst sich nun auch nach oben
fortführen bis in denjenigen Theil der Kapsel , welcher zwischen Rectus
superior und Levator gelegen ist. Erst in der Nähe des medialen Randes
des letztern wird sie undeutlich , indem hier das andere Oefäge sich gel*
tend macht, welches auf die Sehne des Obliquus superior Bezug hat. Da
nun die Spaltbarkeit auch auf der oberen Seite vorhanden ist, so könnte
man vielleicht versucht sein, hier die Ursache für dieselbe zu suchen,
nämlich in den Beziehungen auf die beiden begrenzenden Muskeln, den
Levator und Rectus superior. Hiergegen mufs ich mich aber doch ent-
schieden aussprechen, da ich die Trennung auf der lateralen Seite
viel deutlicher finde, bedingt durch eine makroskopisch wahrnehmbare
mehr lockere Zwischenschicht. Höchstens könnte man zugeben, dafs so-
wohl an der lateralen als auch an der oberen Seite Gründe für eine Spaltung
vorliegen, und in diesem Sinne möchte ich das Phänomen besprechen.
An der dorsalen Seite kann man die beiden genannten Muskeln
als Ursache ansehen. Indem die Kapsel, zwischen ihnen gelegen, mit
beiden verbunden ist, die Muskeln aber getrennter Action fähig sind, so
ist die Spaltbarkeit wohl erklärt. Ich möchte es aber nicht befürworten,
etwa die beiden Lagen als »obere Fascie des Rectus und untere Fascie
des Levator« zu bezeichnen. Dafür spricht weder die makroskopische
Präparation noch die mikroskopische Untersuchung. Auch läfst sich die
Spaltung noch weiter treiben. In einem Falle z. B. fand ich, dafs die
obere der beiden genannten Lagen sich in der ganzen Breite des Levator,
und darüber hinaus im obem lateralen Quadranten der Kapsel bis auf die
laterale Seite, in zwei weitere Blätter zerlegen liefs, von denen das oberste
dünner und mit dem Levator an einer vorn und lateral gelegenen
Stelle untrennbar verbunden war. Diese Stelle würde also in ihrer
mechanischen Bedeutimg den »Scheidenverbindungen« der Recti entsprechen.
Für die Spaltbarkeit an der lateralen Seite lassen sich Gründe
gleichfalls auffinden. Man mufs nur den in Betracht kommenden That-
sachencomplex zusammenfassen; und zu diesem gehören aufser der Spalt-
barkeit noch die oben erwähnte festere Verbindung der inneren Lage mit
dem Muskel und die Dichtigkeit des Gewebes im Tenon 'sehen Räume
zwischen der Rectus -Sehne und der Kapsel, wovon später noch die Rede
Phys, Ähh, nicht zur Akad, gehör. Gelehrter, 1902. IV. 3
18 H. ViRCHOw:
sein wird. Die£s alles vereint weist darauf hin, dafs die innere Lage der
Kapsel in höherm Grade den Bewegungen des Muskels folgt als die äulsere,
und dafs eine gewisse Unabhängigkeit des Muskels und der mit ihm
verbundenen Lage von der äulseren angestrebt ist. Da nun die ftulsere
Lage die Verbindungen zur Orbital wand trägt , so geht allein schon aus
den aufgebahrten Thatsachen hervor, dafe selbst dann, wenn man diese
Verbindungen als »Fascienzipfel« auffassen wollte — was ich nicht thue — ,
doch von einem Fascienzipfel des Rectus lateralis nicht gesprochen werden
könnte. Die genauere Betrachtung der Beschaffenheit und Richtung dieser
Wandbefestigungen, welche in einem andern Abschnitt dieser Arbeit folgen
wird, verstärkt diese kritischen Bedenken.
Der dorso-mediale Quadrant der Kapsel ist durch die ihn schief
durchsetzende Sehne des Obliquus superior beeinflu&t. Die Kapsel reicht
hier bis an das distale, lateral wärts gewendete Ende der Trochlea heran
und ist mit diesem verwachsen. Der Abstand von dieser Stelle bis an die
Eintrittsstelle der Sehne in den Ten on 'sehen Raum milst 7""*; auf einer
so langen Strecke ist die Sehne in die Kapsel selbst eingeschlossen.
Es ist gerade hier unerlälslich , ein Präparat zu verwenden , bei welchem durch
voraufgegangene Behandlung (Formalin- Alkohol -Injection) die Theile so
weit fixirt sind, dafs sie Form und Lage bewahren; denn sonst treten un-
vermeidliche Verziehungen ein, welche das Bild wesentlich ändern. Ich
recapitulire , dafs die Sehne des Obliquus superior bis an die innerste Schicht
der Kapsel heran ihre rundliche Gestalt bei einer Dicke von 2°"° bewahrt,
und dafs sie erst beim Passiren der innersten Schicht selbst sich abplattet,
so dafs sie beim Eintritt in den Tenon'schen Raum 3"f°5 breit ist, worauf
sie noch bis zum Ansatz an die Sclera sieh auf 6°"°* ausbreitet. Das inner-
halb des Tenon'schen Raimies gelegene Stück zeichnet sich durch Zartheit
vor den Recti- Sehnen aus und ist durch ein hinteres »adminiculum« mit
der Wand verbunden.
Die Kapsel nun ist auch an dieser Stelle nicht von homogenem , sondern
von blättrigem Bau , aber dieser Bau ist dadiu*ch complicirt , dafs die einzelnen
Schichten sich an der Umhüllimg der Obliquus -Sehne mittels röhren-
artiger oder scheidenartiger oder trichterartiger Abschnitte be-
theiligen. Ich will diefs auf Grund eines Einzelbefundes schildern. Die
innerste Lage der Kapsel enthält den Schlitz für den Eintritt der Sehne,
der jedoch nur eng, nur an der oberen Seite der Sehne deutlich erkenn-
••
Über Tenon* sehen Baum und Tenorische Kapsel 19
bar und nicht mit einer scharfen Lippe versehen ist, weil die Sehne nicht
in dem Maläe schief wie die der Recti und des Obliquus inferior eintritt.
Von dieser engen Öffnung an gibt die betreffende Eapselschicht eine röhren-
förmige Umhüllung für die Sehne rflckwäi*ts bis zur Trochlea. An die
röhrenförmige Scheide tritt sodann ein zweites Blatt der Kapsel, welches aber
nicht so ausgedehnt wie das erstere ist, sondern die Gestalt einer kleineren
Platte hat. Dazu kommt alsdann eine dritte oder &u£serste Lage, welche haupt-
sächlich an der oberen und hinteren, aber auch an der unteren, am wenigsten
an der vorderen Seite der Sehne ausgebildet ist. Diese Lage umhüllt die Sehne
in der Gestalt eines kurzen Trichters, dessen Spitze an der Trochlea sitzt,
und der mit der vorher genannten röhrenförmigen Umhüllung verwachsen ist.
Die Sehne liegt innerhalb der erwähnten Scheide nicht frei, sondern
ist innerhalb derselben von dem lockern Gewebe des Tenon 'sehen Raumes
begleitet; vor allem fest ist die Verbindung am hintern Rande und an der
unteren Seite. Daher kommt es, dafs, wenn man an einem frischen oder
weniger stark fixirten Präparat nur von oben her die Scheide aufschlitzt
und dann die Wände derselben auseinanderzieht, die in Wahrheit rundliche
Sehne in die Breite gedehnt und verdünnt wird, wobei man auch sieht,
dafs ein Theil ihrer Fasern in die Wand der Scheide selbst über-
geht. Hieraus erklärt sich wohl auch die auffallende Zartheit der Sehne
dieses durchaus nicht unkräftigen Muskels innerhalb des Tenon 'sehen
Raumes. Man muJGs nach diesem Verhalten annehmen, dafs ein nicht un-
erheblicher Theil des Muskelzuges sich innerhalb der Kapsel erschöpft,
ohne auf den Bulbus selbst übertragen zu werden. Da nun auch die Recti
mit ihren Scheiden verbunden sind, so läfst sich auch auf sie diese Be-
trachtung anwenden.
Die eben beschriebenen, im obern medialen Quadranten gefundenen
Blätter lassen sich bis in den hintern obern Theil der Kapsel trennen,
d. h. bis in den Theil derselben, der zwischen Rectus superior und Seh-
nerv liegt.
1. Faseie des Horner'sehen Muskels; Septam orbitale.
Um die Befestigung der Kapsel an der medialen Orbitalwand verstehen
zu können, mufs man sich zuvor die Faseie vergegenwärtigen, welche die
innere (laterale, hintere) Flache des sogenannten Horner'sehen Muskels
bedeckt. Diefs aber bringt mich auf das Septum orbitale.
3*
20 H. ViRCHOw:
In der Beschreibung von Merkel und Kallius ist nämlich, um die
Befestigung des Septum an der medialen Orbitalwand deutlich zu machen,
eine Pigur gegeben \ auf welcher die Ansatzlinie die Figur einer gleichmäßig
nach hinten ausgebögenen Linie besitzt. Dabei ist auf den Horner'schen Mus-
kel nicht in gebiihrender Weise Rücksicht genommen. Da nämlich dieser Muskel
nicht nur an der Crista lacrimalis posterior, sondern hinter letzterer entspringt,
so müfste entweder an dieser Stelle die genannte Linie eine scharfe buchtartige
Ausweichung nach hinten machen , oder es müfste eine Unterbrechung von
der Höhe des Horner'schen Muskels, eine Pforte für diesen Muskel, existiren.
Weit energischer erscheint diese rückwärts gerichtete Ausbuchtung im medi-
alen Ansatz des Septum in einer Figur von T es tut', doch ist hier, wie ich
glaube y das untere Stück der Linie nicht ganz treffend wiedergegeben.
Die von diesen Autoren bevorzugte Auffassung, nach welcher das
Septum an der ganzen medialen Wand continuirlich ist, läfst sich
nun allerdings insofern vertreten, als sich auch an «der Innenfläche (hin-
tern, lateralen Fläche) des Horner'schen Muskels ein die Lücke zwischen
oberm und unterm Septum föllendes Bindegewebsblatt findet, welches
allerdings dem Muskel eng aufliegt und durchaus die Rolle einer (übrigens
nicht dicken) Fascie desselben spielt. Dieses Blatt hat eine Höhe (in senk-
rechter Richtung), welche der Breite des Horner'schen Muskels gleich-
kommt, also 5°™ und eine Länge (in horizontaler Richtung) von S"^. Es
erhebt sich nicht steil vom Knochen, wie die übrigen Theile des Septum,
sondern geht aus der Periorbita tangential hervor und ist vorn straff be-
festigt an dem hufeisenförmigen Boden des Thränensees.
Da ich im Folgenden noch eine andere Stelle des Septum zu be-
rücksichtigen habe und da das Septum überhaupt für eine klare Auffiissung
des Orbitaleinganges wichtig ist, so gehe ich mit einigen weiteren Be-
merkungen auf diese Bildung ein.
Man pflegt das Septum als eine vom Augenhöhlenrande ausgehende
bindegewebige Platte zu schildern, welche im obem Lide mit der vor^
dem Ausbreitung des Levator zusammentrifft und , mit ihr vereinigt , hinter
dem M. orbicularis abwärts zieht, vom Tarsus durch lockeres Bindegewebe
geschieden, während sie im untern Lid in das dichte subtarsale Binde-
^ A. a. 0. S. 86 , Fig. 39.
' Testul, Traite d'anatomie humaiDe. Tomelll. LivreV^I. Organes des sens. Fig. 1169
auf p. 261.
••
Tiber Tenon^ sehen Raum und Tenon^sche Kapsel. 21
gewebe des Lides eintritt. Diese Schilderung mag fftr eine approximative
schematische Auffassung genflgen.
Das Septum verdünnt sich jedoch nicht aUmählich, wie Schwalbe
angibt^ sondern es gibt in demselben stärkere und schwächere Par-
tien. Es ist nicht einmal in allen F&llen continuirlich , sondern es besitzt
gelegentlich Unterbrechungen und findet dann eine Ergänzung durch
interadipöse Sept^, welche coulissenartig aus dem extramusculären Räume
nach vorn treten , so dafs sich zwischen ihnen Fettlappen bis an die Rück-
seite des Orbicularis heranschieben.
Will man das Septum in seinen Beziehungen zu den Nachbartheilen
genau schildern , so mufs man dasselbe dem Umfange nach in acht Stücke
theilen, von denen eines als Fascie des Hörn er 'sehen Muskels soeben
erwähnt worden ist, und von denen ein zweites als »septale Brücke des
untern Lides« noch berücksichtigt werden soll.
Auch darf man die Vorstellung nicht aufkommen lassen, wozu der
Ausdruck »Septum« verf&hren könnte, als wenn es sich um eine steife
Platte handelte. Man braucht nur die Lidbewegung eines lebenden Menschen
zu beobachten, am besten eines magern Individuums, bei welchem bei
geöffneter Spalte selbst der Lidrand sich hinter der Deckfalte versteckt,
und man wird sofort darüber klar sein, dafs mit den Bewegungen der
Lider auch das Septimfi beständig hin und hergebogen wird. Wenn
ein Mensch die Lidspalte weit geöffnet hat , so muJs sein oberes Septum
unter dem Knochenrande ganz nach hinten gezogen sein und mufs sogar
hinten höher stehen als vorn. Wirklich unbewegt bleibt dabei nur der
derbe Randstreifen, welcher die supraorbitalen lücisuren in Löcher ver-
wandelt, und den man so gern vorpräparirt , wenn man eine Anschauung
vom Septum geben will.
Aber dieser Randstreifen, der übrigens höchstens 2^^ hoch ist, ist
im Grunde genommen gar nicht Septum, sondern eine periostale Bildung,
eine Ergänzung des Knochens selber. Diels geht schon daraus hervor, dals
die Löcher für die supraorbitalen Nerven häufig auch an ihrer Unterseite
knöchern geschlossen sind, und zeigt sich au& deutlichste, wenn man ge-
nannten Streifen lateral wärts verfolgt , zu der Stelle , wo der obere Augen-
höfalenrand in den lateralen Rand umbiegt. Hier verstärkt sich der fibröse
^ A. a. O. S. 222.
22 H. ViRCHOw:
Streifen aulserordentlich , wird dick und breit; aber er liegt dann flach dem
Knochen selber an und bildet mit dem Septum einen rechten Winkel.
Mit anderen Worten: das Septum, so werthvoU es auch ist für die
topographische Abgrenzung, besitzt doch nicht die selbständige Bedeutung,
welche ihm in den Beschreibungen oft zu Theil wird, sondern ist an den
meisten Stellen als eine Muskelfascie, nämlich als eine Fascie des Orbi-
cularis, anzusehen.
8. Levator palpebrae snperioris; Ausbreitungen und Fascie desselben,
Fascienzipfel, Sehnenzipfel, abgelöste Bündel.
Der Levator hat so nahe Beziehungen zur Tenon'schen Kapsel durch
seine untere Fläche und durch seinen lateralen Rand, oft auch durch seine
(obere) Fascie, dafs er hier nicht unbesprochen bleiben kann.
Der Levator, indem er sich vorn zu einer dünnen Platte ausbreitet,
verhält sich dabei stark asymmetrisch, da er an der lateralen Seite bis
an den Knochen heran ausgedehnt und an diesem mit einem »Sehnenzipfel«
befestigt ist, während er an der medialen Seite mit einem freien Rande
in ziemlicher Entfernung von der Orbitalwand endigt. Hier wird durch
die schief nach hinten ziehende Sehne des Obliquus seiner weiteren Aus-
breitung ein Riegel vorgeschoben. Diese Asymmetrie des Muskels kommt
in deutlicher Weise zum Ausdruck in einer Figur von Merkel und Kallius^;
doch ist allerdings dieses Bild durch die skizzenhafte Behandlung, durch
die Verzerrung des medialen Fettlappens und durch die ungenaue Figuren-
erklärung nicht geeignet, den Unkundigen aufzuklären.
Die vordere breite Partie des Levator, oder die »Levator-Ausbrei-
tung«, spaltet sich, wie bekannt ist, der Fläche nach in zwei Blätter,
ein oberes (weiterhin vorderes) und unteres (weiterhin hinteres), von denen
das erstere, mit dem obem Septum verbunden, hinter dem Lid-Orbicularis,
vom Tarsus durch lockeres Bindegewebe getrennt, abwärts zieht, während
das letztere sich mit dem obem Rande des Tarsus verbindet.
Beide Blätter sind in der Mitte, d.h. in gleichem Abstände von der
lateralen und medialen Orbitalwand, gleich ansehnlich, doch ändert sich
diefs an der lateralen Seite, wo das vordere Blatt zur Bildung des Seh-
1 A. a. 0. Fig. 35 auf S. 78.
• • ^^
über Tenan' sehen Raum und Tenorische Kapsel 23
nenzipfels sich verstärkt, das hintere Blatt , den conjunctivalen Thränen-
drusen aufliegend, sich verdCLnnt, gewissermaXsen durch den Druck dieser
Drüsen usurirt wird.
Die Spaltung des Levator in seine beiden Blätter vollzieht sich schon
im Muskel, allerdings nur etwa 2"°" hinter der Stelle, wo das obere Blatt
sehnig wird, aber doch immerhin dort, wo der Muskel noch Muskel ist,
wodurch es über jeden Zweifel erhoben wird, dafs auch das vordere der
beiden Blätter den Charakter einer Sehnenausbreitung und nicht den
einer Fascie besitzt. Von dieser Stelle an, die etwa io"°* hinter dem Sep-
tum -Ansatz an das vordere Blatt gelegen ist, ist die Spaltung im Muskel
continuirlich , sowohl in senkrechter wie in querer Richtung. Am me-
dialen Rande hängen beide Blätter zusammen, und wenn man diesen
medialen Rand abwärts (bez. vor- oder distalwärts) verfolgt, so findet man,
dals hier der Levator seinen Ansatz am Tarsus um weniges nach der me-
dialen Seite überschreitet und in unbedeutender Weise mit der Tenon' sehen
Kapsel verbunden ist, ohne aber eine Verbindung nach der medialen Orbi-
talwand hinüber zu haben.
Am lateralen Rande ist das Bild nicht immer ganz deutlich; es
kommen hier auch leichte Varianten vor und selbst in den klarsten Fällen
ist doch eine aufserordentlich sorgfältige Präparation erforderlich. Ich be-
schreibe einen solchen genau analysirten Fall, den ich nach mehrfachen
Erfahrungen als typisch betrachten kann. Die beiden Blätter oder Aus-
breitungen des Muskels decken sich zwar mit ihren Rändern, doch sind
sie hier nicht verbunden, so dafs der im Levator vorhandene Spalt,
oder — wie man es auch nennen kann — die Tasche des Levator, an
dem lateralen, zugleich rückwärts gewendeten Rand offen steht. Es kann
sogar, während im übrigen diese beiden Blätter hart auf einander liegen,
hier zu einem kleinen Abstände zwischen beiden kommen. Im vorlie-
genden Falle beträgt derselbe am Knochenansatze 2™° und ist bedingt
durch ein kleines Läppchen der Thränendrüse. Man mufs sich nämlich
erinnern, dafs am hintern Rande des Levator -Zipfels die Verbindung der
orbitalen mit der conjunctivalen Thränendrüse gelegen ist, und von dieser
Verbindung dringt das erwähnte Läppchen zwischen beide Levator-Blätter ein.
Von diesen beiden Blättern oder Levator -Ausbreitungen — es handelt
sich ja hier immer nur um den lateralen Randtheil — ist nun das obere
oder vordere leicht, das untere oder hintere schwer zu verstehen.
24 H. ViRCHow:
; Das obere hat von der Stelle an, wo überhaupt die Spaltung im
Muskel sich vollzieht, d.h. in einer Ausdehnung von ij™°, einen freien
Rand und verstärkt sich in zunehmender Weise nach der lateralen und
unteren Seite, indem es hier den erwähnten Sehnenzipfel bildet, der
sich in einer 9™° langen Linie am Knochen befestigt. Berücksichtigt man
die im Muskel vorhandene Wölbung, so wird man verstehen» daXs diese
Ansatzlinie, welche bis zur Höhe des lateralen Lidwinkels hinabreicht,
in ihrer unteren Hälfte senkrecht steht , in ihrer oberen Hälfte dagegen
räckwärts gebogen ist.
Ich werde auf diesen Sehnenzipfel noch einmal zurückkommen, wenn
ich von den lateralen Befestigungen der Tenon 'sehen Kapsel spreche; doch
tritt das Wesentliche schon jetzt hervor, wenn man nur einige Consequenz
darauf verwendet, das Thatsächliche klar vor Augen zu behalten, und es
nicht in einer verschwommenen Sammelvorstellung untergehen zu lassen.
Es handelt sich um eine straffe, kräftige, aber doch immerhin dünne Platte,
deren oberer (zugleich hinterer) Rand frei ist, und deren unterer Rand so-
wohl mit dem davor liegenden Septum orbitale, wie mit dem dahinter
liegenden »Ligamentum capsulare laterale inferius« verbunden ist. Es han-
delt sich nicht imi einen Fascienzipfel , sondern um einen Sehnenzipfel.
Dieser Sehnenzipfel ist mit der Tenon 'sehen Kapsel gar nicht verbunden;
er kann also auf diese wenigstens nicht unmittelbar einwirken, und mau
mufs beim Anblick desselben jedenfalls in erster Linie an Beziehungen zur
Lidhaltung imd Lidbewegung und nicht an solche zur Augenhaltung
und Augenbewegung denken.
Die untere oder hintere Levator-Ausbreitung befestigt sieh in
dem Falle, den ich beschreibe, gleichfalls am Knochen; sie hat gleich-
falls einen freien, rückwärts gewendeten Rand. Aber dieser Rand-
abschnitt müst nur 7°V°5; das dahinter liegende Stück des Randes ist ab-
solut nicht von der Kapsel zu trennen. Wir haben es hier mit der
schon frülier erwähnten Stelle des Levator zu thun, an welcher die Ver-
bindung des Muskels mit der Kapsel ganz besonders innig ist. Trotzdem
lälst sich aber doch an dem Aussehen und an der Faserung der Levator-
Rand ganz deutlich erkennen und in das freie Randstück weiterföhren.
Verfolgt man nun diese Levator-Ausbreitung über die Kapsel hinaus
nach vom, d. h. in das Gebiet des obern Lides, so kommt man aa
die Stelle, wo die conjunctivalen Thränendrüsen gelegen sind. Hier
Über Tenon* sehen Bmm und Tenorische Kapsel. 25
verdünnt sie sieh aufs äufserste; ja es kommen Fälle vor, wo sie
trotz der sorgfältigsten Präparation nicht als gesondertes Blatt darstellbar
ist. Sie ist eben durch die von unten her andrängenden conjunctivalen
Thränendrüsen verdünnt und usurirt, und dieser so zu sagen atrophischen
Partie gehört auch der eben erwähnte Knochenansatz an.
Trotzdem findet das untere Levator- Blatt hiermit nicht sein Ende; viel-
mehr wird der Untersucher, der mit Vorsicht die Spaltung des Levator in
seine beiden Blätter bis zu Ende, .d. h. bis gegen den Lidrand, fort-
setzt, für seine Bemühung dadurch belohnt, dafs er auf eine neuerliche
Verstärkung der hinteren Ausbreitung trifltt. Diese Verstärkung kommt
durch horizontale Fasern zu Stande, und hat eine Höhe von 4""™. Da
diese verstärkte Partie vom Knochen an das laterale Ende des Tarsus
geht, so verdient sie die Bezeichnung eines »Ligamentum laterale tarsi
superioris«.
Somit sind an der lateralen Randpartie des unteren Blattes des Le-
vator drei hinter einander gelegene, in ihren mechanischen Beziehun-
gen wesentlich differente Abschnitte zu unterscheiden: eine hintere mit
der Ten on' sehen Kapsel innig verbundene und daher auf diese wirkende ;
eine mittlere, die wegen ihrer Schwäche überhaupt keine mechanische Be-
deutung besitzt und nur den morphologischen Werth hat, dafe sie eine
Verbindung nach vom vermittelt; und eine vordere, welche zur Fixirung
des Tarsus dient.
Für unser specielles Problem, fiir die Beziehungen der Tenon' sehen
Kapsel, ist das hinterste dieser drei Stücke das einzig in Betracht kommende.
Aber von einem »Fascienzipfel des Levator« ist dabei nichts zu spüren,
denn weder ist eine Fascie vorhanden noch ein Zipfel; es liegt vielmehr
eine »Kapselverbindung der unteren Levator-Ausbreitung« vor,
die — wie schon gesagt — in ihrer mechanischen Bedeutung den »Schei-
denverbindungen« der vier Recti an die Seite zu stellen ist.
Ich werde im weitem Verlaufe meiner Darstellung alle Wandverbin-
dungen der Kapsel und Fascienverbindungen besprechen, soweit es noch
nicht geschehen ist, aber ich möchte sclion hier die Bemerkung einfügen,
dafs bei einer genaueren Analyse von den »Fascienzipfeln« nichts Greif-
bares übrig bleibt. Der Begriff Fascienzipfel ist ein Sammeltopf,
in den alle unanalysirten Reste zusammengeworfen worden sind.
Ich habe mich mehrmals heifs bemüht, die Fascienzipfel nach den Lehr-
Phys, Ahh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. IV. 4
26 H. ViRCHOw:
büchern zu verstehen , aber während man sonst bei complicirten Objecten
die angenehme Erfahrung macht, dafs eine schwer verständliche Sache klar
wird, wenn man das Object selbst zu Hülfe nimmt, so geht umgekehrt
bei den »Fascienzipfeln« das Bischen Klarheit, welches man sich aus dem
Buch angelesen hat, verloren, sobald man an das Präparat kommt.
Nach dieser Zwischenbemerkung kehre ich zum Levator zurück.
Weitere Blätter oder Ausbreitungen des Levator aufser den zwei ge-
nannten gibt es nicht. Doch müssen 'vy^ir betrachten, was an der unteren
und was an der oberen Seite des Muskels gelegen ist.
An der unteren Seite des Levator, d.h. zwischen Levator und Rectus
superior, findet sich in der hinteren Hälfte der Orbita überhaupt gar kein
bindegewebiges Blatt, weder zwei Fasclen, noch eine, sondern nur eine
ganz spärliche Menge von zartem Bindegewebe, Vorn, d.h. oberhalb des
Bulbus, trifft man eine ansehnliche Lage, in welcher ich nichts anderes
als einen Abschnitt der Kapsel erblicke. Ich habe schon ausgeföhrt, dafs
man allerdings in diesem eine Spaltung in zwei Lagen vornehmen, und
dafs man darin eine Beziehung auf die beiden begrenzenden Muskeln er-
blicken kann, aber ich habe auch hinzugefögt, dafs diese Spaltbarkeit nicht
so weit geht, dafe man darüber die einheitliche Auffassung der Kapsel aus
den Augen verlieren sollte.
An der oberen Seite des Levator mufs man um so bestinomter eine
Fascie hervorheben; und diese hat eine Reihe bestimmter Charaktere. Im
Grunde der Augenhöhle fehlt sie gänzlich; sie beginnt dann da, wo der
Muskel sich mehr verbreitert und erlangt ihre gröfste Stärke an der Stelle,
wo die Spaltung des Muskels selbst in seine beiden Blätter sich vollzieht.
An dieser Stelle, die stets durch das Vorkommen starker Venen im Muskel
ausgezeichnet ist, ist sie auch verhältniismäfsig fest mit dem Muskel ver-
bunden , und ich fand in einem Falle unter Controle des Mikroskops hier
den Übertritt sehr feiner zerstreuter und aufgefaserter Muskelbündel in die
Fascie in der ganzen Breite des Levator vom medialen bis zum lateralen
Rande, am stärksten an letzterm. Vor dieser Stelle nimmt die Fascie in
der Mitte ab und verläufl sich in dem lockern Bindegewebe, so dafs sie
das Septum nicht erreicht.
Anders ist es an der lateralen und an der medialen Seite,
An der lateralen Seite steht die Fascie durch eine schwache Fort-
setzung an der oberen Kante der Thränendrüse mit dem Periost in Ver-
über Terum' sehen Raum und Tenon^sche KapseL 27
bindung; sie selbst zieht sich, gleichfalls nicht dick und mehr locker an
der medialen Seite der Drüse bis zu deren Hilus hinab, indem sie eine
Halbkapsel für die Drüse bildet. Es kommt vor, dafs die Fascie hier
in feste Verbindung mit dem Sehnenzipfel des Levator tritt, doch ist
die& nicht die Regel; und selbst wenn es vorkommt, kann man doch nur
von einem gemeinsamen Zipfel der Fascie und der Sehne sprechen, in
welchem letzterer der Hauptantheil zufällt.
An der medialen Seite verstärkt sich die Fascie über dem freien
Rande des Muskels , und während sie sonst überall dem Muskel selbst an-
liegt und von dem Orbitalrande durch das Fettgewebe des extramusculären
Raumes getrennt ist, so biegt sie hier aus der Richtung ab nach vorn
gegen den Knochen mid befestigt sich mittels eines platten Streifens am
Orbitalrande oberhalb der Trochlea. Der Ansatz an den Knochen hat
die Länge von 6"". Dabei kann sie entweder mit der Trochlea selber und
mit dem früher erwähnten, die Obliquus- Sehne einscheidenden Kapsel-
trichter verbunden sein, oder von beiden frei bleiben.
Der Muskel wird von seiner Fascie sowohl am medialen wie am late-
ralen Rande Oberschritten. Nach hinten aber verlieren sich diese seit-
lichen Ausbreitungen aufgelockert in dem Bindegewebe.
Zu dem complicirten Bilde des Levator gehören noch Bündel, welche
sich an seinem medialen Rande abzweigen können; nach Budge,
der dieses Vorkommen zuerst beschrieben hat, in \ der Fälle, wie Schwalbe
citirt. Es ist sehr wahrscheinlich, dafs dabei, da es sich um einen in-
constanten Befund handelt, auch Varianten vorkommen. Den von Budge
gebrauchten Namen »Tensor trochleae« möchte ich nicht beibehalten , denn
einmal habe ich in allen den Fällen, die ich präparirt habe, eine Befesti-
gung an die Trochlea nicht finden können, und dann ist auch bei der
grofsen Derbheit der Trochlea und der Schwäche der betreffenden Muskel-
bündel nicht abzusehen, was eine »Spannung« der Trochlea bezwecken,
oder worin sie sich überhaupt äufsern sollte. Es erfordert aber sehr viel
Vorsicht und Sorgfalt, den Verbleib dieser Bündel festzustellen, und ein
einziger voreiliger Schnitt oder Zug kann den Erfolg der Präparation ver-
eiteln.
Ich unterscheide zwei Arten derartiger Bündel am medialen Rande des
Levator, welche ich in einem Falle vereinigt fand, während sie an der
anderen Orbita der gleichen Leiche beide fehlten.
4*
28 H. ViRCHow;
Das eine ist das leichter zu erkennende, weil dickere, Budge'sche
Bündel, welches sich schon weit hinten vom medialen Rande des Mus-
kels ablöst und unter zunehmendem Abstände, aber genau an der Flächen-
krümmung des Muskels theilnehmend , nach vom zieht. Hier biegt es
dann an der hinteren bez. medialen Seite der Obliquus- Sehne, d. h. durch
den Winkel, den diese Sehne mit dem Muskelbauche bildet, abwärts
und tritt in das lockere Bindegewebe unterhalb der Trochlea ein. Obwohl
nun dieses Bündel dort, wo es sich vom Levator ablöst, einen ziemlieh
hoffnungsvollen Eindruck macht, so ist es doch beim besten Willen und
der grölsten Bemüliung schwer, eine eigentliche Endigung zu finden.
Die kleinen Bündelchen, in die es zerfällt, gehen in zarte Sehnen über,
und diese verlieren sich zwischen den Fettläppchen. Allenfalls lälst es
sich bis an das mediale Septum verfolgen, und mit groCser Geduld glaube
ich die letzten damit zusammenhängenden Fasern bis an den obem Band
des Horner'schen Muskels gesehen zu haben. Hier ist oberhalb des Lid-
bandes am Lebenden ein kleines Grübchen zu constatiren; manchmal fehlt
dasselbe gänzlich, in einigen Fällen ist es aber so scharf, als habe dort
ein Schrotkorn gelegen. Bei einem Specialcollegen , Hm. Altuchoff
aus Moskau, konnte ich und mit mir einige andere Beobachter in ge-
wissen Momenten ein Zucken im Grunde dieses Grübchens bemerken.
Diefs ist wenigstens die Stelle, auf welche die Ausstrahlung des ge-
nannten Bündels hinzielt, wenn auch die Haut, die den Grund des Grüb-
chens bildet, durch den Orbicularis von dem Ende der Ausstrahlung ge-
trennt ist.
Das andere Bündel ist schwerer zu finden , weil es feiner ist. Ich be-
zeichne es als »Fascienbündel des Levator«, weil es an die (obere)
Fascie des Muskels geht und zwar an den vorher geschilderten Fascien-
zipfel. Ich fand dieses Bündel in einem Falle, wo ich es präparirt habe,
nur i"" breit; es löste sich vom freien Rande des Levator, also an der
lateralen Seite der Obliquus- Sehne, ab, jedoch nicht so, dafe es von
dem Muskel medialwärts divergirte, sondern so, dafe es aus seiner
Fläche heraus nach vorn an den Fascienzipfel trat. Es ist leicht zu
sehen, dafs dießj nur ein specieller Fall des schon vorher erwähnten Vor-
kommens ist, bei welchem feine Bündel aus dem Levator an seine Fascie
treten.
••
Über Tenorischen Raum und Tenorische Kapsel. 29
9. Die accessorische Fascie des Rectns inferior and die septale Briicke
des nntem Lides.
Der Rectus inferior ist, wie die anderen Recti auch, von einer inneren
und äulseren, bei ihm oberen und unteren Fascie bekleidet. Hierzu tritt je-
doch bei ihm speciell noch eine zweite untere , also unterste Fascie , welche
in der Litteratur wohl bekannt ist. Ich wähle den Ausdruck »accesso-
rische Fascie« aü dieser Stelle nur, um eine deutliche Unterscheidung
zu haben, ohne ihn gerade empfehlen zu wollen.
Die accessorische Fascie trennt sich von der unteren Wand der Scheide
des Rectus an der Stelle der «Scheidenverbindung« und läuft von da
nach vorn, wobei sie, wie es in den Beschreibungen hellst, unterhalb
des Obliquus inferipr vorbeigeht. Dieser Punkt bedarf einer genaue-
ren Beachtung; denn da die accessorische Fascie des Rectus horizontal ge-
richtet ist, der Obliquus jedoch schief, bez. gebogen aufsteigt, so ist es
von vom herein klar, dafs in der Richtung beider Gebilde eine Kreuzung
stattfindet.
Dort, wo die genannte Fascie mit dem Obliquus, genauer gesagt, mit
dessen Scheide in Beziehung tritt, verbreitert sie sich. Sie verbreitert
sich also nicht von Anfang an gleichmäfsig in Gestalt eines Dreiecks, son-
dern so, dafs die beiden Ränder gebogen sind, und zwar unsym-
metrisch. Der laterale Rand läuft geradeaus bis zu der Stelle, wo sich
in ganz typischer Weise der zum Obliquus inferior gehende Zweig des
Ramus inferior oculomotorii krückenartig gegen den Muskel wendet; von
da an biegt er plötzlich seitwärts ab. Der Nerv hält sozusagen den Rand
fest. Der mediale Rand der Fascie biegt mehr allmählich ab und geht
dadurch in den hintern Rand der Scheide des Obliquus inferior über; er
rundet den Winkel aus zwischen dem medialen Rande des Rectus und dem
hintern Rande des Obliquus. Es kommt auch vor, dafe dieser Rand ver-
stärkt und mit dem Obliquus selbst verbunden ist. Dadurch wird dann eine
wichtige Verbindung zwischen dem Rectus inferior und Obliquus
erzeugt.
Dort nun, wo diese accessorische Fascie des Rectus inferior den Orbi-
taleingang erreicht, trifft sie auf einen derbem, sehnig glänzenden,
bogenförmigen Streifen und verbindet sich mit ihm. Berücksichtigt
man, dafe hier die Fascie, die Obliquus -Scheide und der bogenförmige Strei-
30 H. ViRCHOw:
fen verbunden sind, so darf man hierin wohl ein Moment von mechani-
scher Bedeutung erkennen.
Der fibröse Streifen, von dem ich rede, steht in seiner medialen
Hälfte mit der vorderen Kante der Obliquus- Scheide in Verbindung und
ist dadurch am Knochenrande fixirt; seine laterale Hälfte ist frei und
befestigt sich am untern Orbitalrand an einer Stelle, die ebenso weit latei*al
von der Mitte liegt wie die erstgenannte medial. Wegen dieser Fixirung
an zwei Punkten bezeichne ich diesen Bogen als »Brücke«.
Die Brücke ist platt und senkrecht gestellt. Ihre Ebene ist also
die Ebene des Septum; deshalb nenne ich sie »septale Brücke«. Sie
kann also als ein verstärkter Zug in der mittleren Partie des untern Septum
oder auch als ein Ersatz derselben bezeichnet werden, denn in der Lücke
imterhalb des Bogens ist das Septum schwach oder fehlend bez. wird ver-
treten durch die Fascie des Orbicularis.
Dort, wo die accessorische Fascie des Rectus inferior sich an die
septale Brücke ansetzt, ist sie selbst durch quere Fasern verstärkt,
welche in ihr einen horizontal liegenden Streifen bilden. Die septale
Brücke und der zuletzt genannte Streifen bilden also mit einander einen
rechten, allerdings gerundeten Winkel.
Vor der septalen Brücke hebt sich die accessorische Rectus -Fascie und
tritt in das dichte subtarsale Bindegewebe des untern Lides ein.
Den lateralen Schenkel der septalen Brücke erkennt man in der Figur
1 131 von TestutS allerdings durch die Verlagerung des Bulbus und durch
übertriebene Stärke entstellt. Aber man sieht doch deutlich, um was es
sich handelt. Dagegen ist in der Figur 11 28 des gleichen Autors* dieses
»Prolongement orbitaire« der Obliquus- Scheide nicht zu billigen, denn diese
Figur stellt einen senkrechten Mittelschnitt durch die Augenhöhle dar, und
es gehört zu den Merkmalen der »septalen Brücke«, dass sie auf dem Mittel-
schnitt fehlt und sich seitlich befestigt.
Ich muis nun noch einmal auf die Beziehung der accessorischen Fascie
des Rectus inferior zu der Scheide des Obliquus inferior zurückkommen,
einen Punkt, den ich weiter oben schon berührt, aber nicht erledigt habe.
Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dafs die Fascie des Rectus horizontal
^ Trait^ d'anatomie humaine, T. 111, livreVI, Organes des sens p. 206.
^ A. a. 0. p. 202.
••
Über Tenorischen Raum und Tenorische Kapsel. 31
liegt y während der Obliquus von der medialen nach der lateralen Seite auf-
steigt. Diesem räumlichen VerhältnUis entspricht es, dals am medialen Ende
des Obliquus die Fascie in die obere Wand der Scheide übergeht; unter
der Mitte des Bulbus dagegen hängt die Fascie mit der unteren Wand der
Scheide zusammen , und bereits unterhalb des lateralen Randes des Rectus
läfst sich ein Zwischenraum zwischen Fascie und Scheide wahrnehmen, in
welchen von der lateralen Seite her Fettgewebe vordringt. Man kann diesen
Sachverhalt auch so ausdrücken, dais der Obliquus, von der medialen nach
der lateralen Seite aufsteigend, die accessorische Fascie des Rectus inferior
durchbohrt.
10. Befestigcmg der Tenon 'sehen Kapsel in der G^end des medialen
und lateralen Lidwinkels.
Wenn man die Befestigungen der Kapsel an der medialen und late-
ralen Orbitalwand schildern will, so darf man nicht generalisiren. Der
Autor, welcher seine Beschreibung und Ausdrucksweise den wirklichen Ver-
hältnissen anpassen wiU, sieht sich hier der gleichen Schwierigkeit gegen-
über, welche ich weiter oben hinsichtlich der Kapsel selbst schon charak-
terislrt habe, nämlich er findet sich vor der Aufgabe, abzuwägen, wie weit
er die Wandverbindungen der Kapsel als Fortsätze, Ausstralilungen, Zipfel
anderer Theile, oder als selbständige Bildungen auffassen soll. Es läfst
sich gar nicht verkennen , dafs hier die geistige Stimmung des Autors , die
Richtimg seiner wissenschaftlichen Gewohnheiten eine Rolle spielt: wer eine
Vorliebe fiir Formalismus und durchsichtige Schemata hat, wird diese Ver-
hältnisse anders darstellen wie der, welcher ein empfindliches Feingefiihl
für Realitäten besitzt. In der französischen Lehrbuch -Litteratur, mitSappey
anfangend, sind diese Wandverbindungen der Kapsel als »Prolongements«
bezeichnet; Sappey selbst nennt sie »Prolongements du second ordre ou
faisceaux tendineux«* und betrachtet sie als Fortsätze der Muskelscheiden.
Hierzu möchte ich bemerken, dafs die Bezeichnung »Verlängerungen« oder
»Fortsätze« z.Th. nicht übel ist, dafs aber diese Verbindungen zu weit vorn
sitzen, um noch als Fortsätze der Muskelscheiden gelten zu können; sie
müfsten vielmehr »Fortsätze der Kapsel« genannt werden; »sehnig«
* A. a. O. S. 108.
32 H. ViRCHOw:
aber sind sie auf keinen Fall, da sie mit den Muskeln selbst in gar keiner
Verbindung stehen. In die deutsche Litteratur ist durch Merkel, dem sich
Schwalbe angeschlossen hat, der Ausdruck »Fascienzipfel« gekommen,
über den ich mich schon ausgesprochen habe. Wenn es milslich und nach
meiner Meinung nicht statthaft ist, den vordem Theil der Kapsel in Fascien-
zipfel zu zerspalten, so verbietet es sich consequenterweise von selbst, nun
noch darüber hinaus die Verbindungen der Kapsel zur Wand gleichfalls
als Fascienzipfel zu beschreiben. Auf der anderen Seite ist es, wie ich von
neuem betone, berechtigt, gewisse Faserzüge und Zugrichtmigen von den
Muskelscheiden durch die Kapselwand hindurch nach vom und nach den
Seiten zu verfolgen. Nur darf man bei diesen analytischen Versuchen eines
nicht aulser Acht lassen. Wenn man nämlich einen frischen oder doch
weichen Orbitalinhalt präparirt und dabei den Bulbus mit der Ten on 'sehen
Kapsel verlagert, um die Wandverbindungen, die man säubern und dar-
stellen will, zu spanneu, so ist es zwar sehr leicht, das Bild gewisser
»Fascienzipfel« zu gewinnen und »überzeugend zu demonstriren«, aber es
ist doch sehr zweifelhaft, ob dieses Bild der Wirklichkeit entspricht.
Verbindung in der Gegend des medialen Lidwinkels. — Wenn
man diese Verbindung verstehen will, so mufs man sich erinnern, dafs
hier zwischen der Tenon'schen Kapsel und der Wand der Horner'sche
Muskel liegt, oder — wie die BNA sagt — die »Pars lacrimalis des Orbi-
cularis oculi«. Ich gehe auf eine Analyse dieses Muskels nicht ein und
lasse die Frage unerörtert, ob die Aufstellung einer solchen Pars lacrimalis
überhaupt einen Sinn hat; es genügt, an das wohlbekannte Bild eines
platten 5"" hohen und 8"™ langen Muskelbandes zu erinnern, welches hinten
tangential von der Orbital wand abgeht und vom, hart an der Carunkel,
auseinanderweicht, um in das obere und untere Lid überzugehen. Ks
scheint, dafs diejenigen, welche Lehrbücher geschrieben und darin dar-
gestellt haben, wie sich in der Gegend des medialen Lid winkeis die » Pro-
Ion gements« oder »Fascienzipfel« an die Orbitalwand befestigen, vergessen
hatten, dals sie auf einer anderen Seite des gleichen Xichrbuches den
Hörn er 'sehen Muskel beschrieben haben, sonst müisten sie das Bedürfnifs
gefühlt haben, eine genauere Darstellung von den Beziehungen der
Kapselfortsätze zu diesem Muskel zu geben. Es könnten sich solche
Kapselverbindungen zur Wand nur entweder weiter hinten als der Muskel
finden — das ist nicht der Fall, denn das Fettgewebe des extramuscu-
•• ^^
Über TenorC sehen Baum und Tenorische Kapsel 33
laren Raumes dringt sogar noch eine Strecke weit zwischen Muskel und
Kapsel nach vom — oder am obern oder untern Rande des Hörn er-
sehen Muskels — das ist gleichfalls nicht der Fall, denn an beiden Stellen
liegt lockeres Gewebe. £s folgt daraus, dals es eine directe Befestigung
der Kapsel an der Orbitalwand in der Gegend des medialen Lidwinkels
nicht gibt und nicht geben kann.
Meine Auffassung ist schon im Vorausgehenden enthalten; ich brauche
nur das zusammenzuziehen, was ich über die Fascie des Hörn er 'sehen
Muskels und über das mediale Polster der Kapsel gesagt habe. Ich rechne
dieses Polster zur Kapsel selber, wenn es auch in Bezug auf seine
Consistenz und sein Gefage von der damit verbundenen Lage der Kapsel,
der Fortsetzung der Muskelscheide des Rectus medialis, abweicht. Durch
Vermittelung dieses Polsters verbindet sich die Kapsel mit dem vor-
dem Theil der Fascie des Horner'schen Muskels, mit dem Boden
und den Rändern des Thränensees und mit der Basis der Ca-
runkel.
Es ist klar, dafe die Befestigung an der Orbitalwand nur mittelbar
sein kann, und es ist ebenfalls klar, dals diese Vermittelung durch das
sogenannte Ligamentum palpebrale mediale geschieht. Diese Ver-
hältnisse würden sofort anschaulich sein, wenn die Beschreibung des Ban-
des genau wäre. Obwohl diels aber meistens nicht der Fall ist, so will
ich doch auf diesen Punkt nicht näher eingehen.
Verbindung in der Gegend des lateralen Lidwinkels. Die
Verbindung in dieser Gegend lä&t sich nur deutlich vorstellen, wenn man
die Lagerung der Thränendrüsen im Auge behält. Es kommt dabei we-
niger auf die orbitale Drüse an, welche oberhalb der vorderen Ausbrei-
tung des Levator gelegen ist, und welclie man wegdenken oder abschneiden
kann, ohne dafs man dabei mit den Befestigungen der Kapsel in Berüh-
rung geräth ; doch mufs ich der topographischen Verhältnisse halber auch
an sie erinnern. Pi-äparirt man von vorn her, und zwar so, dafs man das
Septum orbitale nicht nur frei legt, sondern auch durchschneidet, so ge-
langt man bekanntlich in den extramuscularen Raum der Orbita; räumt
man dann diesen aus, indem man vorsichtig das Fett entfernt, so erblickt
man die vordere Ausbreitung des Levator und kann die Verbindung des
Septum mit dieser verfolgen. Man überzeugt sich dann, dafe die Verbin-
dungslinie im Bogen abwärts läuft bis in die Höhe des lateralen Lidwinkels,
Phys, Ahh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. IV. 5
34 H. ViRCHow:
und im Anschlüsse daran, daß; der extramusculftre Raum an dieser Stelle
in einen ebenso weit hinabreichenden Recessus ausläuft, welcher vorn
vom Septum, seitlich von dem früher erwähnten sehr starken Perioststreifen,
hinten von der vorderen Levator- Ausbreitung bez. deren Sehnenzipfel abge-
schlossen ist. In diesen Recessus des extramusculären Raumes, und zwar
bis zu dem Grmide desselben, biegt sich die Thränendrüse abwärts, indem
sie auf dem Sehnenzipfel der vorderen Levator-Ausbreitung reitet. Ich be-
zeichne daher diesen Raum als »Recessus der oberen Thränendrüse«.
Treten wir, um die Verhältnisse von einer anderen Seite zu beleuchten,
an unser Präparat von der lateralen Seite her heran, indem wir zuerst den
Knochen entfernen und dann die Periorbita vorsichtig in Stücken abschnei-
den, so erblicken wir an der nun freigelegten lateralen Fläche der orbitalen
Thränendrüse einen vom untern Rande der Drüse schief auf- und rück-
wärts verlaufenden Spalt, der von einem derben fibrösen, an die Pe-
riorbita befestigten Blatt eingenommen ist; dieses Blatt ist der Sehnenzipfel
der vorderen Levator-Ausbreitung.
Der beschriebene Recessus ist an seinem untern trichterförmig zu-
gespitzten Ende entweder geschlossen, wie das ja nicht anders sein kann,
wenn die Verbindungslinie zwischen Septum und Levator-Ausbreitung sich
bis an den Knochen fortsetzt; oder es findet sich am Boden, hart am Knochen,
ein kleines rundes Loch, welches in das extramusculäre Fett der Unter-
lidgegend hineinföhrt. In diesem Falle hört also die Verbindung zwischen
Septum und Levator -Sehne dicht vor dem lateralen Ende auf.
Wichtiger jedoch für unsere vorliegende Aufgabe ist es, einen andern
Raum kennen zu lernen, nämlich den, in welchem die unteren (conjunc-
tivalen, palpebralen) Thränendrüsen-Abschnitte gelegen sind. Ich
sehe för die nachfolgende topographische Betrachtung von den disseminir-
ten, weiter medial gelegenen, mehr mikroskopischen Einzeldrusen ab und
fasse die lateral gelegenen conjunctivalen Drüsen in einen einheitlichen Drü-
senkörper zusammen, wie diefs ja auch in dem gebräuchlichen Namen »un-
tere Thränendrüse« zu geschehen pflegt. Dieser besitzt, von der Orbital-
wand an gemessen, in horizontaler Richtung eine Breite von 15™™ und liegt
unterhalb der unteren Levator-Ausbreitung zwischen ihr und der
Conjunctiva palpebrae superioris; seine Gesammtmasse besitzt gut den dritten
Theil des Volumens der orbitalen Druse , was mit Rücksicht auf die phy-
siologischen Betrachtungen , die an die Exstirpation der orbitalen Druse ge-
über Tenorischen Raum und Tenon^sche Kapseh 35
knüpft werden, Beachtung verdient. Der medial gelegene Abschnitt
dieses DrQsenkörpers ist stark abgeflacht und liegt in einem flachen Spalt-
raum zwischen dem Levator und der Conjunctiva ; doch kann man von einem
»Raum« nicht eigentlich sprechen, da die Lücken zwischen den Drüsen-
lappchen durch Bindegewebe eingenommen sind, welches die Conjunctiva
mit der Levator- Ausbreitung verbindet.
Diese Verhältnisse ändern sich aber an der lateralen Seite ; indem hier
die an die Conjunctiva sich anschliefsende Tenon'sche Kapsel, rückwärts
abbiegend, durch einen Abstand von der lateralen Knochen wand getrennt
bleibt und indem das zwischen den Drüsenläppchen gelegene Bindegewebe
so spärlich und locker wird, dafs man es vernachlässigen kann, entsteht
ein wirklicher »Raum«, ein »Recessus der unteren Drüse«, welcher
seitlieh vom Knochen, genauer: von der Periorbita, medial von der Tenon-
schen Kapsel begrenzt wird.
Dieser zweite Recessus liegt nicht unter dem erstgenannten, son-
dern hinter demselben, da ja der Sehnenzipfel des Levator, welcher beide
trennt, der Hauptsache nach senkrecht steht, und da beide Recessus gleich
weit nach unten reiclien, nämlich bis zur Höhe des lateralen Lidwinkels.
Dieser »Recessus der untern Thränendrüse« ist es, auf den wir unsere
Aufmerksamkeit concentriren müssen, denn allein die Wände dieses
Raumes sind es, welche eine Verbindung zwischen der Tenon'schen Kap-
sel und der Orbitalwand herstellen. Es handelt sieh dabei an keiner Stelle
um eine dicke Fasermasse, sondern nur um dünne, plattenartige, aber
doch straffe Formationen.
Wir können an diesem Recessus, abgesehen von der lateralen , durch
den Knochen, und abgesehen von der medialen, durch die Tenon'sche
Kapsel gebildeten Wand, vier Wände unterscheiden: eine vordere, obere,
untere und hintere. Man gewinnt far die Schilderung den besten An-
haltspunkt dadurch, dafs man die Befestigung dieser Wände an die
Periorbita feststellt. Da aber eine Übereinstimmung bis ins Einzelne nicht
in allen Fällen existirt, so schildere ich zwei Fälle, durch deren Ver-
gleich erkannt werden kann, was an den Befunden das Wesentliche und
Typische ist.
In dem einen Falle haben wir eine vordere, untere und obere Wand,
die hintere fehlt, d. h. der Recessus steht hier, also nach hinten hin, offen, er
hängt nach hinten mit dem extramusculären Räume zusammen. Die vor-
5*
36 H. ViRCHOw:
dere Wand wird gebildet durch den schon mehrfach erwähnten Sehnen-
zipfel der vorderen Levator- Ausbreitung, welcher sich in einer Höhe von
9°*°* am Knochen befestigt. Die obere Wand wird gebildet durch einen
platten Streifen von 3™5 Breite, dessen hinterer Rand 7"" hinter dem
Orbitaleingang liegt; die untere Wand durch einen der Hauptsache nach
horizontalen Streifen von 5"" Breite (in sagittaler Richtung). Von diesen
drei Streifen sind der vordere, d. h. der Sehnenzipfel des Levator und der
untere, den ich »Ligamentum capsulare laterale inferius« nennen
will, an der vorderen unteren Ecke des Recessus verbunden, so daß? der
letztere dadurch an dieser Stelle geschlossen ist; der obere oder »Liga-
mentum capsulare laterale superius« dagegen ist weder mit dem obem
Rande des Sehnenzipfels noch mit dem hintern Rande des untern Streifens
verbunden, so dals sich in der Wand des Recessus zwei Lücken befinden,
eine obere und die schon erwähnte hintere. Durch die obere dieser beiden
Lücken geht die Verbindung der orbitalen Thränendrüse mit dem
conjunctivalen Drüsenkörper hindurch, die hintere Lücke entspricht
annähernd, wenn auch nicht ganz genau, der Höhe des Rectus late-
ralis. Die beiden »Kapselbänder« stellen, wie ihr Name ausdrückt, eine
Verbindung zwischen der Orbitalwand und der Kapsel her, indem das
obere zum oberen lateralen, das untere zum unteren lateralen Qua-
dranten der letzteren -i^eht. Will man sie, dem Merkerschen Schema
entsprechend, als »Fascienzipfel« auffassen, so würden sie dem Rectus su-
perior und inferior zuzusprechen sein. Zum Rectus lateralis dagegen dürfen
sie in keine so nahe Beziehung gebracht werden, wie in dem Ausdruck
»Fascienzipfel des Rectus lateralis« gesagt sein würde. Ein Fascienzipfel
dieses Muskels findet sich in dem beschriebenen Falle , den ich für typisch
halte, nicht vor. Der in solcher Gestalt umschlossene Recessus der unteren
Thränendrüse hat sowohl in horizontaler wie in senkrechter Richtung einen
Durchmesser von 4™5.
In dem zweiten Falle, den ich beschreiben möchte, gleicht die vordere
Wand des Recessus, indem sie von dem am Knochenansatz 8"T5 hohen
Sehnenzipfel der vorderen Levator -Ausbreitung gebildet wird, genau der
erstbeschriebenen Form; dagegen finden sich hier von Kapselbändern
nicht zwei, sondern nur eines, nämlich ein unteres. Die Ansatzlinie des
Levator -Zipfels am Knochen verläuft gebogen, entsprechend der Wölbung
des Muskels selber, so dafs das untere Stück derselben senkrecht steht,
Tiber Tenon^ sehen Raum und Tenorische Kapsel 37
das obere sich rückwärts biegt. Die Ansatzlinie des Kapselbandes verläuft
gleichfalls gebogen, indem das vordere StQck horizontal liegt, das hintere
aufsteigt. Diese Linie hat eine Länge von S"™, d. h, ihr hinteres Ende liegt
8"^ hinter dem Orbitaleingange. Der Recessus ist hier nicht kreisförmig,
sondern elliptisch begrenzt; sein längerer Durchmesser, gleich 5"", steht
schief, so dafs das untere Ende desselben vom unten an der Vereinigung
der Kanten des Levator- Zipfels und des Kapselbandes gelegen ist. Der
kürzere Durchmesser mifst 3"*"*. Die ZugangsOfihung findet sich zwischen
dem hintern Rande des Levator- Zipfels und dem obem Rande des Kapsel-
bandes in einer Breite von 3"°, auf- und rückwärts gewendet, und ist durch
einen schmalen fibrösen Streifen in einen vordem und hintern Ab-
schnitt getheilt , von denen der vordere die Verbindung zwischen der oberen
und unteren Thränendrüse , der hintere ein Fettläppchen enthält. Die Breite
des Kapselbandes, d. h. der Abstand der Kapsel vom Knochen, beträgt 2"°".
Der Boden des beschriebenen Recessus, durch das untere Kapsel-
band gebildet, stand im letzten Falle in der Höhe des lateralen Lidwinkels,
im vorhergehenden Falle 3"" tiefer.
IL Übersieht über die im Vorausgehenden gesehilderten Kapselbefesti-
gongen, Sehnenzipfeli Fascienzipfel und abirrenden MuskelbündeL
Ich will in diesem Abschnitt noch einmal eine Übersicht derjenigen
Formationen geben, welche eine Verbindung der Kapsel mit Th eilen des
Orbitaleinganges vermitteln, sowie derjenigen Formationen, welche eine
ähnliche Anordnung haben.
Ich hoffe, dafe die Tendenz meiner Betrachtung durch die vorausgehen-
den Seiten klar geworden ist. Da die bindegewebigen Platten und Stränge,
welche im Orbitaleingange ausgespannt sind, vielfach unter einander zu-
sammenhängen, so ist es schwer zu entscheiden, welche von ihnen einen
Anspruch auf besondere Bezeichnungen haben, und wie sie zu begrenzen
sind. Es ist wenigstens auf den ersten Blick schwer, und mich hat die
Präparation dieses kleinen Gebietes Wochen concentrirter Arbeit gekostet.
Unter solchen Umständen ist es begreiflich, dafe die Autoren, welche über
diese Fragen geschrieben haben, besonders die Verfasser von Lehrbüchern,
einen bestimmten Gesichtspunkt, einen Begriff, einen Ausdruck creirt haben,
38 H. ViRCHOw:
dem sich nach ihrer Meinung das Einzelne am besten unterwerfen liefs.
Dafs man bei diesem Bestreben zu verschiedenen Auffassungen kommen,
dafs man die Beleuchtung von verschiedenen Seiten nehmen konnte, be-
weist das Beispiel der französischen Autoren einerseits, mit Sappey an
der Spitze, bei denen wir von »Kapsel -Fortsätzen«, Prolongements erster
und zweiter Ordnung hören; das Beispiel von Merkel, und ihm folgend
Schwalbe, andererseits, bei denen die gleichen Verbindungen als »Fascien-
zipfel« auftreten; Sappey greift die Sache von vorn her an, indem er
von der Kapsel ausgeht, Merkel dagegen kommt von hinten, indem er
die Muskelfascien in den Vordergrund stellt.
Ich weiche von beiden wesentlich ab. Ich sage nicht, dafs ich prin-
cipiell abweiche. Ich betrachte vielmehr manche der Verbindungen als Fort-
sätze, ja als T heile der Kapsel, imd ich finde ebenso das Streben be-
rechtigt, den Faserzügen innerhalb der Kapsel nachzuspüren, welche als
Ausstrahlungen von Muskelscheiden aufgefafst werden können, aber
ich finde es nicht angemessen, die ganze Betrachtung dem einen oder dem
andern dieser Gesichtspunkte unterzuordnen. Ich gehe darauf aus, die
einzelnen in Betracht kommenden Gebilde in ihren Längen, Dicken, Breiten,
Resistenzen, Faserrichtungen, Verbindungen in ihrer Abhängigkeit und Selb-
ständigkeit zu definiren und abzuwägen, und damit eine Basis zu gewinnen,
von der aus sich die Mikromechanik der Bulbus -Auf hängung imd Bulbus-
Bewegung, ebenso wie die Lidbewegung, besser, d. h. nicht schattenhaft,
sondern körperlich, verstehen läfst.
Der hier aufzuführenden Gebilde gibt es acht.
1. Der Zipfel der (oberen) Fascie des Levator. Es ist dieXs ein
wirklicher » Fascienzipf el « , allerdings auch der einzige, der diese Bezeich-
nung voll verdient. Er biegt aus der Richtung der Fascie selbst nach vom
ab und befestigt sich oberhalb der Trochlea am Augenhöhlenrande bez. an
dem periostalen Randstreifen. Er ist entweder mit der Trochlea -Verbin-
dung der Kapsel verwachsen oder von dieser frei.
2. Das Fascien-Bündel des Levator. Ein winziges Muskelbündel
djes l-icvator, vom medialen Rande des Muskels , lateral von der Sehne des
Obliquus superior, nach vom abbiegend und von unten her in den Fascien-
zipfel eintretend; inconstant.
3. Das abgetrennte mediale Bündel des Levator. Ein etwa
2"°* breites Bündel des Levator, weiter hinten vom medialen Rande des
Über Tenon' sehen Raum und Tenon'sche Kapsel 39
Muskels abgehend, medianwärts divergirend, jedoch die Flächenkrümmung
des Muskels einhaltend, an der medialen Seite der Obliquus- Sehne abwärts
gewendet, wo es sich im lockern Bindegewebe oberhalb des Horner'schen
Muskels verliert; inconstant.
4. Die Kapsel-Umhüllung der Sehne des Obliquus superior.
Wird gebildet durch den obem medialen Quadranten der Tenon 'sehen
Kapsel , welche hier bis an den distalen Rand der Trochlea heranreicht und
mit diesem verbunden ist; liefert mittels mehrerer trichterförmiger oder röh-
renförmiger, z. Th. in einander steckender Lagen eine Scheide für die Sehne
des Obliquus superior, in welcher jedoch letztere nicht vollkommen frei liegt.
5. Der Sehnenzipfel der vorderen Levator-Ausbreitung.
Durch den verstärkten vordem lateralen Randtheil der vorderen bez. oberen
Levator-Ausbreitung gebildet, an der lateralen Orbitalwand in einer Länge
von 9"" von der Höhe des lateralen Lid winkeis an aufwärts angeheftet, mit
dem Septum superius entweder bis an den Knochen heran verbunden, oder
von ihm am lateralen Ende durch ein kleines abwärts führendes Loch ge-
schieden. Die Befestigungslinie am Knochen steht unten senkrecht und ist
oben rückwärts gebogen; der untere Rand des Zipfels ist mit dem vordem
Rande des Ligamentum capsulare laterale inferius verbunden; der obere, zu-
gleich hintere Rand ist frei, auf ihm reitet die orbitale Thränendrüse. Der
Zipfel scheidet den Recessus der oberen von dem der unteren Thränen-
drüse. Ein lateraler Fascienzipfel der Levator-Fascie, der sich mit dem
Sehnenzipfel verbindet, kann vorkommen, aber auch fehlen.
6. Ligamenta capsularia lateralia. Ein unteres derartiges Band
ist constant , ein oberes inconstant. Das untere steht der Hauptsache nach
horizontal, bald in der Höhe des lateralen Lidwinkels, bald etwas tiefer,
und bildet den Boden des Recessus der unteren Thränendrüse. Es hat in
querer Richtung, d. h. von der Kapsel bis an den Knochen, eine Ausdehnung
von 2*°", in sagittaler Richtung eine solche von 5 — 8""*. Der vordere Rand
ist mit dem untern Rande des Levator -Zipfels verbunden, der hintere Rand
ist frei.
Das obere Band, wenn vorhanden, ist sowohl am vordem wie hin-
tern Rande frei; es stellt eine Verbindung des zwischen Rectus lateralis
und Rectus superior gelegenen Kapselabschnittes mit dem Knochen dar
und zieht ab-, vor- und lateral wärts , so dafs es sowohl zu der Fläche wie
zu der Achse des Rectus lateralis schief gerichtet ist.
40 H. ViRCHOw:
7. Das mediale Polster der Tenon'schen Kapsel. Stellt eine
in querer (horizontaler) Richtung 4™", in sagittaler Richtung 7"" messende
Verdickung der Kapsel an der medialen Seite des Rectus medialis dar, durch
welche die Kapsel an derFascie des Hörn er 'sehen Muskels sowie am Boden
und an den Seitenrändern des Thränensees fixirt wird. Es ist diels keine
directe Wandbefestigung, sondern diese wird erst erreicht durch das Liga-
mentum palpebrale mediale sowie den Homer 'sehen Muskel.
8. Die Verbindung der accessorischen Fascie des Rectus
inferior mit der Scheide des Obliquus inferior sowie mit der
septalen Brücke des untern Lides. Die accessorische Fascie des Rec-
tus inferior, nach vorn zu ausgebreitet, verbindet sich in ihrer medialen
Hälfte mit der Scheide des Obliquus inferior und durch Vermittelung der-
selben mit dem die vordere E^nte der Obliquus -Scheide eimiehmenden me-
dialen Schenkel der septalen Brücke , in der -lateralen Hälfte direct mit dem
lateralen Schenkel der letzteren. Sie ist dadurch gegen zwei symmetrisch
gelegene Punkte des untern Augenhöhlenrandes fixirt; doch ist von einer Ver-
bindung der Fascie mit dem Knochen durch Sehnenzipfel nicht zu sprechen,
weil diese Verbindung nur mittelbar ist.
12. Locale unterschiede im Gewebe des Tenon'sehen Raumes.
Ich habe Eingangs daran erinnert, dafs der Tenon'sche Raum in allen
Theilen durch ein gerüstartiges Gewebe ausgefüllt ist, und habe hinzuge-
fugt, dafs in diesem Gewebe locale Unterschiede, und zwar typische Unter-
schiede, vorhanden sind. Diese typischen localen Unterschiede her-
vorzuheben, ist nicht nur berechtigt, sondern noth wendig, wenn man die
Feinmechanik der Kapsel, der Augenmuskeln und der Bulbus -Bewegung
richtig beurtheilen will.
Ich unterscheide drei Modificationen, bez. drei Dichtigkeitsgrade.
Es ist wohl selbstverständlich, dafs Übergänge bestehen, aber die lo-
calen Unterschiede sind nichtsdestoweniger deutlich und typisch.
Ich bezeichne die drei Modificationen als »lockere oder weitmaschige«,
als »dichte oder engmaschige« und als »dichteste« Modification.
I. Die lockere Modification findet sich an den Innenfl&chen
der Sehnen der Recti, zwischen ihnen und der Sclera. Es ist dabei
zu berücksichtigen, dafs diese Sehnen der Sclera flach aufliegen, so da6,
Tiber Tenori sehen Baum und Tenon^sche Kapsel 41
wenn man das thatsftcbliche Verhältnifs in einer Zeichnung richtig wieder-
geben Willy ein Spalt überhaupt nicht dargestellt werden kann. Trotzdem
besteht ein solcher, und in ihm findet sich das erwShnte zarte Gewebe.
Dasselbe kann jedoch unter den gegebenen Verhältnissen keine RoUe spielen,
und im mechanischen Sinne dürfen wir daher die betreffenden Abschnitte
des Ten on 'sehen Raumes als »leer« betrachten. Wir können sie vergleichen
mit den Schleimbeuteln , welche sich an einigen Stellen des Skelets dort
finden y wo Sehnen schief an Knochen treten; Beispiele sind die Bursae am
Radiusansatz der Bicepssehne, am Galcaneusansatz der Achillessehne, am
Tibia-Ansatz des Ligamentiun patellae inferius.
Gleichfalls locker ist das Gewebe an der inneren (medialen) Seite
des Ansatzes des Obliquus inferior, zwischen diesem und der Sclera;
ebenso innerhalb der Kapselscheide der Sehne des Obliquus superior
an der oberen Seite der letzteren.
2. Die dichte Modification findet sich an vier Stellen: erstens am
vordem und hintern Ende des Tenon'schen Raumes, dort am
Limbus der Cornea, hier am Sehnerveneintritt; zweitens in den Kapselab-
schnitten der Muskelscheiden; drittens innerhalb der ganzen Scheide
des Obliquus inferior; viertens an der Aufsenfläche der Sehnen der
Recti, zwischen ihnen und der Kapsel. Bei letzteren schien es mir, dafs
das Gewebe neben dem Rectus lateralis besonders dicht sei, dichter als
bei den anderen Recti. Allerdings handelt es sich hier um so grofse Fein-
heiten, dafs Zufälligkeiten in der Erhaltung des Präparates und in dem tem-
porären Aufmerksamkeit^grade des Präparirenden das XJrtheil beeinflussen
können; doch würde ich angesichts des Umstandes, dafs auch die Kapsel
an der lateralen Seite locale Eigenthümlichkeiten zeigt (s. oben) , die er-
wähnte Beobachtung nicht von vom herein fÖr bedeutungslos halten.
3. Die dichteste Modification ist zugleich ausgezeichnet durch
plattenartige Anordnung; d. h. die betreffenden Stellen sind nicht strang-
f&rmig oder kugelig, sondern membranartig, nicht ein- oder dreidimensional,
sondern zweidimensional. Solche plattenartige Stellen können sogar wirk-
liche Membranen sein, und man kann dann für die gleiche Thatsache einen
zwiefachen Ausdruck wählen, nämlich entweder: das Gewebe wird so dicht,
dals die Lücken verschwinden und eine Membran zu Stande kommt, oder
eine Membran springt ins Innere des Tenon'schen Raumes vor. Die letztere
Ausdrucks weise ist durchaus berechtigt; nur ist immer festzuhalten, dafs
Phys. Äbh. nicht zur Akad, gehör. Gelehrter. 1902. IV. 6
42 H. ViRCHow:
sowohl die plattenartigen Abschnitte des Gerüstgewebes , wie die Membranen
nicht frei sind, weder an ihren Flächen noch an ihren Rändern. An den
Flächen sind sie mit weniger dichtem Gerüst werk verbunden und an den
Rändern lockern sie sich in solches auf. Ich sage nicht: sie »fasern sich
auf«, sondern sie »lockern sich auf«, da es ja »äuseriges Gewebe« im Xe-
non'sehen Räume nicht gibt.
Die Feststellung dieser Thatsachen erfordert eine gesteigerte Sorgfalt
von Seiten des Untersuchenden, sie ist geradezu mit einer gewissen An-
strengung der Aufinerksamkeit verbunden. Ein voreiliger Schnitt oder selbst
ein xmbedachter Zug muls die zarteren Theile des Gewebes zerstören, und
dann erhält man thatsächlich freie Ränder, aber Ränder, die vorher nicht
da waren ; und indem die zerrissenen Bälkchen zusammenschnurren , entsteht
eine »Membran« , wo vorher eine »plattenförmige Anordnung« existirte.
Wenn Merkel in der ersten Auflage des Handbuches von Gräfe und Sä-
misch die »zarten Bindegewebsbündel« des Tenon*schen Raumes fiir »so
locker und dehnbar« erklärt, dais es leicht sei, die Kapsel »in grofser Aus-
dehnung aufzublasen « \ so muis man doch, wie ich glaube, hier für »locker
und dehnbar« einsetzen: »zart und zerreifslich « . Das Verfahren des Auf-
blasens in Ehren ! Aber dieses Verfahren , welches fÄr viele Demonstrationen
so werthvoll ist, mufs mit Vorsicht verwendet werden; diese Methode, der
die ältere Anatomie die &lsche Vorstellung des »Petit*schen Kanals« als
eines leeren, von geschlossenen Wänden begrenzten E^anals, und der die
ältere Histiologie den falschen Begriff des »Unterhautzellgewebes« verdankte,
ist ebenso wenig, wie in diesen beiden Fallen, bei dem Xenon 'sehen Räume
geeignet , über die Natur und Anordnung des ihn ftülenden Gewebes auf-
zuklären.
Wenn es nun auch angesichts der Feinheit der in Betracht kommen-
den Verhältnisse manchmal nicht leicht ist, zu entscheiden, ob wir eine Mem-
bran oder plattenfbrmiges Gerüstwerk vor uns haben, bez. an welcher Stelle
eine Membran in plattenartiges G^rüstwerk übergeht, so kommt darauf fOr
die mechanische Vorstellung nichts an.
Ich führe nun die in Betracht kommenden Gebilde vor.
Zunächst die Adminicula der Sehnen der vier Recti. Nach
meiner Meinung sind dieselben im wesentlichen gerüstartig, können jedoch
^ Merkel, Fr. Makroskopische Anatomie in: Handbuch der gesammten Augenheil-
kunde I. Bd. Leipzig 1874. S. 57.
•• ^^
über Tenan'schen Raum und Tenon'sche Kapsel. 43
z. Th. wirkliche Membranen sein. Ich übernehme den Ausdruck von
Merkels weiche jedoch hinsichtlich des Tliatsächlichen darin ab, da(b diese
an den Rändern der Sehnen befestigten Bildungen nicht nur zum Bulbus
ziehen, sondern sich ganz ebenso gut auch an der Kapsel befestigen.
In die gleiche Kategorie gehört das hintere Adminiculum der Sehne
des Obliquus superior. Dieüs ist eine wirkliche Membran, welche vom
hintern Rande der Sehne an die. Kapsel tritt.
Femer sind zu nennen die Verlängerungen der (inneren) Lippen
der Kapselschlitze fQr die Recti. Gleich&Us Membranen, welche die
Innenflächen der Sehnen in der hinteren Hälfte des Abstandes zwischen dem
Kapselschlitz und dem Ansatz an die Sclera begleiten. Der vordere Rand
lockert sich ziemlich unvermittelt auf, indem ja gerade hier, wie vorhin
gesagt, die zarteste Modification des Gewebes anschlieüst. Somit finden wir
an den Innenseiten der Sehnen der Recti die beiden Extreme
des Grewebes des Tenon'schen Raumes: in der hinteren Hälfte des Abstandes
zwischen Schlitzlippe und Sclera eine membranartige Bildung, in der vor-
deren Hälfte die lockere Formation in ihrer äulsersten Steigerung. Bei
unachtsamer Präparation kann es vorkommen , dafs man die membranartigen
Verlängerungen der Schlitzlippen bis an die Sclera fortgeftlhrt denkt, und
dals man auf Grund davon »Sehnenscheiden« annimmt, welche als Fort-
setzungen der Muskelscheiden durch den Tenon'schen Raum hindurch bis
an die Sclera reichen, wie solche in verschiedenen Lehrbüchern, z. B. bei
Testut*, filschlich beschrieben werden. Diese »Sehnenscheiden« sind schon
an sich nicht mit dem Begriff der »Adminicula« im Merkel'schen Sinne
vereinbar. Denn wenn die Sehnen von Sehnenscheiden eingehüllt wären,
so konnten sich an sie keine Adminicula ansetzen; die Adminicula könnten
dann keine Adminicula tendinum, sondern höchstens »Adminicula vaginarum
tendinum« sein. Die Unvereinbarkeit dieser beiden Lehrbuch - Begriffe hat
mir, und vielleicht auch manchem Andern, harte Stunden des Nachdenkens
bereitet. Nach meinen Erfahrungen, die in der vorausgehenden Darstellung
niedergelegt sind, liegt sowohl den »Sehnenscheiden« wie den »Adminicula«
etwas Positives zu Grunde, nur ist dieses »etwas« aus dem Zusammen-
hange herausgerissen und dann in schematischer Weise zu einer zu grofsen
^ Merkel und Kallius a.a.O. S. 73.
* A. a. O. Fig. 1 1 29 auf S. 203.
6*
44 H. ViBCHOw:
Selbständigkeit gebracht, so dafis beide Bestandtheile nicht mehr neben ein-
ander möglich sind, w&hrend in Wahrheit beide Bildungen mit einander vor-
kommen.
Endlich ist eine Verlängerung der Scheide des Obliquus in-
ferior bis zur Sclera zu nennen; und zwar liegt diese Verlängerung am
vordem Rande des Muskels. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie dieser
Muskel sich mit dem Rectus lateralis Iqpeuzt, so wird verständlich sein,
dafs diese Verlängerung zugleich mit der inneren Lippe des Eapselschlitzes
för den Rectus zusammenhängt, und dais daher erwogen werden kann, ob
es sich nicht um eine Verlängerung dieser Lippe bis an die Sclera han-
dele. Dafs das aber nicht der Fall ist, geht daraus hervor, daJ& dieses
Blatt sich an der Sclera 7"" hinter der Rectus -Sehne, unmittelbar am vor-
dem Rande des Obliquus inferior befestigt. Diese Verlängerung findet sich
jedoch nur am Rande des Muskels und umgibt nicht seinen Ansatz, so
dals nach oben hin der Scheidenraum mit dem Tenon'schen Raiune in
Verbindtmg steht.
Über Tenon^schen Baum und Tenorische Kapsel. 45
Erkl&nmg der Figuren.
Tafel I.
Fig. I. Schema des mittlem Sagittalschnittes durch den Bulbus und seine Umgebung
bei dreimaliger Vergröfserung.
Ca Tenon'sche Kapsel.
Co Scheidenverbindung des Rectus.
F. L (obere) Fascie des Levator.
Fo, t. unterer )
„ , l Fomix conjunctivae mit dem vordem £^de der Kapsel.
Fo,s. oberer ) ** '^
F, r. accessorische Fascie des Rectus inferior.
L. Levator.
L, a. vordere oder obere ) ^ , . - -
r , . ^ j ^ i Ausbreitunir des Levator.
L.p, hmtere oder untere ) ^^
Ob. Obliquus inferior.
Or Dach der Orbita.
Pa. subtarsales Bindegewebe des untern Lides.
Pß. periostaler Randstreifen.
R. i. Rectus inferior.
R. 8. Rectus superior.
£> Sclera.
S. s. Septum superius.
V. c Kapseltheil ) , w i i u • j
Tr ^ t:* ' xi- -1 } der Muskelscheide.
V./. Fascientheil )
V. o. Duralscheide des Sehnerven.
Fig. 2. Vorderes Stück eines der Recti von der Aufsenfläche gesehen.
V Bündel des Muskels zur Scheidenverbindung.
Fig. 3. Schema eines Frontalschnittes durch den hintern Theil des Bulbus und
seine Umgebung.
G. Tenon'sche Kapsel.
K. Verbindung zwischen den Kapselscheiden des Rectus superior und Rectus
lateralis durch einen rückwärts gerichteten Fortsatz der Kapsel.
A"' gedachte, aber nicht deutlich vorhandene, ringförmige Ergänzung von K,
46 H. ViRCHOw:
R» Recessus des intramiisculären Raumes, welcher durch K nach der Seite
begrenzt wird.
R. L Rectus lateralis.
R, s. Rectus superior.
S Sclera.
T Ten on 'scher Raum.
V, Kapseltheil der Scheide des Rectus latei-alis.
Flg. 4. Sehne des Obliquus superior.
Ä hinteres Adminiculum zur Kapsel.
c. der von der Kapsel eingeschlossene ) ^, , . _ ^ .
, . ^ f i_ » 1. j } Abschnitt der Sehne.
t der im Xenon sehen Raum hegende)
S Sclera - Streifen .
T Trochlea.
Tafel IL
Fig. 5. Schema eines Horizontalschnittes durch den Bulbus und seine Umgebung bei
dreimaliger Vergrofserung.
Ca Ten on 'sehe Kapsel.
Ca. L lateraler, in zwei Lagen gespaltener Theil der Kapsel.
Co Scheidenverbindung des Rectus medialis.
Cr Caruncula lacrimalis.
F.h, Fascie des Hörn er 'sehen Muskels bez. Abschnitt des medialen Septum
orbitale.
JT. Hörn er 'scher Muskel.
L.a unterer Rand der vorderen oder oberen Levator-Ausbreitunc:, zugleich
Verbindungslinie dieser mit dem Septum orbitale superius, nach hinten
mit L, L zusammenhängend.
L.p unterer Rand der hinteren oder unteren Levator- Ausbreitung bez. Liga-
mentum laterale tarsi superioris.
L, l Ligamentum capsulare laterale inferius.
L. m. Ligamentum palpebrale mediale.
0. / laterale ) „_ . . _. , .
/^ j« 1 J Wand der Orbita.
O. m. mediale )
p, Fixationsstreifen von der Orbital wand zum Polster (im Text nicht erwähnt).
Pa.8, Rand des obern Lides, von Haut bekleidet.
Fl Plica conjunctivalis.
i\i. mediales Polster der Kapsel.
S Sclera.
F. c, Kapseltheil der Muskelscheide.
V.f Fascientheil der Muskelscheide.
F. o D uralscheide des Sehnerven.
Fig. 6. Schema eines Frontalschnittes durch den Bulbus vor dem Aequator und
die Umgebung.
A Adminiculum tendinis.
Ca. Tenon'sche Kapsel.
über Tenon^scken Bavm und Tenon'sche Kapsel. 47
CA. Chorioides.
d. dichte )
. 1 Ir 1 ^odification des Gewebes im Tenon'^chen Raum.
S Sclera.
T Rectus- Sehne.
Fig. 7. Stück eines meridionalen, zwischen die Sehnen zweier Recti fallenden Schnittes
durch den Tenon 'sehen Raum.
A Adminiculum.
C Innenfläche der Ten on 'sehen Kapsel.
S Sclera.
T. Tenon 'scher Raum.
48 H. ViRCHO w : Über Tenon'schen Raum und Tenorische Kapsel.
Inhalt.
Seite
I. Das Gewebe des Ten on 'sehen Raumes 5
3. Die Ten on 'sehe Kapsel 6
3. Der supravaginale Raum B
4. Die Kapselschlitze 9
5. Beziehungen der Kapsel zu den hinterliegenden Theilen 10
6. Der blättrige Bau der Kapsel 14
7. Fascie des Hörn er 'sehen Muskels; Septum orbitale ... 19
8. Levator palpebrae superioris; Ausbreitungen und Fascie desselben, Fascienzipfel,
Sehnenzipfel, abgelöste Bündel 22
9. Die accessorische Fascie des Rectus inferior und die septale Brücke des untern
Lides 29
10. Befestigung der Ten on 'sehen Kapsel in der Gegend des medialen und lateralen
Lidwinkels 31
11. Übersicht über die im Vorausgehenden geschilderten Kapselbefestigungen, Sehnen-
zipfel, Fascienzipfel und abirrende Muskelbündel 37
12. Locale Unterschiede im Gewebe des Tenon 'sehen Raumes . 40
K. Prm/s. Akad. d. Wuteiuch.
Fig.1.
Anhang s. d. Abh. 1902. Fhyt.-fna&, CL
Im,
^
Fig.3.
Fi0.z.
Fig. f.
JC.
.a.i.
E Vlrohow: Ober Tenoo'schen Baom und Tenon'ache Kapsel.
K. PrMf/s. Atad. d. Witwueh.
Fi^.5.
An/lang i. d AbA. 1902, Fh^.-tHoA. a.
J,
F.Jl.-
ftt.
p.
Om.
,01., t.
-O.l
Ftg.6.
Tig.7.
E Virehow: Ober Tenon'aoheQ Baam imd Tenon'sohe E^seL
TBf.IL
über den Einflufe ferbigea Lichte auf die Färbung
lebender Oscillarien.
Von
N. GAIDUKOV.
i%y». Mh, niehi tmr Akad. gehär. Geirrter. 1902. V.
Gelesen in der Sitzung der phys.-math. Classe am 31. Juli 1902
[Sitzungsberichte St. XL. S. 927].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 10. December 1902.
L Einleitimg.
JUie Aufgabe der folgenden Untersuchung, welche ich auf Anregung von
Hrn. Prof. Engelmann im Physiologischen Institut zu Berlin ausgeführt
habe, war, zu prüfen, ob durch Einwirkung farbigen Lichts auf lebende
chromophyllhaltige Pflanzen eine zweckm&£sige Änderung der F&rbung des
Chromophylls zu erhalten sei. Unter zweckmalsig wird hier eine die Kohlen-
Stoffassimilation begünstigende Änderung verstanden, d.h. eine solche in
complementärem Sinne zu der Farbe des einwirkenden Lichtes.
Durch die mittels der Bakterienmethode im Mikrospectrum von Hm.
Engelmann angestellten Messungen hatte sich gezeigt \ dals im allge-
meinen Licht von zu der des betreffenden Chromophylls complementärer
Farbe die Sauerstofiausscheidung am günstigsten beeinflulst. Für grüne
Zellen war das rothe Licht, fiir rothe das grüne, fär blaugrüne das gelbe,
för gelbe das blaugrüne Licht relativ am wirksamsten. Der Zusammenhang
zwischen Wellenlänge des Lichts und Lichtabsorption durch den Farbstoff
war dann mittels des zu diesem Zweck gebauten Mikrospectralphotometers an
den verschiedenen farbigen lebenden Zellen quantitativ festgestellt worden*
und es hatte sich ergeben, dafs zwischen assimilatorischer Wirkung und
Absorption eines Lichts von beliebiger Brechbarkeit innerhalb weiter Grenzen
der Wellenlängen eine strenge, directe Proportionalität besteht, derart, dafe
es sogar gelang, unter Voraussetzimg dieser Proportionalität die Curve der
^ T h. W. Engelmann, Farbe und Assimilation. Botanische Zeitung 1 883, Nr. i , S. 2 . —
Siehe auch Archives neerland. T. XVIII. 1883, p. 29.
' Derselbe, Untersuchungen über die quantitativen Beziehungen zwischen Absorption
des Lichtes und Assimilation in PÜanzenzellen. Botanische Zeitung 1884, Nr. 6 und 7. —
.Siehe auch Archives neerland. T. XIX. 1884, p. 186.
1*
4 N. Gaidükov:
Vertheilung der Energie im Spectrum des Sonnen-, Gas- und elektrischen
Glühlicht« aus den an den verschiedenfarbigen Zellen eingestellten Messungen
der Assimilationsenergie und der Absorptionsgröfse in objectiv gültiger Weise
wenigstens för einen grofsen Theil des sichtbaren Spectrums zu berechnen.
Aus der somit festgestellten Thatsache, dafs bei jeder beliebig gef&rbten
lebenden ZeUe im allgemeinen nur die Menge der absorbirten strahlenden
Energie des Lichts die assimilatorische Wirkung bestimmt, folgte zunächst
der wichtige Schlufs, dafs das Vermögen, im Lichte CO, zu zerlegen, nicht,
wie bis dahin allgemein angenommen war, ausschliefslich dem grünen Farb-
stoff, dem Chlorophyll, zukomme, sondern ebenso gut jenen anderen, welche,
meist mit Chlorophyll gemischt oder verbunden, die von der grünen ab-
weichende Färbung der assimilirenden Organe der gelben, rothen, blau-
grünen u. s. w. Zellen bedingen. Das Chlorophyll war also nur ein be-
sonderer, allerdings der am weitesten verbreitete Fall aus einer grolsen Gruppe
von Farbstoffen gleicher physiologischer Function, und es war deshalb ge-
boten, alle diese Stoffe unter einem gemeinschaftlichen Namen, nach Hm.
Engelmann 's Vorschlag »ChromophyU«, zusammenzu&ssen. Denselben
konnte später noch das durch seine starke Absorption der ultrarothen Strahlen
(etwa zwischen X = o.8o und 0.90 /i) ausgezeichnete Bakteriopurpurin an-
gereiht werden.^
Es war durch Hrn. Engelmann weiter gezeigt worden, dafs aus der
aufgedeckten Gesetzmäfsigkeit die seit lange bekannten, die Tiefenvertheilung
verschiedenfarbiger Pflanzen im Meere betreffenden Thatsachen verständlich
werden. Er äufserte sich hierüber folgendermaßen^:
»Wie bekannt, herrschen in gröfseren Tiefen, wie überhaupt an solchen
Orten, zu denen das Licht nur durch eine sehr lange Schicht Seewasser
gelangen kann (blaue Grotten) , rothe Formen vor, während die grünen schon
in sehr mä&iger Tiefe völlig zu verschwinden pflegen. Oersted^ wollte ja
sogar vier durch die verschiedene Färbung der Pflanzen (und Thiere) charak-
terisirte Tiefenregionen unterscheiden: eine oberste (litorale) der grünen, eine
zweite der braunen, eine dritte der rothen Pflanzen und Thiere, und eine vierte.
^ Th. W. Engelmann, Über Bakteriopurpurin und seine physiologische Bedeutung.
Pfluger's Archiv Bd. 42. 1888, S. 183. — Die Purpurbakterien und ihre Beziehungen zum
Lichte. Botanische Zeitung 1888, Nr. 42 — 45. Siehe auch Arch. neerl. T. XXUI. 1889, p. 151.
* Botanische Zeitung 1883, Nr. 2.
' A.J. Oersted, De regionibus marinis. Elementa topogr.etc. Diss.Inaug. Uauniaei844.
• •
Über den Einflufs farbigen Lichts auf die Färbung lebender Oscillarien. 5
tiefste, pflanzenfreie der weifeen Thiere. Wenn nun auch solche Eintheilung
sich keineswegs streng hat durchföhren lassen, so enthält sie doch ein
gut Theü Wahrheit. Im besondern bestätigen alle neueren Beobachter die
Beschränkung der grünen Formen auf die oberflächlichen, das Vorherrschen
der rothen in den tieferen und tiefsten Schichten. So bemerkt G. Berthold
in seiner soeben erschienenen wichtigen Studie über die Vertheilung der
Algen im Golfe von Neapel \ »dafs die Vegetation der beschatteten Fels-
wände, der Grotten und ebenso die der gröfseren Tiefen schon durch ihre
rothe Färbung einen besondem eigenthümlichen Charakter erhält«. Er ist
aber geneigt, wie auch andere vor ihm, den etwaigen Einflufs des Lichts
wesentlich nur der verschiedenen Intensität desselben zuzuschreiben.
»Offenbar aber ändert sich, wie ja schon der blofse Anblick imgleich
tiefer Meeresstellen ergibt, mit der Dicke der Wasserschicht, die das Licht
durchläuft, nicht nur die Intensität, sondern auch die Qualität des Lichtes.
Schon in mälsig dicker Schicht erscheint das Wasser grün bez. blaugrün.
In diesen Tiefen haben also die grünen und blaugrünen Strahlen eine relativ
gröfsere, die rothen und gelben eine relativ geringere Energie als im ur-
sprünglichen Licht. Da nun gerade die rothen Strahlen fiir die Assimilation
grüner Zellen das meiste leisten, die grünen nur wenig, so müssen sich die
grün gefärbten Pflanzen von diesen mäfsigen Tiefen an im Nachtheil befinden
gegen die roth gefärbten Zellen, in welchen ja umgekehrt gerade die grünen
Strahlen weitaus am energischsten assimilatorisch wirken.«
»Es ist also nur natürlich, dafs in gröfseren Tiefen die rothen Formen
im Kampf ums Dasein überall siegen und ebenso in geringerer Tiefe überall
da, wo das Licht ausschliefslich (blaue Grotten) oder doch zu einem grolsen
Theil (submarine schattige Felsenabhänge) durch längere Wasserschichten hin-
durch die Pflanzen erreicht. Selbstverständlich liegt kein Einwand in der
Thatsache, dafs rothe Formen auch an den oberflächlichen, dem vollen
Licht ausgesetzten Stellen sehr häufig sind, wie andererseits auch das Auf-
finden einer einzelnen grünen Form in gröfserer Tiefe nichts beweisen würde. «
Auch die Folgerung, dafs gelbe Formen im allgemeinen in gröfserer
Tiefe als gi'üne gedeihen werden, wird durch die Thatsache bestätigt.
Auf dem Boden des blaugrünen Genfersees herrschen nach J. A. Forel
gelbe Algen — neben farblosen — durchaus vor und fehlen grüne gänzlich.
Mittheilungen aus der Zoologischen Station zu Neapel. 3. Bd. 1882, S. 415.
6 N. Gaidukov:
Unlängst hat 6. Nadson^ gefunden, dafs gewisse Cyanophyceen- und
Chlorophyceenarten (z. B. Mastigocohus testarum Lagerh., Hydla oaespitasa
Born, et Flah., Ostreöbmm Queketii Born, et Fl ah.), in oberflächlichen
Meeresschichten durch* grüne oder blaugrune, in tiefen durch rothe In-
dividuen vertreten sind, so daJä also die nämliche Art den Forderungen
der Engelmann'schen Theorie entsprechend ihre Färbung ändert, sich den
veränderten optischen Bedingungen anpassen zu können scheint.
IL Plan und Methode der Untersnclumg.
Es erschien unter diesen Umständen nicht nur wünschenswerth , sondern
auch aussichts voll , zu untersuchen, ob nicht auch künstlich durch Cultur-
versuche in verschiedenfarbigem Licht* der Theorie entsprechende Än-
derungen der Chromophyllfärbung sich würden hervorbringen lassen. Die
meiste Aussicht auf positiven Erfolg boten offenbar die durch Verschieden-
heit und Wandelbarkeit der Färbung* ausgezeichneten, dabei sehr niedrig
organisirten , überall verbreiteten und rasch sich vermehrenden OsciUarien.
Meine Versuche wurden hauptsächlich an OscUlaria sancta angestellt,
welche ich aus Gewächshäusern des alten botanischen Gartens in Berlin in
genügender Menge erhielt. Sie bedeckte hier in violettem Lager die Erde
vieler Blumentöpfe. Es wurde solche Erde abgenommen und in Porzellan-
tellem mit etwas Wasserleitungswasser na& gehalten. Nach einigen Tagen
Stehens bei gewöhnlicher Beleuchtung häuften sich die Fäden in der oberen
Schicht an, krochen ebenso in grofser Menge nach dem trockenen Rande
des Tellers. Die neu gebildeten Lager bestanden theils aus violetten, theils
aus blaugrünen Fäden. Letztere bildeten meist durch Zusammenhalten haut-
* G. Nadson, Die perforirenden (kalkbohrenden) Algen und ihre Bedeutung in der
Natur. Scripta botanica Horti Universitatis Petropolitani, p. 15 — 18 (russisch), S. 36 — 37
(deutsch).
^ Schon Fr. Oltmanns (Über die Culturen und Lebensbedingungen der Meeresalgen,
Pringsheim's Jahrbuch, für wissenschaftliche Botanik 23, 1892, S. 424) und G. Klebs
(Die Bedingungen der Fortpflanzung bei einigen Algen und Pilzen, Jena 1896, 8. 104)
cultivirten einige Algen in farbigem Licht, doch ihr Ziel war wesentlich Beobachtung der vom
Licht hervorgebrachten morphologischen Änderungen.
" Ober den Wechsel der Farbe bei Cyanophyceen vergl. Nägeli und Schwendener,
Das Mikroskop, 2. Ausgabe 1877, S.496; P. Richter, Über den Wechsel der Farbe bei einigen
Süfs wasseralgen , insbesondere den OsciUarien (Botanisches Centralblatt 1880, S. 605 — 607).
Über den Emflufs farbigen Lichts auf die Färbung lebender Osciüarien. 7
artige Schichten. Morphologisch stimmten die bis 20/1 dicken violetten
Ffiden mit 0. sancta var. aequinoctialis Gomont^ überein. Die Färbung
variirte von nahezu reinem Violett bis Purpurviolett und Braun- oder Grau-
violett. Die blaugrünen nur bis 14/1 dicken FSden stimmten in ihren
Eigenschaften am meisten mit 0. sancta var. caldariorum Gomont (Hauck)^
überein.
Im Laufe einiger Wochen verschwanden auf einigen Tellern fast alle
blaugrünen, auf anderen fast alle violetten Fäden, so da& man schlieislich
fast reine Culturen von der einen oder der anderen Färbung erhielt. Nach
drei bis vier Wochen pflegten diese Culturen das Maximum der Entwicklung
erreicht zu haben ; die Fäden bildeten dann dicke die Oberfläche überziehende
Lager. Aus diesen Culturen wurden eine Zahl Fäden in Pe tri -Schalen auf
Erde mit Leitungswasser oder auf Agar-Agar mit 0.3 Procent Knop 'scher
Lösung übertragen. Auf Agar-Agar fand die Entwickelung langsamer statt,
hielt aber länger an. Durch wiederholtes Übertragen auf frisches Agar-
Agar konnten nahezu reine Culturen der violetten wie auch der blaugrünen
Formen anscheinend unbegrenzt lange erhalten werden.
Aus oben Gesagtem folgt, da£s unter anscheinend denselben Bedingungen
in dem einen Fall die violette, im andern die blaugrüne Form siegt. Beide
sind auch nach ihrem Habitus gut zu unterscheiden. Ich bezeichne die
violette Form als 0. sancta Kütz. f. violacea mihi und die blaugrüne als 0.
(Xildariorum Hauck f. viridis mihi.
Die Petri-Schalen mit den beiden genannten Nährböden, auf welche
die Fäden aus möglichst reinen Culturen auf Porcellan -Tellern übertragen
wurden, wurden hinter die Lichtfilter gestellt. Alle Culturen befanden sich
in einem grofsen hellen weifsgestrichenen Zimmer im zweiten Stock des
Physiologischen Instituts, auf einem Tische, welcher von dem nach Süden
gerichteten , etwa i " entfernten grofsen Fenster genügendes Tages- und ge-
legentlich directes Sonnenlicht erhielt.
Im Laufe des Juni bis August 1 900 wurden Culturen im gewöhnlichen
(weifsen) Licht und vom November bis October 1901/02 ebensolche im ge-
wöhnlichen und farbigen Licht wiederholt gezogen, und zwar fast immer
mit demselben Erfolge. Im weifsen Lichte siegte öfters 0. sancta j jedoch
prävalirte 0. caldariorum vom Februar bis Mai. Auf der Culturerde mit Lei-
^ M. Gomont, Monographie des Oscillariees (Nostocacees homocystees) , Annales des
sciences naturelles, VII s^rie, Botanique, Paris 16, 1892, p. 146, 147, pl.IV, fig. i — 3.
8 N. GrAIDUKOV:
•
tungswasser giengen die Oscillarien ungefähr nach zwei Monaten zu Grunde,
auf dem Agar-Agar jedoch hielten sie sich, wie schon oben gesagt, an-
scheinend unbegrenzt lange. In den Gewächshäusern (Colonial- und Orchi-
deenhaus), wo diese Oscillarien wuchsen, ist die Temperatur sehr hoch,
doch entwickeln sich dieselben auch in der gewöhnlichen Zimmertempera-
tur zu allen Jahreszeiten ganz gut.
Die benutzten Lichtfilter waren folgende: Petri-Schalen* aus braun-
gelbem Glase , in welchen die Algen direct cultivirt wurden ; ferner farbige
Lösungen in doppelwandigen Glocken nach Sachs (richtiger nach Senebier)
und groXse blaue Schalen, mit welchen Petri-Schalen aus farblosem Glase,
in denen sich die Culturen befanden, bedeckt wurden. Viele Lichtfilter
wurden spectrometrisch untersucht (s. imten) und von diesen diejenigen
gewählt, mit welchen man am ehesten eindeutige Resultate zu erwarten
hoffen konnte.
Der einzige Apparat, mit welchem man eine quantitative Spectral-
analyse von einzelnen lebenden (was für uns sehr wichtig ist) oder todten
Zellen, wie überhaupt von mikroskopisch kleinen farbigen Objecten (Kry-
stallen u. a.) und ebenso von minimalen Mengen farbiger Lösungen auszu-
föhren im Stande ist, ist das Mikrospectralphotometer nach Engel-
mann.^ Die Vorzüge dieses Apparates sind neuerdings noch dadurch erhöht,
daüs an Stelle des bisher benutzten dispergirenden Prismensatzes ein trans-
parentes Gitter nach Thorp angebracht ist*, welches also nicht ein Spectrum
mit ungleichförmiger Dispersion, sondern ein normales mit überall gleicher
Zerstreuung liefert.* Die relativ sehr grofse Ausdehnung der wenig brech-
baren Partie des Spectrums empfiehlt diesen Apparat namentlich für Ab-
sorptionsbestimmungen in Roth und Orange. Nur bei sehr dunkel gefärbten
* Käuflich bei P. Alt mann in Berlin.
^ Th. W. Engel mann, Das Mikrospectralphotometer. Zeitschrift für wissenschaft-
liche Mikroskopie, Bd. 5, 1888, S. 289 — 296. Siehe auch Archives neeriand, T. XXIII, 1889,
p. 82 — 92. Über die Methodik der Beobachtungen u. s.w. vergl.: Derselbe, Die Farben
bunter Laubblätter und ihre Bedeutung für die Zerlegung der Kohlensäure im Lichte. Bota-
nische Zeitung, 1887, Nr. 29. Siehe auch Archives neerland, T. XXII, 1888, p. 43 — 50.
* Th. W. Engelmann, Über die Verwendung von Gittern statt Prismen bei Mikro-
spectralapparaten (Sitzungsber. d.Berl. Akad. d. Wiss., phys.-math. Ciasse vom 26. Juni 1902,32).
— H. Siedentopf, Über ein Mikrospectralphotometer nach Engelmann mit Gitterspectrum,
ebenda S. 706 — 710.
* Über einige kleine anzubringende Correcturen vergl. Sie den topf a. a. O. S. 7o61f.
Über den Einflufs farbigen Lichts auf die Färbung lebender Oscillarien. 9
Objecten, wenn gleichzeitig die Anwendung sehr starker VergröJCserungen
nöthig ist, dürfte der Apparat mit prismatischem Spectrum wegen seiner
grölseren Lichtstärke vorzuziehen sein. Übrigens stimmen die Resultate
der mit dem prismatischen und Gitter -Spectrum an gleichen Objecten an-
gestellten Messungen überein , wie z. B. folgende an einer grünen Zelle der
Cladaphora fracta Kütz. an einer und derselben Stelle angestellten Bestim-
stimmungen der Absorptionsgröfee zeigen:
Prismatisches
Gitt«r-
Spectrum^
Spectrum
x =
•
•
680 — 670
10.4
10.5
670 — 660
13-7
13.9
635—625
19.6
19.2
595—585
40.2
40.0
575—565
48.1
48.1
565—555
46.0
450
495—485
14.6
14.0
Für Untersuchungen wie die unseren ist sehr intensives, möglichst
constantes weifses Lieht noth wendig. Im Petroleumlicht, im gewöhnlichen
Gas oder elektrischen Glulilicht sind die blauen oder violetten Strahlen
im allgemeinen zu schwach. Sonnenlicht war, namentlich in dem trüben
Sommer 1902, zu inconstant. Elektrisches Bogenlicht, welches übrigens
nach Qualität und Intensität des Spectrums allen Anforderungen genügen
würde, pflegt auch gelegentlich störende Schwankimgen zu zeigen. Das
Licht des Auerbrenners ist für viele Fälle nicht ausreichend stark. Das
einzige Licht, welches alle zu unserer Untersuchung noth wendigen Eigen-
schaften aufweist, ist das Licht des Glühfadens der Nernst-Lampe. Ich be-
nutzte ein von der Allgemeinen Elektricitäts- Gesellschaft nach Anweisung
von Prof. Engelmann hergestelltes Modell, welches einen geraden, etwa
15"" langen und fast i"" dicken Glühfaden besitzt. Die sehr handliche, auf
einer Grundplatte fixirte und mittels Schraube verstellbare Lampe wurde
an die Gleichstromleitung (i 10 Volt) angeschlossen. Von dem vertical
stehenden Glühfaden wurde mittels einer Sammellinse, des Stativspiegels
und des Abbe'schen Condensors ein Bild in der Objectebene entworfen
von solcher Gröfse und Lage, dafs der Bedingung gleichmäfsiger Beleuch-
^ Mittel von fünf Messungen, t ist die Intensität des durchgelassenen Lichts in Procenten
von der Stärke des aufTallenden.
Phys. Abh. nicht sitr Akad. gehör. Gelehrter. 1902. V. 2
10 N. Gaidukov:
tung beider Halbspalte im Spectralocular auch bei gröfster Weite der Spalte
genügt war. Die Lichtstärke war so grols, dals in vielen Fällen die stärk-
sten trockenen und Oelimmersionssysteme (Apochromat 2"*", 1000 fache Ver-
gröfserung) mit Vortheil zur Verwendung kommen konnten. Das Mikroskop
befand sich entweder in dem dunkeln Engelmann'schen Mikroskopirkasten,
oder es war zwischen dem Mikroskop und der Lichtquelle ein schwarzer
Schinn angebracht, der alles störende Licht vom Auge und der Umgebung
abhielt.
Zur feinen Einstellung sämmtlicher Objecte waren die Bewegungsvor-
richtungen des von mir benutzten Zeifs 'sehen Stativs IIa vollkommen aus-
reichend.
Die als Lichtfiltra benutzten farbigen Gläser werden folgendermafsen
untersucht. Mit einem Diamanten abgeschnittene Stücke von derselben Dicke,
wie die Schalen selbst, werden auf Objectträgern in Canada- Balsam ein-
geschlossen und mit einem Deckgläschen bedeckt. Nur die Stücke mit ganz
glatten, geraden und homogen geförbten Rändern wurden bei schwächster
Vergröfserung (Apochromat 16"" Zeifs) spectrometrisch geprüft.
Die farbigen Lösungen wurden in Glaszellen untersucht, welche für
die spectrophotometrischen Untersuchungen äufserst kleiner Flüssigkeits-
mengen nach den Angaben von Prof. Engelmann durch Zeifs angefertigt
und von J. Velichi^ bereits beschrieben worden sind. Zur Verwendung
kam, bei schwächster Vergröfserung imd bei möglichst breitem Lichtkegel,
eine i**° hohe Glaszelle. Dieselbe Dicke hatte nahezu die Flüssigkeitsschicht
in den doppelwandigen Glocken.
Bei der Untersuchung der lebenden Oscillarienzellen befanden sich
die Zellen in Wasser. Die Ränder des Deckgläschens wurden mit auf flachem
Löffel geschmolzenem Vaselin begossen, wodurch ein vollkommener Verschlufs
des Präparates erzielt wurde. Der zu untersuchende Faden muXs ganz flach,
vor allem nicht schräg im Gesiclitsfeld liegen, seine Einstellung überaus
fein sein, das Bild der einen seitlichen Begrenzungslinie des Fadens ganz
genau mit der Grenzlinie der beiden Spalthälften zusammenfallen. Die
bei spectrometrischen Untersuchungen von Pflanzenzellen aus dem optischen
Einflüsse der stark lichtbrechenden farblosen Zellmembranen entspringenden
Störungen sind bei den Oscillarien nicht nennenswerth. Sie würden übrigens
^ Jon A. Velichi, Quantitative 8 pectralanalyse des rothen Blutfarbstoffes bei wirbel-
losen Tbieren. Diss. inaiig. Berlin 1900. S. 21 — 23.
• •
Über dm Einflufs farbigen Lichts auf die Färhang lebender Oscülarien. 1 1
für den vorliegenden Zweck, auch wenn sie gröfser wären, nicht in Be-
tracht kommen, da es sich ftlr uns ja wesentlich um Änderungen im Ver-
hältnifs der Absorption in den verschiedenen Theilen des Spectrums , nicht
um die absoluten Werthe handelt. Zur Untersuchung gelangten nur solche
Fäden, die eine sehr zarte und dünne Membran aufwiesen. Bei rich-
tiger Beleuchtung und richtiger Einstellung des Focus verschwindet die
Grenzlinie zwischen dem Fadenspectrum und dem Vergleichsspectrum so
gut wie vollständig.
Viel gröfser ist eine Schwierigkeit anderer Art, nämlich die in der
Beweglichkeit der Oscillarienfaden gelegene. Es bedarf gröfser Geduld und
sehr langen Suchens, ehe man einen geeigneten unbeweglichen Faden im
frischen Präparat findet. Denn 0. sanda ist im allgemeinen sehr lebhaft
beweglich. Erst nach einem etwa fünfstündigen Aufenthalte in dem mit
Vaselin gekitteten Präparate wurden die Oscillarien mehr oder weniger un-
beweglich. Bedeutend schneller läfst sich diese Schwierigkeit überwinden,
wenn man die Oscillarien ganz kurze Zeit mit Aether oder Benzindampf
narkotisirt. Nach einer solchen Behandlung werden die Oscillarien unbe-
weglich. Sie bleiben trotzdem noch etwa zwei Tage lang im beschriebenen
Präparate lebend. Der Tod der 0. sanda ist leicht daran zu erkennen,
dafs der violette, in Wasser lösliche Farbstoff austritt und die Zellen grün
werden. Das in Wasser unlösliche Chlorophyll bleibt zurück.
Wegen verschiedener Schwierigkeiten, die bei der spectrometrischen
Untersuchung der lebendigen Zellen entstehen können, z. B. wegen der
selbständigen Bewegungen der Individuen (Oscillarien, Diatomaceen, Bak-
terien u. s. w.) oder Bewegungen der Chromophyllkörper innerhalb der Zel-
len, oder weil manche Pflanzen (besonders Meeresalgen) im lebendigen Zu-
stand schwierig zu erhalten sind, wäre es sehr wünschenswerth , wenn man
die Zellen ohne Veränderung der Chromophyllfarbe dauernd fixiren könnte.
Hr. Prof. Engelmann hat eine solche Fixirungsmethode beschrieben*, die
für viele mikroskopische Pflanzen diese Anforderung ziemlich streng erföUt.
Sie besteht in der EinschlieJGsung in Ganada -Balsam der zuvor i*asch auf
dem Objectträger eingetrockneten Objecte. Hierbei werden auch die Stö-
rungen durch Lichtreflexe an der Zellwand, welche bei Untersuchung in
Wasser drohen, sehr reducirt. 0. sanda wurde bei gewöhnlicher Tempe-
^ Botanische Zeitung 1 888, 8. 68o.
12 N. Gaidukov:
ratur auf einem Objectträger im Luftzuge oder unter dem Exsiceator ein-
getrocknet, in Canada- Balsam eingeschlossen und, mit einem Deckglase be-
deckt, spectrometrisch geprüft. Die so erhaltenen Dauerpräparate haben
sich jetzt bereits über zwei Jahre in völlig unveränderter Färbung erhalten.
Die Farbe der so fixirten Individuen ist für die einfache mikroskopische
Betrachtung ganz dieselbe, wie die der lebenden, ebenso auch das spec-
troskopische Bild (Taf. I, Fig. 11). Genaue Auskunft lieferte die vergleichende
spectrophotometrische Untersuchung der nämlichen Zellen der 0. saneta, erst
im lebenden Zustand, dann nach Einschluls in Balsam. Es ergab sich hierbei
(vergl. Taf. I, Fig. 11, Curven a und &), dafe die Absorptionscurven in der That
in der Hauptsache identisch sind. Die beobachteten Abweichungen hielten
sich meistens innerhalb der Grenzen der Beobachtungsfehler. Nur zwischen
\ 580 — 540 war die Absorption bei den in Balsam fixirten Zellen etwas
schwächer, wie die Zahlen in Tab. I 2 a, & zeigen. Die Abweichungen könnte
man vielleicht dadurch erklären , dafs von dem violetten Farbstoff, der ja
gerade zwischen jenen Wellenlängen ein starkes Absorptionsmaximum zeigt,
trotz des rapiden Eintrocknens doch ein wenig beim Absterben der Zellen
der 0. sancta ausgetreten war.
Wenn also, wie aus Gesagtem folgt, zwischen den spectroskopischen
Eigenschaften der von uns untersuchten lebenden und fixirten Zellen nur
ein sehr geringer Unterschied ist, so gilt das doch keineswegs Ar alle Algen,
und es sollten deshalb spectrometrische Messungen zunächst immer an le-
benden Zellen ausgeführt werden. Diatomaceen z. B. können überhaupt nicht
auf die beschriebene Weise in brauchbarem Zustand fixirt werden, denn
sie werden dabei grün.
Zum Verständnifs der beigegebenen Tabellen und Tafeln sei noch Fol-
gendes bemerkt. Die Stellen des Spectrums, an welchen der Lichtverlust
gemessen ward, sind in den Tabellen jedesmal durch die in Tausendstel
Mikren (fifi) ausgedrückten Wellenlängen (X) bezeichnet. Bei der Unter-
suchung der Zellen folgten die Messungen an den mittels der Ocularschieber
unter Benutzung der Angström'schen Scala des Apparats isolirten farbigen
Feldern in der Richtung von Roth nach Violett oder umgekehrt, von \ 720
bis X420, an 30 oder mehr sich ununterbrochen folgenden Stellen. Bei
der Untersuchung der Lichtfiltra wurde die Absorption meist nur an solchen
Stellen des Spectrums gemessen, welche den charakteristischen Helligkeits-
Maximis und -Minimis des 05c//Ä3rria - Spectrums entsprachen. Bei den ersten
Über den Einfluß farbigen Lichts auf die Färbung Übender OsciUarien. 1 3
Übungen habe ich an jeder Stelle 20 Messungen gemacht, meist zweimal,
Morgens und Abends. Später genügten jedoch bereits fünf Messungen , um
sehr brauchbare Mittelwerthe zu erhalten.
In den Tabellen wie in den Curven sind die Intensitäten des vom farbigen
Objecte durchgelassenen Lichtes in Procenten der Stärke des auffallenden (i)
verzeichnet. Hieraus können die entsprechenden Werthe der Extinctions-
coefficienten mittels der von Prof. Engelmann gegebenen Tabellen^ leicht
gefunden und beliebige Localconstanten (Reinke) berechnet werden, Berech-
nungen, welche jedoch för den vorliegenden Zweck zunächst unnöthig er-
schienen.
Die Resultate der Farbenuntersuchung sind in den Figuren der bei-
gegebenen Tafeln^ verzeichnet. Auf jeder ist abgebildet:
1. (links am Rande) Stück eines Fadens in der Färbung, wie sie bei
starker Vergröfserung im Mikroskope bei durchfallendem, hellem Tageslicht
erschien ;
2. das Spectralbild , und zwar unmittelbar über einander oben das des
Absorptionsspectrums, unten das Spectrum des ursprünglichen (Nernst-)
Lichtes bei Betrachtung im Mikrospectralocular (mit Prisma);
3. die spectrophotometrische Curve, welche die Lichtabsorption als
Function der Wellenlänge auf Grund unserer Messungen graphisch dar-
stellt.
In Fig. I Taf. I, UI— VI Taf. II, III, VIII Taf. IV bezieht sich die mit a
bezeichnete Curve auf Messungen an einem einzelnen Faden, die gestrichelte
Curve b auf das Mittel aller Messungen an aus ähnlichen Culturen entnom-
menen Fäden. Die Curve a in Fig. II Taf. I zeigt den Gang der Absorption
in einem lebenden, die Curve b in einem in Balsam conservirten Faden.
In Fig. Vn Taf. IV zeigen die Curven a und b den Gang der Absorption
in zwei Fäden verschiedener Färbung, von denen links je ein Stück ab-
gebildet ist.
In Fig. in — VII Taf. 11 — IV ist aufserdem links am Rande ein Vier-
eck (c) in der Farbe des einwirkenden Lichts und weiter die spectrophoto-
metrische Curve {c) dieses Lichts abgebildet.
* Th. W. Engel mann, Tafeln und Tabellen für Darstellung der Ergebnisse spectro-
skopischer und spectrophoto metrischer Beobachtungen. Leipzig 1897.
' Die Tafeln sind nach dem Muster der von Prof. Engelmann publicirten (a. a. 0.)
angefertigt. Eis ist das prismatische, nicht das Normalspectrum zu Grunde gelegt.
14 N. Gaidukov:
m. Ergebnisse der Untersuchung.
Die Versuche habe ich Ende November 1901 begonnen, indem ich fol-
gende Erde- und Leitungswasserculturen der 0. sancta einstellte : zwei in gelb-
braunen Pe tri -Schalen, zwei in Petri- Schalen aus farblosem Glase, welche
ich mit einer blauen Schale bedeckte, und zwei Petri- Schalen aus demselben
(farblosen) Glase, die in gewöhnlichem, diffusem, weifsem Lichte standen.
Nach etwa zwei Monaten , als ich zu meinen Untersuchungen zurückkehrte,
waren die Resultate folgende : sämmtliche Culturen waren sehr gut und fast
gleich stark entwickelt; doch, während bei den in diffusem, weifsem Lichte
befindlichen Culturen die Lager der Oscillaria wie früher violett waren,
waren diejenigen in gelbbraunem Lichte graugrün und die in blauem
braun geworden. Die mikroskopische Untersuchung zeigte, dals die meisten
Fäden in gelbem Lichte graugrün (Fig. 7), in blauem dagegen gelbbraun
(Fig. 3) gefärbt werden.
Bei den weiteren Versuchen mit gefärbten Lösungen trat die Veränderung
der Farbe noch früher ein (zwei Wochen bis einen Monat). Die Culturen im
farbigen Lichte werde ich die Lichtfilterculturen nennen.
Bei diesen Versuchen ist es noth wendig, noch einige andere Fehler-
quellen zu berücksichtigen. Wie lange bekannt, ist die Farbe nicht nur einer
und derselben Algenart, sondern auch derselben Individuen veränderlich.
Nägel i und Schwendener^ beobachteten, dafs sich die Farbe gewisser
Cyanophyllen mit dem Alter der Zellen verändert. Solche Veränderungen
waren bei der ursprünglichen , in weifsem Licht cultivirten oder in Gewächs-
häusern wachsenden 0. sancta nicht typisch , in den Lichtfilterculturen aber
überaus auffallend (s. unten).
P. Richter^ behauptet, dals gewisse Algen, wenn sie im Wasser wach-
sen, grüner, dagegen auf trockenem Boden blauer u. s. w. sind, was er aus
Auflösen und osmotischem Austreten gewisser Mengen des blauen Farb-
stoffes (Phycocian) im Wasser erklärt. In meinen Culturen war die Färbung
der Fäden, ob im Wasser oder aufserhalb, stets dieselbe.
Dafs die Farbenveränderung keine pathologische Erscheinung war, geht
aus folgenden Gründen klar hervor: die Intensität des Wachsthums
und die Beweglichkeit der Fäden in den Lichtfilterculturen war
manchmal noch stärker, als bei in gewöhnlichem Lichte gezo-
* A. a. O. p. 496.
* A. a. 0. p. 605 — 607.
Über den Einfluß farbigen Lichts auf die Färbung lebender Oscülarien. 1 5
genen Culturen. Hierbei traten auch keine morphologischen Ver-
änderungen hervor. Aus allen Culturen habe ich im Interesse der Ein-
heit und Gleichheit der Beobachtung stets die dicksten Fäden (bis 20 /i)
spectrometrisch untersucht. Hierüber findet sich Näheres bei der Beschrei-
bung der einzelnen Fälle.
Wie schon bemerkt, ist die Farbe der 0. sancta, welche in Gewächs-
häusern, wo meistens die Glasscheiben mit grüner Farbe bedeckt sind^
oder wenn sie in künstlichen Culturen in diffusem weifsem Lichte wächst,,
stets violett bis bräunlich violett (Taf. I, Fig. 1,2). Die Fadenfilze bilden ein
schwarzviolettes Lager. Das Spectrum der violett gefärbten Zellen ist durch
folgende Eigenschaften charakterisirt. Es zeigt sechs Helligkeitsmaxima
und ebenso viele Helligkeitsminima , deren Lage durch X und relative Stärke
mit I, 2, 3 u. s. w., so wie sie nach dem subjectiven Eindruck zu beurtheilen
ist, in der folgenden Tabelle angegeben sind. Mit i ist das absolute Maxi-
mum der Helligkeit, bez. der Dunkelheit, bezeichnet.
Violette Zellen von 0. sancta.
Helligkeits-
Relative
Helligkeits- Relative
maxima
Stärke
minima Stürke
1 von \ 690 bis Ende
4
I von \ 660 — 685 2
11 • \640 — 655
2
II - X 613—635 5
in • \ 590 — 600
I
III - X 570—580 T
IV - X 557-562
5
IV . X 540— 555 2
V - X 515—535
3
V . X 490— 505 4
VI - \ 475— 485
4
VI - \ 455 bis Ende 3
Im Gitterspectrum erscheint das Minimum III intensiver als das Mini-
mum I, im prismatischen dagegen das Minimum I immer am dunkelsten,
was sich aus der in beiden Spectren ungleichen Zerstreuung erklärt.
Das Spectrum der braunvioletten Zellen (Fig. II) war dem rein violetten
sehr ähnlich, nur war das Minimum I relativ stärker, die Minima III und
rV schwächer ausgeprägt. Näheres ergibt die folgende Tabelle.
Braunviolette Zellen von 0. sancta.
Helligkeits- Relative Helligkeits- Relative
maxima St&rke minima Starke
I von X 690 bis Ende 4 I von X 660 — 685 i
II • X 640 — 655 2 II • X 620 — 630 6
III
IV
V
VI
X 590— 600 I III - X 570— 577 3
X 556— 560 5 I^^ • X 540— 550 4
X 5 15— 525 3 V - \ 490— 517 5
\475 — 485 4 VI * X 460 bis Ende 2
16 N. Gaidükov:
In demselben Faden waren manchmal einige Zellen violett , andere
dagegen braunviolett, doch können andererseits alle Zellen desselben Fadens,
junge sowohl als auch ganz alte, gleich violett oder auch braunviolett ge-
färbt sein.
Viele (zwölf) verschieden gefärbte Fäden der 0. sancta wurden spectro-
photometrisch untersucht. Die Mittelwerthe dieser Messungen (etwa 30CX))
stellt die Curve Taf.I Fig. 16 und Tab. 16 dar. Wie die Curve zeigt, erreicht
die relative Intensität des durchgelassenen Lichts im äulsersten sichtbaren
Roth (bei X 710) das absolute Maximum (84 Procent), dann nimmt sie sehr
rasch ab, um bei etwa X 675 ein erstes Minimum (35.3 Procent) zu erreichen
(I. Absorptionsband) , dann steigt die Intensität bei etwa X 645 auf 60. i Pro-
cent, sinkt auf ein zweites Minimum (58 Procent), bei etwa X 625 (ü. Absorp-
tionsband), steigt dann sehr hoch auf 70.7 Procent bei X 595 (HI. Helligkeits-
maximum), um nochmals sehr steil und tiefer wie im Roth auf 34.4 Procent
bei etwa X 575 zu sinken (III. Absorptionsband). Nach einer vorübergehenden,
sehr kleinen Erhebung auf 37.5 Procent bei etwa X 560 (IV. Helligkeits-
maximum) sinkt die Intensität auf 36.6 Procent bei etwa X 550 (IV. Ab-
sorptionsband), steigt dann sehr steil auf 59.8 Procent bei etwa X 525,
sinkt danach wieder ziemlich tief auf 43.2 Procent bei etwa X 500 (V. Ab-
sorptionsband), steigt nochmals schwach bis 48.1 Procent bei etwa X 475
und sinkt schliefslich gegen das violette Ende auf das absolute Minimum
(29.7 Procent), welches etwa bei X 435 erreicht wird.
Extreme Fälle der einen und anderen Färbung sind in Taf. I Fig. I und 11
graphisch dargestellt worden. Die Cui've Fig. la betrifft einen intensiv
violetten lebendigen Faden (600 Messungen), Curve Fig. IIa einen braun-
violetten lebendigen und Hh einen ebenso gefärbten in Balsam fixirten
Faden (600 Messungen). Die Lage der Helligkeitsmaxima und -Minima im
Spectrum dieser extremen Fälle ist dieselbe wie in der Curve 16, welche
nach den Mittel werthen aller, an zwölf verschiedenen Fäden angestellten
Messungen gezogen ist. Die relativen Intensitäten der Maxima und Minima
sind jedoch, wie zu erwarten ist, für die braun violetten Zellen etwas
andere als för die reinvioletten. So liegt das Helligkeitsminimum HI beim
reinvioletten Faden Fig. la viel tiefer, auf 29.9 Procent, als das I (45.3 Pro-
cent), in der Curve des braun violetten umgekehrt das erste Minimum (bei
X 675) in Fig. iflf viel höher (etwa 45 Procent) als in Fig. IIa (30.4 Pro-
cent). Auch die Absorption vom Grün an bis ins Violett ist bei den braun-
Über den Einflufs farbigen Lichts auf die Färbung lebender OsciUarien. 1 7
violetten Fäden (Fig. 11) merklieh stärker als bei den rein violetten (Fig. i).
Bei beiden aber erreicht die Absorption gegen das Violett hin die absolut
höchsten Werthe. Nur bei den reinvioletten Fäden ist die Lichtschwächung
im Gelb (Minimum III) ebenso stark (i= 30 Procent) wie am starkbrech-
baren Ende.
Es ist noch zu bemerken, daß das Helligkeitsminimum I des Spec-
trums unserer 0. sancta f. molacea das sogenannte Chlorophyllband, dem
charakteristischen Absorptionsmaximum der grünen \ unser Helligkeitsmini-
mum n dem der blaugränen , m und IV dem der rothen , V und VI dem
der braunen Algen entspricht. Deswegen sind bei der Untersuchimg von
0. sancta noch interessantere Resultate zu erwarten.
Wie in den auf Taf. I in Fig. I, II dargestellten Fällen, so waren
auch in allen anderen (s. unten) alle subjectiven Bänder photome-
trisch nachweisbar, was mit den Beobachtungen von A. von Wolkoff ,
Th. W. Engelmann\ F. Stenger* u. A., aber nicht mit denen von
J. Reinke'^ und F. Schutt* übereinstimmt.
ä) Versuche mit rothen Lichtfiltern.
Als Lichtfilter ftir rothes Licht habe ich eine Lösung des käuflichen
Carmins gebraucht. Wie bekannt, ist carminrothes Licht nicht das Roth
des Spectrums, doch läfst Carmin bei grofser Dicke der Schicht, wie Prof.
W. A. NageT bemerkt hat, nur rothe Strahlen durch. Die Curve c (Taf. III,
^ Vergl. EDgeimann, Botanische Zeitung, 1884, Nr. 6 und 7. J. Reinke, Photo-
metrische Untersuchungen über die Absorption des Lichtes in Assimilationsorganen , ebenda
1886, Nr. 9 — 14. Über die qualitative Spectralanalyse der lebenden Algen vergl. Stokes.
Über die Veränderung der Brechbarkeit des Lichts, PoggendorTs Annalen der Physik und
Chemie, Ergänzungsbd. IV, 1854, S. 263. — Rosonoff, Physiologische und anatomische Unter-
suchungen U.S.W, (russisch), Naturalist, St. Petersb. 1867, Tab. II. — Reinke, Beitrag zur
Kenntnifs des Phycoxanthins , Pri ngs heim 's Jahrbuch, wissensch. Botanik X, 1876, S. 412,
Tab. XXX.
* A. von Wolkoff, Die Lichtabsorption in den Chlorophylllösungen, Verhandlungen
des Naturhistorischen Medicinischen Vereins zu Heidelberg, i, 1877, S. 204 — 328.
* Th. W. Engelmann, Botanische Zeitung, 1887, S. 415.
^ F. Stenger, Über die Bedeutung der Absorptionsstreifen. (Ebenda S. 120).
* J. Reinke, ebenda 1886, Nr. 9, Taf. II. Entgegnung bezüglich der subjectiven Ab-
sorptionsstreifen, ebenda 1887, S. 271.
* F. Schutt, Über das Phycoerythrin. Berichte der Deutschen Botanischen Gesell-
schaft VI, 1888, Taf. in u. s. w.
^ W. A. Nagel, Über flüssige Strahlenfilter, Biologisches Centralblatt 18, 1898, S. 650.
Fhys, Ahh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter, 1902. V. 3
18 N. Gaidukov:
Fig. VI) Tab. III, Spalte 2, zeigt auch, dafe nur die rothen Strahlen in dieser
Lösung intensiv sind, orange Strahlen nur halb durchgelassen, alle anderen
jedoch so gut wie ganz absorbirt werden.
0. sancta entwickelte sich hier nicht so gut wie in einigen anderen Licht-
filterculturen. Meistens siegte 0. caldariorum. Von sechs Culturen, welche
im Laufe vom Mftrz bis August 1902 eingestellt wurden, fand nur in einer
Agar-Agarcultur eine gute Entwickelung mit 0. caldariorum zusammen statt.
Nach einem Monat hatten die gut wachsenden und beweglichen Fäden in
genannten Culturen hellviolette, graugrüne, graublaugrüne, hellspangrOne
Färbung und nur sehr wenige waren, ähnlich der ursprünglichen Form,
violett gefärbt. Die hellvioletten Formen werden weiter berücksichtigt werden.
Das Spectrum eines hellspangrünen (Fig. Via) Fadens zeigte Folgendes:
HelHgkeits-
maxinia
Relative
Stärke
Helligkeits- Relative
minima St&rke
I von \ 700 bis Ende
II . \ 648— 655
IIa • X 616^620
III • \ 590—600
IV —
4
4
5
3
I von \ 660—685 I
II • \63I — 643 2
IIa • \6o5 — 615 4
III . \ 570— 580 5
IV — —
V . \ 510— 560
VI . \ 460— 480
I
2
V . X 495— 505 6
VI - X450 bis Ende 3
Wenn wir dieses Spectrum mit dem des violetten und braunvioletten
(Fig. I, II) vergleichen, so bemerken wir Folgendes: Helligkeitsminimum l
ist ebenso stark wie in Fig. II , Minimum 11 dagegen viel starker und be-
steht überdiels aus zwei Absorptionsbändern (11 und Ha). Vom Minimum III
war nur eine schwache Änderung bei etwa X 575 geblieben, das ursprüng-
lich im Spectrum der violetten Formen vorhandene Minimum IV fehlt ganz,
das absolute Helligkeitsmaximum befindet sich im Grün und femer ist die
Absorption gegen das violette Ende hin schwächer.
Die Curve a (Fig. VI, Tab. II, 6 0) (etwa 1 50 Messungen) zeigt, verglichen
mit den ursprünglichen violetten Formen (Fig. I, II), einen durchschnittlich
wesentlich tiefern Verlauf im Roth, Orange und Gelb, einen erheblich höhern
im Gelbgrün, Grün, Blaugrün und Blau. Das absolute Maximum der In-
tensität (80.5 Procent) liegt im äulsersten sichtbaren Roth (etwa bei X 710),
jedoch ist es nicht ganz so hoch wie in den Curven I a, 6 und 11 a, ft.
Das Minimiun I bei etwa X 675 liegt sehr niedrig, auf 30.3 Procent. Die
Steigerung der Intensität von hier bis zum Maximum II bei etwa X 645
ist relativ gering (52.4 Procent). Von etwa X 640 findet ein neuer starker
Über dm Einflufs farbigen Lichts auf die Färbung lel)ender Oscälarien. 1 9
Abfall statt, der bei X 625 zu einem zweiten, sehr bedeutenden Minimum
(36.1 Procent) führt (11. Absorptionsband). Dann folgt neues steiles Steigen
bis etwa \6i7 (Maximum 11 0, 52.7 Procent), darauf schwaches Sinken bis
auf 48.3 Procent bei etwa X610 (Absorptionsband II/7), dann allmähliches
Steigen zu einem vierten Maximum (Maximum III) bei X 585 (59 Procent)
und nach geringer Senkung auf 57 Procent bei X 575 steileres Wachsen,
um bei etwa X525 im Grün ein sehr hohes fünftes Maximum (71.2 Procent)
zu erreichen. Darauf sinkt die Intensität bis etwa X495 auf 55.5 Procent,
wächst nochmals, um bei etwa X 480 mit 60.9 Procent das sechste Maxi-
mum zu erreichen und dann ziemlich steil bis etwa X 435 auf weniger
als 30 Procent herabzusinken. Die Curve VI& stellt das Mittel von etwa
600 Messungen an vier verschieden gefärbten Fäden (violett, hellviolett,
graugrün und hellblaugrün) aus den genannten Culturen dar.
Bei manchen Fäden war der Unterschied der Färbung von jungen und
alten Zellen ein ganz auffallender: bei einigen waren alle älteren Zellen
stark violett, die jüngeren dagegen hellviolett bis graublaugrün, bei ande-
ren die älteren hell oder graublaugrün, die jüngeren hellviolett gefärbt.
b) Versuche mit braungelben Lichtfiltern.
Das Glas der von mir benutzten braungelben Petri- Schalen absorbirte,
wie die Curve c Taf. IV Fig. VII und Tab. III Spalte 3 zeigt, die weniger
brechbaren Strahlen bis zum Gelbgrün sehr schwach, die stärker brech-
baren, von etwa \ 560 an, dagegen sehr stark. Schon im Grün bei X 500
war die Intensität auf weniger als 20 Procent gesunken. Zur Wirkung
konnten also wesentlich nur die rothen bis gelben Strahlen kommen.
Wie schon erwähnt, wurden die ersten Culturen (zwei) in diesen Schalen
Ende November 1901 angesetzt. Die im Laufe des März bis August 1902
gezüchteten entwickelten sich fast sämmtlich mit demselben Erfolge. Die
anfangs violetten Lager der Oscillaria sahen nach i — 2 Monaten immer
graugrün aus. Die einzelnen Stadien der Farbenveränderung waren bei
diesen Culturen sehr gut zu beobachten. Zuerst wurden die anfangs stark
violetten Zellen (Fig. I) blafs- bis grauviolett (Fig. VII b) , dann graugrün
(Fig. VII ö), manchmal ganz grau, dann hellblaugrün (Fig. VI) wie in den
Carminlichtculturen , und endlich färbten sich einige intensiv blaugrün oder
spangrün (Fig. VIII). Andere jedoch behielten ihre ursprüngliche violette
r>*
20
N. Gaidukov:
Färbung, doch wurden die meisten graugran gefikrbt. Neben 0. mncta,
welche aus mögliehst reinen Tellerculturen übertragen wurde, wuchs immer,
wenn auch nicht so stark, 0. caldariorum mit.
Das Spectrum der unter dem Einflüsse des gelbbraunen Lichtes hell-
violett gewordenen Zellen (Fig.Vüft) zeigte folgendes Verhalten:
Hdligkeits-
Relative
Helligkeits- Relative
maxima
Stärke
minima Stärke
I von \ 700 bis Ende 4
I von X 660 — 685 I
II • \ 640 — 655
3
II • \ 617—638 5
III • \ 590 — 600
2
III . \ 571—580 3
IV . \ 555-561
5
IV . X 545— 555 4
V . \ 520—540
I
V . X 490— 505 6
VI . \ 460— 480
4
VI • X455 bis Ende 2
Der Unterschied dieses Spectrums von dem der ursprünglichen vio-
letten oder braunvioletten Farbe besteht wesentlich darin, dafe das dunkle
Absorptionsband (III) bei X 570 — 580 in Gelb und Gelbgrün sehr viel
schwächer geworden ist, ebenso das Band bei X 540 — 550 und bei X490
bis 505, dagegen erscheint das Helligkeitsminimum II etwas starker und
breiter, das Minimum I ebenso stark.
Dementsprechend ist auch der Verlauf der Absorptionscurve (etwa
150 Messungen) (Fig. VII &) geändert. Das Intensitätsminimum bei X 675
liegt fast ebenso tief (30.1 Procent) wie in der Curve Ha; im Orange läuft
die Curve ebenfalls durchweg tiefer wie in den Curven I und 11; vom
Gelbgrün bis im Blau dagegen merklich höher. Die Intensität erreicht im
Grün höhere Werthe (69.8 Procent bei X 525) als im Gelb (67.2 Procent
T^i ^ 595)> während bei den Curven der ursprünglichen Farben das Gegen-
theil der Fall ist.
Noch aufi&lliger sind diese Unterschiede im Spectrum der graugrünen
Zellen aus den Culturen im gelbbraunen Licht. Bei der directen Betrach-
tung (s. Fig. VII) zeigt dieses Spectrum folgende Vertheilung der Helligkeiten:
Helligkeits-
maxima
Relative
Stärke
Helligkeits- Relative
ininima Stftrke
I von X 700 bis Ende
II « X 647—655
II 0 • X615 — 622
III • X 580— 600
IV —
3
4
5
2
I von X 660 — 685 I
II • X633 — 645 3
IIa - X603 — 615 4
III . X 570— 580 5
IV — —
V • X 515-550
VI - X 460— 480
I
3
V . X 495— 515 6
VI • X 450 bis Ende a
über den Einfluß farbigen Lichts auf die Färbung lebender OsciUarien. 2 1
Die spectrophotometrische Curve (Fig.VIIa Tab. 11 7,0) (150 Messungen)
zeigt eine im Vergleich zu Fig. VII 6 noch stärkere und noch gleichmäisiger
gegen Grfln hin abnehmende Absorption im Orangeroth , Orange und Gelb , bei
gleich starker Absorption zwischen B und C (\ 675) und etwas schwächerer
im Gelbgrün bis Blaugrün. Von hier an bis gegen das violette Ende decken
sich beide Curven ziemlich genau. In der ganzen stärker brechbaren Hälfte
des Spectrums laufen sie absolut wie relativ — zum übrigen Spectrum '- —
höher als vor der Einwirkung des gelben Lichtfilters. Hiemach ähneln
beide Spectra dem der hellblaugrünen Zellen aus Carminlichtculturen. Noch
mehr nähern sich diesen letzteren die Spectra der im braungelben Lichte
hellblaugrün oder spangrün gewordenen.
Die relativ geringe Sättigung dieser vier Färbungen beruht anschei-
nend hauptsächlich auf der geringeren Ausbildung der Absorptionsmaxima
in den helleren mittleren Partien des Spectrums zwischen Orangeroth und
Blau, besonders derer im Gelb. Die erste Veränderung besteht in der Ab-
schwächung der vom violetten Farbstoffe herrührenden starken Absorption
im Grelb. Dazu tritt eine Verstärkung der Absorption im Orange und Orange-
roth, welche, wie ich in Folgendem zeigen werde, eine sehr bedeutende
werden kann.
Im Spectrum der durch lange Einwirkung braungelben Lichtes intensiv
spangrün gewordenen Zellen (Fig. VIII), welches dem vorigen im grofsen
und ganzen ähnlich ist, war Orange und Orangeroth relativ stärker ge-
schwächt, das Helligkeitsmaximum n im Roth bei etwa X620 — 640, be-
sonders bei der Betrachtung im Gitterspectrum anscheinend das dunkelste.
Näheres ergibt die folgende Tabelle.
Helligkeits-
Relative
Helligkeits- Relative
maxima
Stärke
minima Stärke
I von \ 700 bis Ende
3
I von \ 660 — 685 3
II . \ 650— 655
4
II • \ 621—648 I
IIa • \ 615— 620
5
IIa • \6o2 — 615 3
III • \ 580— 600
3
III . \ 570— 580 5
IV —
—
IV — —
V • \ 510—560
I
V . \498— 5«5 6
VI - \ 460— 485
3
VI • \45o bis Ende 4
Die spectrometrische Untersuchung (Fig. Villa) belegt zahlenmäßig die
erheblich stärkere Absorption im Orangeroth und Orange. Das Absorptions-
maximum n bei X 625 liegt selbst etwas tiefer (32.7 Procent) als das im
Roth bei X 675 (35.6 Procent). Auch in der Curve Fig.VIIIft, welche die
22 N. Gaidukov:
Mittel aus Messungen (etwa 750) an fünf verschiedenen (violett, hellviolett,
graugrün, hellblaugrün, intensiv spangrün) denselben Lichtculturen entstam-
menden Zellen gibt, ist die relativ sehr starke Absorption im ganzen Orange
noch sehr deutlich ausgesprochen.
c) Versuche mit grünen Lichtfiltern.
Für die Isolirung der grünen Strahlen benutzte ich eine Kupferchlorid-
lösimg. Die von mir benutzte ziemlich concentrirte Lösung erschien rein
grün. Wie Curve c (Fig. IV, Taf. II und Tab. HI Spalte 4) zeigt, liefe sie
das Roth von etwa 700 an nicht merklich durch und absorbirte auch das
übrige Roth und Orange sehr stark. Noch im Anfang des Gelbgrün bei
^565 betrug die IntensitSt erst 37.5 Procent. Von hier an stieg sie steil,
um im Grünen zwischen X 545 und 500 das absolute Maximum (über 68 Pro-
Cent) zu erreichen, dann sinkt sie gegen das violette Ende wieder stärker
(35 Procent bei X 440).
In diesem grünen Lichte wurden von Mai bis August 1902 sechs Cul-
turen mit beiden Nährboden angestellt. Die P'ntwickelung fand besonders
in einer Cultur ziemlich stark statt. Nach etwa zwei Wochen konnte man
schon eine Farbenveränderung beobachten. Das Lager war dann ebenso
wie hinter blauem Glase röthlichviolett bis braun gefärbt. Im Mikroskop
zeigten nur wenige Fäden violette, die meisten gelbbraune (Fig. III), einige
auch röthlichorange (Fig. IV) Färbung.
0. caldariorum fehlte in diesen Culturen ganz. In den Agar-Agar-
culturen der 0. caldariorum dagegen , welche ich hinter demselben Lichtfilter
zu gleicher Zeit cultivirte und welche aus Tellerculturen übertragen wurde,
in denen 0. sancta fast ganz fehlte, wuchs die letztere, die braun
war, ebenso stark wie die graugrün, hellviolett, violett und dann
braun gewordene O.caldarioruTn. Solche Culturen wurden anfangs August
aus dem Lichtfilter entfernt und in gewöhnliches weifses Licht gebracht.
Bis jetzt (November 1902) wachsen diese Culturen in weifsem Licht sehr
gut und bei beiden Formen entwickeln sich reichlich wie die typi-
schen blaugrünen und violetten, so auch braune Zellen.
Diese braune Färbung wird weiter bei der Beschreibung der Culturen
im blauen Glase berücksichtigt werden. Das Spectrum der röthlieh-
orangen Zellen (Fig. IV) zeigte folgende llelligkeitsvertheilung:
• •
über den Einflufs farbigen Lichts auf die Färbung lebender Oscillarien. 23
Helligkeits-
maxima
Relative
Stärke
Helligkeits- Relative
minima Stärke
I bei \ 690
iji • X 590— 650
IV . \ 556— 560
3
I
4
I bei \ 665—685 3
II — —
III • X 561— 575 4
IV • \ 540— 555 I
V . \ 520— 530
VI • \47o — 480
2
3
V . \ 490— 505 4
VI • \ 460 bis Ende 2
Das Bild dieses Spectrunis unterscheidet sich von dem der violetten
Zellen dadurch aufißUlig, dals das Helligkeitsminimum 11 im Orange-
roth ganz fehlt und das Minimum IV dunkler ist als das Mini-
mum m.
Die in Curve a Fig. IV graphisch verzeichneten Ergebnisse der (etwa 150)
spectrometrischen Messungen lehren, dals im äufsersten sichtbaren Roth
die relative Intensität des durchgelassenen Lichtes sehr grofs ist
(94.5 Procent bei \ 710) und zwar viel höher als in allen anderen
Fällen, und dafs sie auch bei X675 nicht so tief (45.2 Procent) sinkt wie
sonst. Sie steigt gegen Orange hin sehr rasch, um bei etwa X 620 ein
zweites sehr bedeutendes Maximum (70.3 Prorent) zu erreichen. Die dem
zweiten Helligkeitsmaximum entsprechende Senkung im Orange, welche
namentlich bei den blaugrünen (Fig. VIII a , b) und ähnlichen Formen so be-
deutend ist, fehlt hier gänzlich. Von etwa X 615 an sinkt die Intensität
langsam bis X 595 , von hier steil herab auf ein sehr niedriges Minimum
(34.2 Procent) bei etwa X 565, d. h. etwas näher zum violetten Ende wie
bei den violetten Zellen, sinkt dann weiter herab auf 29.3 Procent bei etwa
X 550 imd erhebt sich danach im Grün nur bis zu mäfsiger Höhe (42 Pro-
cent bei X 520). Auch weiterhin im Grünen und Blau bleibt sie erheblich
niedriger. Im ganzen sind also die weniger brechbaren Strahlen sehr wenig,
die stärker brechbaren vom Gelbgrün sehr stark geschwächt. Wesentlich
dasselbe zeigt, nur etwas weniger ausgeprägt, die Curve Fig. IV 6, welche
das Mittel aus etwa 6cx) Messungen an je einem violetten , braunvioletten,
braunen und röthlich orangen Faden derselben im grünen Licht gezogenen
Cultur wiedergibt.
Wie in den vorigen Fällen , fieng auch hier der Färbungsunterschied
bei den jüngeren Zellen an. In vielen Fällen konnte man beobachten, dals
bei älteren Zellen das alte Chromophyll dasselbe blieb und sich bei den
jüngeren braunes entwickelte.
24 N. Gaidukov:
d) Versuche mit blauen Liehtfiltern.
Für die Isolirung der blauen Strahlen benutzte ich Kupferoxydammoniak
und Schalen aus blauem Glase. Im Spectrum der letzteren (Cmrve c Fig. III
und Tab. in, Spalte 5) wurden weitaus am stärksten die orangen und gelben
Strahlen absorbirt, die äufseren rothen, wie auch die grünen wurden besser,
die blauen und violetten vollkommen durchgelassen.
Die ersten Culturen wurden Ende November 1901 angesetzt, später
noch vier mit den oben beschriebenen Nährböden, und zwar von März bis
Juni 1902. Die Entwickelung liefs nichts zu wünschen übrig, war manch-
mal geradezu auffallend stark. Die Färbung unterschied sich nicht merklich
von der der Culturen in grünem Lichte: das Lager sah braun aus, die
Zellen im Mikroskop braun oder (die meisten) gelbbraun, viele röthlich-
orange, braunviolett und violett. 0. caldariorum fehlte in diesen Culturen
gänzlich.
Das Spectrum der gelbbraunen Zellen (Fig. III) zeigte folgende
Helligkeitsvertheilung :
Helligkeits- Relative Helligkeit«- Relative
maxiina Stärke minima Stärke
I von \ 690 bis Ende 4 I von \ 660 — 685 i
II • \640 — 655 2 H
III • \ 590—618 I III
IV . \ 556—559 5 IV
V . \ 515— 525 3 V
VI . \ 470— 480 4 VI
\ 620—630 5
A^ 560— 575 4
^540—555 3
^. 490—508 3
\ 465 bis Ende 2
Dieses Spectrum unterscheidet sich von dem in Fig. IV abgebildeten des
röthlichoraiigenen Fadens dadurch, dafs das erste Absorptionsband (bei
X675) dunkler, dafs noch Spuren des Helligkeitsminimums 11 des ursprüng-
lichen Spectrums der violetten Zellen (bei X 620 — 630) vorhanden sind
und die Schwächung im blauen Theil bedeutender erscheint.
Die Resultate der photometrischen Messung (etwa 1 50 Messungen), welche
die Curve a Fig. III und Tab. I, 3a wiedergibt, sind hiermit wie erwartet in
bester Übereinstimmung. Die Absorption ist sehr gering im äulsern Roth
(i = 82 Procent bei \ 710), sehr stark zwischen B und C (i = 32.5 Pro-
cent bei X675), gering im Orangeroth und Orange (i = 65.5 Procent bei
X645, 69 Procent bei X615), zeigt eine geringe Zunahme bei X 645 — 625
(i = 64.4 Procent), darauf eine beträchtliche Abnahme im Orange und Grelb
(bei X 595 I = 72.8 Procent). Steil sinkt dann die Intensität auf ein Mini-
Über den Einflufs farbigen Lichts auf die Färbung lebender Oscillarien. 25
mum (39.8 Procent) bei ^565, nach kleiner Erhebung (auf 40.3 Procent
bei X555) weiter herab auf 33.5 Procent bei X545, ^™ auch weiterhin
gegen das Violett hin auf tieferer Höhe zu bleiben als in allen anderen
Fällen (21.5 Procent bei X425). Schon bei X495 ist sie tiefer gesunken
(31.1 Procent) als im Roth bei X675 (45.2 Procent). Also im ganzen sehr
starke Absorption des Grün bis Violett, sehr geringe Absorption des Orange,
Gelb und äufsersten Roths. Dieser Charakter zeigt sich auch noch in Curve 6
Fig. in, welche die Mittelwerthe der Messungen (etwa 600) an vier ver-
schieden — gelbbraun, röthlichorange, braunviolett und violett — gefärbten
Fäden aus Blaulichtculturen graphisch darstellt.
Die Entwickelung der Oscillarien hinter Kupferoxydammoniak war
übrigens sehr schwach. Die Culturen giengen schon nach zwei Wochen
zu Grunde.
e) Versuche mit violetten Lichtfiltern.
Die von mir benutzte Anilinviolettlösung liefs, wie Curve c Fig.V
und Tab. in, 5 c zeigt, die blauen Strahlen bei X450 ganz durch, die äulseren
rothen von etwa X650 an recht gut, absorbirte dagegen die orangen und
gelbgrünen, namentlich aber die gelben Stralilen sehr stark.
Es wurden in diesem Lichte vom März bis Juli sechs Culturen auf
beiden Nährböden gezogen. O.sanda wuchs nur schwach, meist herrschte
die blaugrüne 0. caldariorum vor. Nach einem Monat wurden in einer Agar-
Agarcultur die Fäden der 0. sancta hellviolett (Fig.VIIft), graugrün (Fig.VIIa)
und graubläulich (Fig.V) gefunden, den aus den Culturen in den braun-
gelben Schalen hervorgegangenen ziemlich ähnlich. Das Spectrum eines
graubläulichen Fadens (Fig.V) wies folgende Helligkeitsverth eilung auf:
Helligkeita-
Relative
Helligkeit«- Relative
maxima
Stärke
minima St&rke
I von \ 700 bis Ende
4
I von \ 660 — 685 I
II • \ 645—655
3
II • \ 622— 635 5
IIa • \6i5 — 620
5
IIa • \ 605— 615 6
III • \ 590—600
2
III . X 563— 575 5
IV . \ 556-559
5
IV . X 540— 555 3
V . \5>5— 535
I
V . X 490— 505 4
VI . \ 46s —480
4
VI • \ 460 bis Ende 2
Dieses Spectrum ist den Spectren der im rothen und gelbbraunen Lichte
gewachsenen hellvioletten und graugrünen Zellen ähnlich, doch sind zwei
Helligkeitsminima im Orange bei X625 und \6io und auch im Gelbgrün
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. F. 4
26 N. Gaidukov:
^^i ^575 ^»d X 550 vorhanden, und zwar ist das bei X 550, wie bei den
im grünen und blauen Lichte gewachsenen Zellen, starker als das bei X 575.
Die Verdunkelung im Blau erscheint auch intensiver.
Der Verlauf der spectrophotometrischen Curve ist aus Fig. Va und
Tab. II, 5« zu ersehen. Er ähnelt dem der Curven Fig.VIIa und 6, zeigt
aber relativ stärkere Absorption der kurzwelligen Strahlen von grün bis
violett. In diesem letztern Punkte ähnelt er auch dem der Curven Fig. Jüa
und IVö der im blauen bez. grünen Lichte gezogenen bräunlichen und röth-
liehen Formen. In Fig.Vfi ist noch das Mittel aus etwa 450 Messungen
an drei — violetten, bläulich grünen und graugrünen — Fäden aus diesen
Culturen im violetten Lichte graphisch wiedergegeben. Im Ganzen nimmt
die Curve den gleichen Verlauf wie Curve Va. Doch ist, wie leicht erklär-
lich, die Absorption im Orange etwas schwächer, im Gelb, Gelbgrün und
Grün etwas stärker, gegen das Violett hin wieder etwas schwächer als in
der Curve der einzelnen Zelle Fig.Va.
Die Versuche mit der blaugrünen 0. caldariorum ^ welche ähnliche
Resultate ergaben, werde ich in meiner nächsten Abhandlung berück-
sichtigen.
IV. Znsammenstellüiig und Besprechung der Versnchsergebnisse.
Die im Vorhergehenden verzeichneten Thatsachen geben auf die im
Eingang unserer Untersuchung gestellte Frage eine unzweideutige Antwort.
Es zeigt sich, dafs imter dem Einflufe farbigen Lichts das Chromophyll
lebender Fäden von Osdllatoria sancta (und caldariorum) im allgemeinen
seine Farbe ändert. Die Farbenänderung tritt innerhalb der Zeit der von
uns gewählten Versuchsdauer — einige Wochen bis Monate — zwar nicht
bei allen Zellen nachweisbar ein, aber immerhin bei einer so grofsen Zahl
von Individuen in so aufifalliger Weise , dafe man von einem sichern Er-
folge reden kann und nur die Einschränkung hinzugefügt werden muls,
dafs au&er der Einwirkung des farbigen Lichts noch gewisse andere Um-
stände för das Zustandekommen der Farbenveränderung mitwirken müssen.
Unter diesen scheint das Alter der Zellen eine Rolle zu spielen» denn es
Über den Einflufs farbigen Lichts auf die Färbung lebender Oscillarien. 27
wechseln häufig junge in gröfserer Zahl und rascher die Färbung, als alte.
Inzwischen kamen doch auch Fälle vor, wo unter nach vielen Tausenden
zählenden Fäden einer Cultur nur vereinzelte die ursprüngliche Farbe be-
hielten. Todt konnten diese letzteren nicht sein, denn es bewegten sich
manche derselben noch ganz munter. Es mufs also einstweilen dahin-
gestellt bleiben, worauf die individuellen Unterschiede in der chromati-
schen Reaction beruhen.
Wichtiger als die blofse Thatsache der Farbenveränderung ist die
von uns gefundene Art der Farben Veränderung. So mannigfach die
Färbungen sind, die namentlich 0. sanda in verschiedenfarbigem Licht
annehmen kann, so beherrscht doch alle diese Änderungen unverkennbar
ein Gesetz: die Farbenänderung hängt von der Farbe des ein-
wirkenden Lichts aby und zwar im allgemeinen in dem Sinne, dafs
das Absorptionsvermögen des Chromophylls für die in der ein-
wirkenden Strahlung dominirenden Wellenlängen zunimmt, für
die relativ geschwächten abnimmt. Es mag dieses Gesetz nach dem
Vorschlag von Prof. Engelmann das der complementären chromati-
schen Adaptation heifsen. Dieses Gesetz spricht sich in vielen Fällen
(f&r die nicht Farbenblinden) ohne weiteres anschaulich darin aus , dafs
die ursprüngliche Farbe mehr und mehr complementär zu der
des einwirkenden Lichts wird. So veranlafete, wie unsere Tafeln ver-
anschaulichen, die Einwirkung von
rothem Licht das Entstehen grünlicher Färbung (Fig. VI),
gelbbraunem » » » blaugrüner » (Fig.VU, VHI),
grünem » » » röthlicher » (Fig. IV),
blauem » » » braungelber » (Fig. III).
Aber auch da, wo die blofse Betrachtung der Farbe mit unbewaflFhetem
Auge nicht genügt, um die Änderung der relativen Absorption sicher zu
beurtheilen, gibt der Anblick des Absorptionsspectrums (neben dem Ver-
gleichsspectrum des Nernst-Lichts) häufig Aufschlufe. In allen Fällen aber
liefert — auch fOv Farbenblinde — die spectrophotometrische Messung
sichere Auskimft, indem sie für jede Wellenlänge den relativen Betrag
der Absorption zahlenmäfsig festzustellen gestattet.
Bei der vergleichenden Betrachtung der Helligkeitsvertheilung an den
Absorptionsspectren der verschiedenen unter Einflufs farbigen Lichts erzeug-
ten Chromophylle bemerkt man, dafs die frühesten und auf5ßQligsten Ande-
28 N. Gaidukov:
rungen im allgemeinen in dem mittlem Theil des sichtbaren Spectnims
etwa von Orangeroth bis Grün stattfinden. Die in diesem Theil sichtbaren
Absorptionsbänder und Verdunkelungen sind in ihrer Intensität sehr variabel,
verglichen mit dem Chlorophyllband im Roth zwischen B und (7 und der End-
absorption im Violett. Man vergleiche beispielsweise die Spectralbilder
Fig. in, IV einerseits mit VI, Vn, VIII andererseits: im Spectrum Fig. III
der durch Einwirkung blauen Lichts braungelb gewordenen Zellen eine
aufiMlige Schwächung im Gelbgrün und Grün, ebenso — obschon im ein-
zelnen etwas abweichend — im Spectrum IV der durch grünes Licht rosen-
röthlich gewordenen Zelle. Dagegen relativ gro&e Helligkeit in denselben
Wellenlängenbezirken bei den Spectren der durch gelbbraunes bez. rothes
Licht grünlich (Fig. VI), graugrün (Fig. VII) oder spangrün (Fig.Vm) ge-
wordenen Fäden.
Vergleicht man nun gar die spectrometrischen Curven, so lä&t sich
der quantitative Nachweis streng und bis ins einzelne ftlhren, dafs den
durch die Farbenfilter eingeführten Änderungen in der relativen Intensität
der verschiedenen Spectralregionen im allgemeinen gleichsinnige Änderungen
des Absorptionsvermögens des Chromophylls entsprechen, also, dafe die
Absorption für diejenigen Wellenlängen wächst, deren relative Intensität
im einwirkenden Lichte durch die selective Absorption des Lichtfilters erhöht
ist und umgekehrt abnimmt für die, deren relative Lichtstärke vermindert
ist. Man betrachte beispielsweise den Verlauf der Curven in Fig. EI, IV
einerseits, in Fig.VI, VE, VIH andererseits imd vergleiche ihn mit dem
Lauf der entsprechenden Curven in Fig. I und 11 (ursprüngliche Farbe).
In Fig. in, im einwirkenden blauen Licht (Curve c), sehr starke
Schwächung des Orangegelb und Gelbgrün, relativ bedeutende Zunahme
der grünen und blaugrünen Strahlung, dementsprechend Intensitätscurve a
(braunes Chromophyll) in Orange und Gelb sehr hoch, in Grün und Blau u.s. w.
sehr niedrig verlaufend.
In Fig. IV im einwirkenden grünen Licht (Curve c) starke Schwächung
im Roth und Orange, dementsprechend relativ sehr hohe Ordinatenwerthe
in der Intensitätscurve a in denselben Theilen des Spectrums; sehr hohen
Verlauf der Curve c im Grün, ebenso im Grün bedeutend gegen la — Ha
niedrigere Ordinatenwerthe der Curve a.
In Curve Fig. YIc des einwirkenden rothen Lichts umgekehrt relativ
sehr hohe Ordinatenwerthe vom Roth bis ins Orange, in derselben Strecke
Über den Einfluß farbigen Lichts auf die Färbung lebender Osciüarien. 29
sehr erniedrigte Ordinatenwerthe von Curve a (grün gewordenes Chromo-
phyll). Sehr tiefer Verlauf von Curve c im Grelbgrün, Grün u. s.w.; sehr
hoher Verlauf von Curve a im Grelbgrün, Grün, verglichen mit \a und Ha.
In Curve Fig. VE c (braungelbes Licht) sehr hohe Ordinatenwerthe im
Roth, Orange und Gelb, sehr niedrige im Grün und Blau, dementsprechend
relativ tiefer Verlauf der Intensitätscurven Vlla und Villa in Roth und
namentlich in Orange imd Gelb , aber Erhöhung der Ordinatenwerthe über
die Norm im Grün und Blau.
Es ist für unsem Zweck vorläufig nicht erforderlich, diese quanti-
tativen Beziehungen im einzelnen weiter zu verfolgen und etwa durch
Berechnung und Vergleichung von Localconstanten (J. Reinke) zu studiren.
So wünschenswerth und lohnend diese Arbeit vielleicht später werden möge,
zur Begründung und Sicherung des Gesetzes der complementären chroma-
tischen Adaptation genügen die vorstehenden Ausfuhrungen. Zudem liefern
unsere Curven und die im Anhang beigefügten Zahlentabellen die zu solchen
Berechnungen erforderlichen Daten in genügender Menge. Nur über den
Process der complementären Adaptation und seine ökologische Bedeutung
sei noch Einiges bemerkt.
Es unterscheidet sich der von uns nachgewiesene Vorgang principiell
von allen bisher bekannten Wirkungen farbigen Lichtes auf körperliche
Farben' dadurch, dals bei den letzteren die Farbe des beleuchteten —
leblosen oder lebendigen — Körpers zu der des einwirkenden Lichts nicht
mehr oder weniger complementär, sondern vielmehr ähnlicher oder gleich
wird. Hier handelt es sich also um einen entgegengesetzt gerichteten Vor-
gang, den man als chromatische Assimilation bezeichnen könnte.
An die zahlreichen , bei lebenden Organismen vorkommenden Fälle von
Farbenänderung durch farbiges Licht schliefst sich aber unser Vorgang der
complementären chromatischen Adaptation doch insofern an, als in beiden
die Farbenänderung nicht einfach auf einer directen, mechanischen (im
weitesten Sinne) Wirkung des Lichts auf die farbige Substanz beruht,
sondern der Vermittelung lebendigen Zellplasmas, also eines physiolo-
^ Eine gute Zusammenstellung und kritische Behandlung der hierher gehörigen That-
sachen, auf die Hr. Geh. Rath E. War bürg uns aufmerksam zu machen die GQte hatte,
findet sich in der Abhandlung von O.Wiener, Farbenphotographie duitsh Korperfarben
und mechanische Farbenanpassung in der Natur. Ann. d. Phys. u. Chemie. Neue Folge.
Bd. 55, 1895, S. 225 — 281.
30 N. Gaidukov:
gischen Processes, bedarf. Weder in todten Zellen noch in Lö-
sung tritt, wie ich fand und spater genauer darlegen werde, eine com-
plementäre Farbenveränderung der Chromophylle unserer Os-
cillaria ein.
Eine nähere causale Zergliederung des Vorgangs erscheint einstweilen
noch nicht möglich. Dazu würde zunächst wohl erforderlich sein, dafe
man die chemische Natur der Chromophylle der Oscillarien und die phy-
siologischen und chemischen Bedingungen ihres Auf- und Abbaues kennte.
Hierüber weifs man aber selbst bei dem am weitesten verbreiteten assi-
milatorisch wirksamen Farbstoff, dem Chlorophyll, trotz eifrigster, vielsei-
tigster Bemühungen sehr wenig Brauchbares. Jedenfalls besitzen die Chloro-
plasten im allgemeinen nicht wie das Plasma unserer Oscillarien die Fähige
keit, bei Änderung der Farbe des einwirkenden Lichts andere, assimi-
latorisch zweckmässiger gefärbte Chromophylle zu bilden. Fast immer
scheint es sich nur um eine quantitative Beeinflussung, um Bildung bez.
Zerstörung von mehr oder weniger Chlorophyll zu handeln. Andererseits
ist es wenig wahrscheinlich, dafs die Erscheinung der wenig complemen-
tären chromatischen Adaptirung nur auf die wenigen von uns untersuchten
Formen beschränkt sein sollte. Vermuthlich^ finden sich, wenigstens unter
den im Meere lebenden chromophyllhaltigen Pflanzenformen, auch wohl
den höher organisirten, noch andere, denen jene Fähigkeit zukommt. Denn
die im Meere lebenden Arten sind schon durch die Gelegenheit zu sehr
ungleicher Tiefenvertheilung der Möglichkeit bedeutender und dauernder
Farbenänderung des einwirkenden Lichts ausgesetzt, was bei den in der
Luft lebenden Pflanzen im allgemeinen nicht der Fall ist.
Eine andere wichtige Frage erscheint aber schon jetzt der Lösimg
zugänglich. Es ist die Frage, wie sich die durch Einwirkung farbigen
Lichts complementär adaptirten Zellen verlialten, wenn sie nachträglich
wieder andersfarbigem Licht ausgesetzt werden. Unsere, allerdings noch
^ Die Beobachtungen von OUmans (I.e. Sep.-Ahdr. p. 76 — 89) an Rhodomela sub-
fusca und Bolysiphonia ni grescens scheinen diefs schon anzudeuten, obgleich der Autor die von
ihm unter farbigem Licht beobachteten Farben» nderimgen jener Pflanzen nur auf die •lleliig-
keits«- Unterteil iede des einwirkenden Lichts zurfickfuhren zu milssen glaubt und also darin
keine Stutze fiir die Engel man nasche Auffassung finden kann. Dafs die absolute Energie
der Stralilung mit in B«*trai*lit kommen wird, erscheint unzweifelhaft. Es ist sogar denkbar,
dafs durch gewaltige Steigerung der Intensität monochromatischen Lichts von gewisser Wellen-
länge sich derselbe Effect wie durch schwaches weifses erreichen lassen wird.
TJber den Einflufs farbigen Lichts auf die Färbung lebender Oscülarien. 31
spärlichen Beobachtungen an 0. saneta und caldariorum zeigen, dals die
einmal unter Einflufs farbigen Lichts künstlich erzeugte neue
Färbung und Farbstofferzeugung sich auch nach Rückversetzung
der Fäden in weifses Licht monatelang weiter erhalten kann\
und, wie es scheint, nicht blofs in denselben Zellen, in denen die Farben-
änderung früher erzeugt war, sondern — was besonders wichtig — auch
in jüngeren, von diesen abstammenden Zellgenerationen, welche dem
farbigen Licht gamicht ausgesetzt waren. Bestätigt sich diels — und
wir behalten uns weitere expeiimentelle Verfolgung dieser Fragen vor — ,
so würden wir hier einen neuen überaus schönen experimentellen Be-
weis für die Vererbung erworbener Eigenschaften besitzen.
Vielleicht dürfte schon das häufige und dauernde Vorkommen rother
und gelber Algen in der Oberfläche des Meeres u. s. w., imter dauerndem
Einflufis weifsen Tageslichts, im Sinne eines solchen Beweises zu ver-
werthen sein. Denn es wäre ja möglich, dafs diese an der Oberfläche
lebenden Individuen ihre rothe bez. gelbe Färbung von Vorfahren ererbt
hätten, welche dieselbe einst in gröfseren Tiefen, unter dem Einfluis des
dort herrschenden grünen bez. blauen Lichts, erwarben. Dafs das nicht
seltene Vorkommen rother Formen an der Oberfläche des Meeres keinen
Einwand gegen die Erklärung der ungleichen Tiefenvertheiluiig der ver-
schiedenfarbigen Algen aus der selectiven Absorption des Wassers bildet,
hat Prof. Engelmann schon früher (1882) betont. Im weifsen Tageslicht
sind ja gleichfalls die für Bildung des rothen Chromophylls und damit fiir
die Eohlenstoffassimilation der rothen Zellen wichtigsten der gelbgrünen
und grünen Strahlen sehr reichlich vertreten und sogar von relativ sehr
grofser Energie. Es besteht also zunächst kein Grund, weshalb die Zellen
aufhören sollten, denselben Farbstoff wie bisher weiterzubilden. Dieselben
Betrachtungen gelten mutatis mutandis für die gelbes Chromophyll ent-
haltenden Formen, die ja auch keineswegs auf grofse Wassertiefe be-
schränkt sind.
Unsere Befunde liefern nun nicht nur eine Bestätigung der Engel-
mann'sehen Theorie der Tiefen vertheilung verschiedenfarbiger Meeresalgen,
sondern erklären auch die von ims beobachteten, den Kampf ums Da-
^ Diese Thatsache stimmt mit der bekannten Erfahrung überein, dafs in gewissen
Bacterien durch geeignete Züchtung die Production von Farbstoffen oder Giflen in erblicher
Weise unterdrückt werden kann. Vergl. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, II, 1901, S. 241.
32 N. Gaidükov:
sein zwischen 0. sancta und 0. oaldariarum in farbigem Lichte betreffenden
Thatsachen. Hinter grünem und blauem Lichtfilter sahen wir die blaugrune
0. caMariorum den kürzern ziehen , bis zu völligem Untergange , im rothen
und braungelben Lichte aber sich gegenüber 0. sancta sehr stark ent-
wickeln. Aus einer Tellercultur, in der 0. sancta fast ganz fehlte, 0. oal-
dariorum stark entwickelt war, wurde eine Probe in grünes Licht (CuCl,)
gebracht, mit dem Erfolg, dafs bald 0. sancta unter Abänderung ihrer
violetten Färbung in Bräunlichgelb ebenso reichlich wie 0. caldariorum ent-
wickelt war. Zwar kann auch die letztere ihre spangrüne Farbe in Braun-
gelb ändern, aber nicht direct wie 0. sancta, sondern auf einem Umwege
über Graugrün, Grau, Hell violett und Violett. 0. sancta hat also in dieser
Hinsicht anscheinend einen gro&en Vorsprung voraus.
.«
Über diese Verhältnisse sowie Ober weitere , die complementäre chro-
matische Adaptation und ihre Bedeutung für die Tiefenverbreitung und
den Kampf ums Dasein betreffende Versuche hoffe ich in Bälde berichten
zu können.
Zum Schluss ist es mir eine sehr angenehme Pflicht, Hm. Geh. Rath
Prof. Dr. Th. W. Engelmann für die gütige Anregung zu obigen Versuchen
und für die Unterstützung durch Rath und That meinen ergebensten und
herzlichsten Dank auszusprechen, sowie auch Hrn. Gustos P.Hennings
und Hm. Dr. R. Kolkwitz für die Hülfe beim Sammeln des Materials und
Hm. Geh. Rath Prof. Dr. L. Kny für die Erlaubnils, die doppel wandigen
Gefafse aus dem Botanischen histitut der Land wirth schaftlichen Hochschule
zu benutzen.
Tiber den Einfluß farbigen Lichts auf die Färbung lebender Osdüarien. 88
Tabelle L
Spectrophotometriäehe Messungen des von verschiedenfarbigen Zellen von
OsdUaria sancta durehgelassenen Lichts.
Die Intensität (t) des ursprfinglichen Lichts ist = loo gesetzt.
I 234
720 — 700
700 — 690
690 — 680
680 — 670
670 — 660
660 — 650
650 — 640
640 — 630
630 — 620
620 — 610
610 — 600
600 — 590
590—580
580—570
570—560
560—555
555—540
540—530
530—520
520—510
510—500
500 — 490
490 — 480
480 — 470
470 — 460
460—450
450—440
440—430
430—430
^ y*
N y*
AuberateWerthe
AttÜMTstoWertfae
der Einaelbeob-
der Einselbeob-
a
aelitungen tco a
b
aehtengen Ton b
a
b
a
b
a
i^
Max.
Hin.
ts
Max.
Min.
{=:
t»
t'ss
t =
iss
83.0
89.5
77.0
84.4
95.0
73.0
84.0
88.5
83.8
84.5
94.5
635
66.5
60.0
63.6
68.5
53.0
65.5
66.4
58.7
64.8
74.0
47.8
50.5
4^.5
37.6
52.5
28.0
3«-7
33.8
34.9
37.1
49.8
45.3
47.0
42.5
35.3
55.5
25.0
30.4
31«
32.5
34.3
45.2
50.2
52.5
47.0
40.6
57.5
35.5
43.6
43.9
41.6
43.1
51.3
54.6
55.5
50.0
54.1
64.0
450
50.2
51.2
50.6
52.8
56.2
59.»
64.0
58.5
60.1
68.0
48.5
63.8
64.5
65.5
63.8
65.8
57.3
60.0
56.0
58.0
64.0
48.0
63.0
63.6
64.5
63.7
68.1
55.3
58.0
52.5
56.6
62.5
47.5
59-9
60.2
64.4
62.6
70.2
65.0
67.0
62.5
65.5
68.5
50.0
66.5
67.2
69.2
69.4
70.4
69.5
70.0
64.0
68.7
72.0
52.0
69.4
70.0
72.4
70.2
69.5
70.4
74.5
67.5
70.7
75.0
59.5
70.5
71. 1
72.8
70.4
68.7
59.9
61.0
55.5
60.8
65.0
47.0
62.8
63.6
66.5
59.5
52.9
29.9
33.5
26.5
34.4
56.0
25.0
44.4
48.8
48.0
40.0
35-5
30.2
35.0
27.5
34.6
56.5
26.0
45.6
50.4
39.7
38.0
34.2
34.7
37.0
3«.5
37.5
58.0
30.5
46.0
52.1
40.2
39.»
34.7
33.»
34.0
30.5
36.6
57.5
30.0
45-7
50.8
33.2
37-6
29.3
59.0
63.0
56.0
S6.7
63.0
46.0
55.8
53.4
36.4
45.1
36.5
62.5
65.5
58.0
59.4
65-5
47.0
58.3
57.6
38.2
50.8
41.9
56.7
595
52.5
56.4
60.0
46.5
56.2
56.0
35.1
48.2
40.4
52.8
55.0
49.0
47.8
55.0
4>.5
45.1
44.9
30.0
35.6
38.6
44.4
49.5
42.0
43.2
50.0
39.5
43.0
43.8
29.4
34.5
31.1
49.5
51.0
46.0
47.2
51.0
43.0
45.4
44.5
30.0
35.8
35-8
50.5
54.0
49.0
48.1
54.0
45.0
46.7
46.3
32.1
39.8
36.0
49.8
50.5
45-0
46.8
50.5
430
45.3
45.2
30.6
37.9
34.5
48.3
50.0
41.5
43-4
50.0
40.0
42.4
40.3
26.3
34.4
29.5
31.0
33.0
28.0
33.0
37.5
23.0
27.8
28.2
24.1
24.7
27.0
30.2
35.0
26.0
29.7
36.5
20.0
24.6
25.0
23.3
24.1
27.5
30.4
32.5
28.0
29.7
36.0
20.0
23.2
24.0
21.5
23.8
27.6
87.6
65.4
40.7
38.0
46.1
53.6
63.1
63.9
64.0
68.2
68.5
69.4
60.0
39.3
37.9
38.5
33.0
43.2
46.3
43-8
38.8
33.8
37-7
38.6
37.3
33.0
28.0
26.6
26.6
Phys, Ähh, nicht zur Akad. gehfir. Gelehrter, lf}f}2. V.
34
N. Gaidukov:'
Tabelle E
Spectrophotometrische Messungen des von verschiedenfarbigen Zellen von
OsciUaria sancta durchgelassenen Lichts.
\=
720—700
700—690
690—680
680 — 670
670 — 660
660^650
650 — 640
640 — 630
630 — 620
620 — 615
615—605
605—590
590 — 580
580—570
570—560
560-555
555—540
5.40—530
530—520
520—510
510—500
500—490
490 — 480
480 — 470
470 — 460
460 — 450
450—440
440—430
430—420
a
b
a
b
t =
j^
i=
m
79.5
80,9
80.5
81.2
59.7
61.9
59.7
60.4
32.3
34.1
34.5
35-0
295
31.6
30.3
31.5
42.1
41.5
45.5
43-5
53.1
540
51. 1
51.9
54.0
57.6
53.4
54.2
5>.9
56.6
36.7
43-3
49.5
55.5
36.1
42.0
55.9
60.7
52.7
551
55. 1
60.6
48.3
54.0
60.2
63.5
52.9
57.7
62.3
60.5
58.4
59.0
55.4
48.6
56.9
50.3
54-6
48.1
63.9
58.2
55.3
49-4
673
59.7
53.9
48.2
69.7
61.2
68.9
63.8
70.3
67.0
69.0
64.8
71.2
68.5
68.8
63.7
69.5
66.5
58.1
50.0
63.7
59.7
45.4
44.6
55.5
52.1
48.8
47.8
60.5
56.8
49.4
48.4
60.9
58.5
44.9
44.4
52.1
5».5
32.4
32.8
41.2
42.3
25.6
28.8
28.8
29.8
25.2
37.7
27.0
28.0
25.0
27.4
27.0
28.0
a
6^
t =
•
80.2
82.5
58.7
60.0
329
33."
29.8
3I.I
35.1
33.4
52.2
53.7
50.8
58.3
50.8
55.9
47.1
52.1
49.9
59.0
49.1
62.2
57.8
67.2
58.5
57.4
54.9
48.9
58.8
52.3
60.1
54.3
60.2
53.9
70.2
64.0
71.2
69.8
67.5
66.1
58.2
57.7
54.9
50.9
55.6
52.6
56.0
55.2
53.0
52.1
40.0
38.0
32.8
32.6
29.2
29.0
28.9
29.8
8
a
b
•
»^
78.5
80.9
60.0
60.0
38.7
35.3
35.6
32.3
41.7
38.6
47.8
5>.7
47.4
54.2
36.7
49.1
32.7
451
40.5
52.3
39.3
51.9
5>.5
59.9
59.4
59.1
56.8
50.3
60.5
52.3
61.6
539
62.1
53.9
67.5
61. 1
70.2
65.3
68.6
65.1
64.6
57.1
55.8
50.4
59.3
54.1
60.0
55-0
55.0
53.6
43-8
41.8
35.9
33.2
30.0
29.4
29.9
29.1
Über den Eir^ufs farbigen Lichts auf die Färbung Uhender Osdllarien. 35
Tabelle VL
Spectrophotometrische Messungen des von den Lichtfiltern
durchgelassenen Lichts.
720 — 700
680—670
630 — 620
580—570
570—560
560—550
550—540
510—490
450—430
CannSn
Braun-
gelbea
01m
Kapfer-
chlorid
Blaaes
61m
Knpfer-
ozydp
ammoniik
6c
7c
4C
3C
3d
•
l=r
t =
1 =
m
lOO.O
100.0
0.0
65.0
31.0
68.5
97.0
7.5
50.0
16.0
53.5
96.5
lO.O
21.0
9.5
7.0
90.0
31.0
20.0
lO.O
7.5
88.0
37.5
30.0
"5
11.0
55.S
67.0
1 38.0
1 14.0
10.0
19.0
66.0
70.0
92.5
10.0
9.0
35-0
100.0
lOO.O
Anlli
n*
Tiolett .
67.5
60.0
23.5 '
lO.O
".5
20.0
ai-5
lOO.O
Die Zahlen sind Mittelwerthe ans je 5 — 20 Messungen.
36 'S.QtKiJiVv.o-vi Ek^ufafarUgenLiichb<xirfdieFa$lM»iglA^
Erklärung der Tabellen und Tafeht
• I, Ift,
• I.
• I, aa,
. I.
. I, ib.
» I.
" I, 30,
. U,
• I. 3*.
• n.
• I. 4«.
• n.
• I. 4*.
• n,
Tab. I, itfi Taf.l, Fig. la. Curve, Farbe und Spectrum der normalen violetten Zellen
der OsciUaria sancta.
Ib (Curve). Mittel von Messungen an la Fäden der normalen
Oscälaria aancta,
I, » IIa. Curve, Farbe und Spectrum der normalen braunvioletten
Zellen.
Hb (Curve). Curve derselben Zellen in Canada-Balsam.
n» » nia. Curve, Farbe und Spectrum der braungelben Zellen aas
den Culturen im blauen Lichte (blaues Glas).
JUb (Curve). Mittel von Messungen an 4 verschieden gefärbten
Fäden aus denselben Culturen.
IVa. Curve, Farbe und Spectrum der röthlichorangen Fäden aus
den Cu eis -Licht -Culturen.
n, » IV i (Curve). Mittel von Messungen an 4 verschieden gefärbten
Fäden aus denselben Culturen.
Tab. n, 5a, Taf. III, Fig. Va. Curve, Farbe und Spectrum der graubläulichen Zellen aus
den Anilin violett - licht - Culturen.
» 11,5^, üin, " Vi (Curve). Mittel von Messungen an 3 verschieden gefärbten
Fäden aus denselben Culturen.
IQ, » Via. Curve, Farbe und Spectrum der helbpangrünen Zellen aus
den Carminlicht- Culturen.
» V\b. Mittel von Messungen an 4 verschieden gefärbten Fäden
AUS denselben Culturen.
» Vlla. Curve, Farbe und Spectrum der graugrünen Zellen aus
den Culturen im braungelben Lichte (braungelbes Glas).
IV, » VII i. Curve und Farbe der hellvioletten Zellen aus denselben
Culturen.
» Villa. Curve, Farbe und Spectrum der spangrunen Zellen aus
denselben Culturen.
» Villi (Curve). Mittel von Messungen an 5 verschieden gefärbten
Fäden aus denselben Culturen.
Tab. III, 6 c, Taf. III, Fig. VI c. Curve und Farbe der Carmin - Losung.
» III, 7c, »IV, » VII c. Curve und Farbe des braungelben Glases.
» III, 4c, » II, » IVc. Curve und Farbe der CuCla -Losung.
• in, 3c, • II, • III c. Curve und Farbe des blauen Glases.
• m, 3c^. Curve des Kupferoxydammoniaks.
» III, 5 c, Taf. m, Fig. Vc. Curve und Farbe der Anilinviolett -Losung.
. U, 6a,
. m,
. n, 66,
. m.
. n, 7a,
. IV,
• U. 7*,
• IV,
> n, 8a,
• IV,
> II, 86,
• IV,
fC. I¥eu/i. Akad, (LWmenmsA. — AtJuKg t. d. Abk. 1902. Btys.-math. CL
%ü-riVi
K. B-eu/i. Aiad. d.Wu$mtoh. — Anhang z. d. Abh. 1902. TlM/s.-matk. Cl.
K. Prmi/s. Akad. d. WütmsoH. — Anhang t. d. Ahh. 1902. FfufB.-math. CL Tb^M.
m
PHÜ^OSOPHISCHE UND HISTORISCHE
ABHANDLUNGEN.
Ein Bruchstück altagyptischer Annalen.
Von
Dr. HEINRICH SCHAFER.
Mit Beiträgen von Dr. LUDWIG BORCHARDT und Prof. Dr. KURT SETHE.
IM.-hist. Mh. nicht zur Akad. gehär. Gelehrter. 1902. I. 1
Vorgelegt in der Gesammtsitzung am 6. März 1902
[Sitzungsberichte St. XIII S. 255].
Zum Druck eingereicht am 29. Mai, ausgegeben am 17. Juli 1902.
1.
öeit dem Jahre 1877 befindet sich im Museum von Palermo ein Bruch-
stück einer merkwürdigen Inschrift^ die von Allem , was sonst aus Aegypten
bekannt ist, völlig abweicht. Da auf ihm mehrere Königsnamen aus der
ersten Zeit der ägyptischen Geschichte vorkonmien, ist die Inschrift seit
ihrem Bekanntwerden mehrfach erwähnt worden. Vor Allem in den letzten
Jahren ist sie in den Vordergrund des Interesses gerückt, seit die Gräber
der Könige aus den ersten Dynastien in Abydos gefunden worden sind.
Trotzdem ist noch keine befriedigende Deutung der Inschrift als Ganzes
gegeben worden. Die bis jetzt allgemein verbreitete Ansicht über ihren
Inhalt ist von Hrn. E. Naville so formulirt worden^: »Le document est
une sorte de calendrier contenant le catalogue des donations faites par un
certain nombre de rois de l'Ancien- Empire et l'indication de fötes ä c^le-
brer*. Die folgenden AusftÜirungen sollen zeigen, dafs diese Deutung der
Inschrift keineswegs gerecht wird.
2.
Die Inschrift ist zum ersten Male von Hm. A. Pellegrini 1896 in einer
in Anbetracht ihrer Schwierigkeit vortrefflichen Weise veröffentlicht worden.*
Der neuen Veröffentlichung und Bearbeitung, die hiermit vorgelegt wird,
liegt eine CoUation von L. Borchardt zu Grunde^, während es der Güte
des Hrn. A. Salin as in Palermo zu danken ist, daiä wir seine schönen
* Rec. de trav. XXI, p. 112.
' Archivio storico Siciliano, Palermo 1896, p. 297 ff. mit zwei Tafeln.
• Der Abstecher nach Palermo war von L. Borchardt eigens zu dem Zweck unter-
nommen worden, eine gute Copie der Inschrift zu erlangen.
r
4 H. Schäfer:
photographischen Aufnahmen der Inschrift im Lichtdruck hier reprodu-
ciren können.
Die Inschrift steht auf zwei Seiten einer 6T5 dicken Platte aus »Diorite
anfibolica«. Das erhaltene Stück, das in den gröfsten Maisen 43*^5 hoch
und 25*^ breit ist, ist auf allen Seiten abgebrochen und nur ein Theil
einer gro&en Platte, deren Gröfse wir auch nicht einmal annähernd be-
stimmen können.
Die eine Seite des Bruchstücks , die wir die Vorderseite nennen wollen,
betrifft Könige von der ältesten Zeit bis zur vierten Dynastie , während auf
der anderen solche der fünften Dynastie genannt werden. Aus der letzt-
genannten Zeit dürfte die Inschrift stammen. Dazu stimmt, dass, wie
Borchardt bemerkt hat imd die Photographie bestätigt, die Schriftzeichen
ausgesprochen den Charakter des a. R. tragen.
3.
Als Sethe, Borchardt und ich die von Borchardt mitgebrachten
Photographien und Collationen im Herbst 1901 zusammen betrachteten\
wurde uns klar, dafs eine wichtige Thatsache bisher nicht richtig ausge-
nutzt worden war^: die einzelnen Rubriken, in die die Schriftstreifen des
Steines getheilt sind, werden nämlich durch das Zeichen für »Jahr« | ge-
trennt. Dafs es wirklich dieses Zeichen ist, zeigt die Photographie völlig
deutlich.^ Daraus ergab sich uns als natürlicher Schlufs, daf& Alles, was
nach einem solchen f bis zum nächstfolgenden hin steht, sich auf ein Jahr be-
zieht. Nun ist schon von Hm. Naville beobachtet worden*, dafs immer eine
grölsere Reihe solcher Rubriken von den nächstfolgenden durch einen Strich
^ Die folgende Arbeit bietet im Wesentlichen nur das Resultat dieser gemeinsamen
Besprechung. Sie will die damals gewonnenen Grundzöge ftlr eine richtigere Wßrdigung
der Inschrift sichern , auf Einzelheiten aber nur eingehen , soweit das unmittelbar zur Hand
liegende Material es erlaubt.
^ Hr. Naville erwähnt sie mit den Worten (p. 115): »Le fait que ces compartiments
sont separes par des palmes me semble indiquer quHl s'agit d'anniversaires, ou de f&tes,
ou de jours sp^ciaux dans lesquels s'etait passe quelque evenement; ou devaü 4tre eSlShrSe
quelque ceremonie«.
* Auf den Tafeln des Hrn. PellegrinJ ist der charakteristische kleine Querstrich
überall vergessen.
^ p>ii3 unten »quand le roi change«.
Em Bruchstück aUägypHscher Annalen. 5
getrennt ist, der aber die Zeile hinausgeht. Hier sind also grOJGsere Zeit-
abschnitte markirt. Dafs ein solcher Iftngerer Abschnitt die Regierung eines
Königs darstellt» wird schon wahrscheinlich durch die Königsnamen, die
sich über den Zeilen befinden. Beachtet man dazu aber, was auch Hr. Naville ^
gesehen hat, dafs n&mlich immer gerade auf die Markirung eines solchen
gröJGseren Abschnittes unmittelbar die Notiz j^ »Vereinigung der beiden
Länder« folgt, die sich offenbar auf die Krönung des Königs bezieht, so wird
man die Erklärung dieser Abschnitte als Regierungen für gesichert ansehen.
An und für sich wäre es nun möglich, dafs in einer Inschrift, wie
die unsere es ist, nichts weiter vorläge als die Notirung einiger durch
bemerkenswerthe Ereignisse ausgezeichneter Jahre, ohne dals eine lücken-
lose Aufzählung aller Jahre beabsichtigt wäre.
Ein solcher Gedanke ist aber bei unserer Inschrift ausgeschlossen
durch die eigenthümliche Angabe, die sich am Schlufs imd am Anfang
jedes Regierungsabschnittes findet. An beiden Stellen wird nämlich regel-
mäJGsig eine Zahl von Monaten und Tagen vermerkt.
So heifst es z. B. unter dem ersten Jahre der Regierung des Königs U.
(Vs. Z. 2 Nr.3): ^O ^ S^^^^O- Käme diese Stelle so wie hier
geschrieben in einer späteren ägyptischen Inschrift vor, so würde man
niemals darauf kommen, in dem ^:S^G '' ein Datum zu suchen. Wir
>^^ I I I
vermissen ja die gewohnte Angabe der Jahreszeit. Dafs es aber doch als
Datum zu erklären ist, hat Hr. Naville durch Heranziehen der genau
entsprechenden Inschrift aus Derelbahri (Eg. Expl. F. Der elbahri Taf.63)
gezeigt, bei der an der Stelle des ^^^Q ^ ein | TJtT yV steht. Hr.
Naville bemerkt zu den Daten unseres Steins also mit Recht: On pourrait
conclure de ces dates qu'ä cette epoque reculee, on comptait tous les
mois a la file sans s'inquieter de la division en saisons, laquelle, peut-
ßtre, n'avait pas encore ete adoptee. Die Inschrift aus Der el bahri be-
weist durch die Worte ®{({ »Anfang glücklicher Jahre «^, die sie dem
Datum beiftlgt, klar, was sich ja eigentlich von selbst versteht, dafs dieses
Datum den ersten Tag der Regierung des Königs bezeichnet.
^ p. 113 unten bis p. 114 oben. Vor Allem ist die wichtige Stelle Eg. Expl. F. Der
el bafeiri Taf. 63 schon von ihm angeführt.
' So nach S e t h e 's richtiger Übersetzung ÄZ. XXXVI S. 66.
6 H. Schafeb:
Nun hat Hr. Nav ille aber dieselbe Erklärung auch auf die Monats- und
Tagesangaben am Ende der Regierungen angewendet. Wenn es z. B. in dem
letzten Jahresabschnitt unter König T. (Vs. Z. 2 Nr. 2) heilst: ^-»^ ^-^ ^ ,
so übersetzt er auch dies als Datum: 6**' Monat, 7**' Tag. Doch scheint es mir
nicht möglich, diese Endnotizen ebenso zu behandeln wie die Anfangs-
notizen. Sie sind gewils keine Daten. Was für ein Datum sollte hier,
am Ende jeder Regierung, genannt sein? Das Einzige, worauf man ver-
fallen könnte, wäre der Todestag des Königs. Aber dessen regelmäfsige
Notirung wäre ja ohne jeden praktischen Werth , vor Allem wenn, wie
wir eben gesehen haben, der erste Tag des neuen Königs mit seinem
Datum angegeben ist. Im Allgemeinen müüsten ja auch die beiden Daten
sich nicht unterscheiden, da der neue König seine Regierung unmittelbar
vom Tode des alten rechnete.
Sieht man genauer zu, so bemerkt man, dafs in der Inschrift die
Monatsangaben am Anfang und die am Ende der Regierungen ganz ver-
schieden behandelt sind. Während das Datum des Regierungsantrittes,
wie es sich gehört, mit den übrigen Ereignissen in einen Jahresabschnitt
zusammengeschachtelt wird, ist den Monaten und Tagen, die am Ende
der Regierungen notirt sind, immer ein besonderer Jahresabschnitt mit j
gewidmet. Das pafst absolut nicht zu der Annahme eines Datums. Ich
glaube vielmehr, es ist daraus mit völliger Sicherheit zu folgern, dafs
diese Schlufsangaben wirklich selbständige Jahre bedeuten — allerdings
aber nicht vollständige. Wo sich eine solche Angabe findet, und das
wird eigentlich immer der FaU sein , hat eben der König sein letztes Jahr
nicht vollendet, sondern dieses hat nur z. B. 6 Monate und 7 Tage umfafst.
Eine solche Angabe der Monate und Tage , die die unvollendeten letzten
Jahre umfafst haben, wäre zwecklos, wenn die vorhergehenden Rubriken
nur eine Auswahl der Regierungsjahre der betreffenden Könige darstellten.
Vielmehr müssen die aufgezählten Jahre ohne Lücken auf einander folgen,
so dafs aus der Liste, wenn sie vollständig erhalten wäre, ohne Weiteres
die Zahl der Jahre, Monate und Tage, die ein jeder der genannten Könige
regiert hat, abgelesen werden könnte.
Doch wir können, denke ich, noch weiter gehen. Was hätte die
sorgfllltige Notirung jedes einzelnen, sogar unvollständigen, Jahres der Re-
gierungen fiir einen Sinn, wenn nicht der Zweck der Inschrift eine solche
Ein Bruchstück altägt/ptischer Annalm. 7
genaue Zeitnotirung verlangt hatte? Es folgt meiner Ansicht nach aus
dieser peinlichen Genauigkeit, dafs auch die Regierungen unter sich wieder
eine ununterbrochene Reihe gebildet haben. Wäre der Stein vollständig
auf uns gekonunen, so f&nden wir auf ihm jedes einzelne Jahr der ägypti-
schen Geschichte 9 von der ältesten Zeit bis zur fünften Dynastie hin, ver-
zeichnet. Das heisst also: wir haben in dem Stein von Palermo ein Bruch-
stück amtlicher ägyptischer Annalen vor uns.
Dazu stimmt gut eine Beobachtung, die auch Hr. Naville schon ge-
macht hat. Wie man nämlich, auch ohne den Inhalt genauer zu prüfen,
sieht, ändert sich der Charakter der Notizen innerhalb der Inschrift.
Die erste Zeüe der Vorderseite enthält nur die Namen von Königen
von TJnterägypten ohne Angaben der Jahre. Die zweite bis fünfte Zeile
der Vorderseite, die den ersten drei Dynastien entsprechen, zählen zwar
die einzelnen Jahre auf, aber nur mit bestimmten Hauptereignissen. In
der sechsten Zeile, die die Regierung des Snefru, aus dem Anfang der
vierten Dynastie, betrifft, fliefst die Kunde schon reichlicher: die Jahres-
abtheilungen sind doppelt bis dreifach so breit wie auf den vorhergehenden
Zeilen. Auf der Rückseite, die die f&nfte Dynastie behandelt, sind die
Angaben noch ausfuhrlicher, und der Umfang der Jahre steigert sich bis
auf das Zehnfache derer der Vorderseite. Je näher man eben der eigenen
Zeit kam, desto mehr konnte und wollte man berichten.
Wer die eben aufgezählten Thatsaehen überblickt, wird nicht wohl
daran zweifeln können , dafs die Erklärung der Inschrift als Annalenbruch-
stück unabweislich ist. Dafs solche Annalen bestanden haben, ist bei
einem Culturvolk, das noch keine Aera besitzt, und, wie wir unten sehen
werden, die Regentei^jahre noch nicht zählte, immer anzunehmen; es ist
aber das erste Mal, dafs sich unter den uns erhaltenen ägyptischen Denk-
mälern ein Bruchstück derselben nachweisen läfst. Der bekannte Turiner
Königspapyrus, der bei jedem König nur die Summe der Jahre, wenn
auch ebenfalls mit Angabe der überschüssigen Monate und Tage, vermerkt,
ist nur ein Auszug aus solchen Annalen.^ Die sonst in den Inschriften
erhaltenen Königslisten sind wieder nur Extracte aus Listen wie der
Papyrus in Turin. Sie geben nur die Namen der Könige und auch diese
nicht einmal vollständig.
^ Auch Manetbo hat in seinem Geschichtswerk, wie das bei Josephus erhaltene
Bruchstück zeigt, wenigstens noch die überschüssigen Monate notirt.
8 H. Schäfeb:
4.
Wenn es uns nun auch nicht Wunder nehmen kann, dals man in
der fönften Dynastie noch über die vierte Bescheid wusste, die ja durch
ihre groisen Bauten dem Volke immer im Gred&chtnils bleiben mu&te,
so könnte man sich doch wundem, wie sich eine Tradition erhalten konnte,
die noch aus den Zeiten der ersten Dynastien bei jedem Jahre eines
Königs ein bestimmtes Ereigniis anzugeben wu&te.
Hier setzt nun eine Beobachtung Sethe's ein, die dieses Wunder sehr
natürlich erklärt und nicht nur meiner Deutung des Palermo-Steines völlige
Sicherheit giebt, sondern auch sonst för die Greschichte des ägyptischen
a. R. von weittragender Bedeutung ist.
Sethe macht nämlich darauf aufinerksam, dafs uns in anderen In-
schriften eine ganze Reihe von Datirungen erhalten ist, bei denen die
Jahre nicht mit Zahlen, sondern nach bestimmten Ereignissen benannt
sind. Die Ausführung seiner Entdeckung wird Sethe selbst wohl anderswo
geben. Ich möchte von den Beispielen, die er uns genannt hat, nur
einige anföhren, die am meisten zur Erklärung unserer Inschrift beitragen.
1. j [y> 8 9% »Jahr des Kampfs und des Schiagens der Nordvölker«
auf dem in Hierakonpolis gefundenen Geßlfse des Königs ^ (3. Dynastie).
2. jfl^.ifl^ U.S.W. »Jahr der Verehrung des Horus« auf einem
Täfelchen aus dem Grabe des Königs » in Abydos: Petrie, Royal tombsl,
Taf. 12 Nr. i; H, Taf 8, 5. Ähnlich unter dem Könige ^ Petrie I,
Taf. 17 Nr. 29, unter ^^ Petrie II, Taf. 39 Nr. 54.
3. [®^.=i=i=i5g^_i,[^^^'cr7<|>^ .Jahr der zweiten Zählung
alles Grofs- und Kleinviehs des Nord- und Südlandes«, LD. II, n6a in
einer Inschrift Phiops' II im Wadi Marära. Eine andere ähnliche Inschrift
aus dem Wadi Marära, aber aus der Zeit des'Issi ÄZ. 1869 S. 26 (fehlerhaft).
Ich selbst möchte dem noch hinzufügen:
^•fi
I I lÄXÄXXO— in der sehr alten Inschrift der Berliner Samm-
lung Nr. 14467 ^- »Jahr der Vereinigung der beiden Länder, Monat 4 der
Emtejahreszeit, Tag 4«.
Aegypt. Inschr. S. 7 1 .
Ein Bruchstück aMgyptischer Annalen. 9
Diese Datirungen geschehen, wie Set he bemerkt, nach Angaben, die
genau denen auf dem Palermo -Stein entsprechen. Man vergleiche z. B.:
mit 1: f P \^|c^ Jjcf) »^»s J*hr des Schiagens der Inw« in Vs. Z. 3,
sowie den Negerfeldzug unter Snefru in Z. 6;
mit 2: j n v^ ^nJ »das Jahr der Verehrimg des Gottes Horus«. Diese
Angabe findet sich bei den Königen der zweiten, vierten und fanften
Reihe der Vorderseite. Nach einer gewife richtigen Vermuthung Sethe's
bezeichnet sie eine Fahrt nach Hierakonpolis in Oberägypten, um dort
eine Culthandlung zu verrichten, wie es die alten Könige von Oberägypten
vor Menes, nach Sethe die sogenannten fl \^^,. »die Verehrer des Horus«,
thaten. Die Fahrt findet alle zwei Jahre statt;
mit 3: { Lir^ \ 5^ »Jahr der zweiten Zählung des Rindviehs« steht
in der zweiten Zeile der Rückseite imserer Inschrift, während auf Z. 5
der Vorderseite zweimal gesagt wird, dals »das Gold und der Acker«
gezählt wurde © x •, i (isr\ ()J)J] , während das Vieh nicht erwähnt wird.
Sehr viel häufiger aber sind die Angaben der Form: »Jahr des zweiten
(dritten u. s.w.) Males der Zählung« ohne Angabe dessen, was gezählt
wurde. Solche Notiz findet sich bei den Königen der vierten und fünften
Reihe der Vorderseite regelmäfsig alle zwei Jahre, während bei Snefru
einmal auch in zwei Jahren hinter einander gezählt wird. Es handelt
sich* entweder um Zählungen des fi scalischen Vermögens oder um Zäh-
lungen des Privatvermögens zu Steuerzwecken, die meist das Ganze
umfassen, manchmal aber sich nur auf das Vieh oder auf den Landbesitz
^ Vergl. Inschrift des Wnl Z. 36 (1 ^ ( _ /wyw ^J^ ^ und viele andere
Anspielungen darauf in anderen Texten. Wie Wnl angiebt, erstreckte sich diese Zählung
manchmal auch auf die zu leistende Fronarbeit. Allerdings scheinen, wie Borchardt be-
merkt, die Abstände der Z&hlungen für Zählungen des gesammten Volksvermogens
etwas klein, doch ist das kein ernstlicher Hinderungsgrund. Borchardt macht übrigens
darauf aufmerksam, dals man aus den »Zählkarten« Griff ith Kahun Pap. 9 und 10 (Haus-
haltungszählkarten), 21 (Landzählkarte) und 16/17 (Viehzählkarte?) für das m. R. wirklich
solche allgemeinen Zählungen nachweisen kann, und dafs sich f&r diese Zeit ein Abstand
von 14 Jahren zu ergeben scheint, der noch in der griechischen und römischen Zeit fest-
gehalten wurde (s. Wilcken, Ostraka, S. 438), bis die Indictionen mit ihren fünfzehn-
jährigen Intervallen eingeführt wurden.
Phil.'hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter, 1902. L 2
10 H. Schäfeb:
oder das Baarvermögen erstrecken. Im Ende der Rückseite findet sich
eine noch weitere Verkürzung. Es steht da nur j© »Jahr des fönften
Males«. Gewifs ist auch das auf die Zählungen zu beziehen;
mit 4: die Notiz ^Ki sini Üwi, die sich, wie oben erwähnt, auf unserem
Stein immer im ersten Jahre eines jeden Königs findet.
Somit hat Sethe unzweifelhaft Recht, wenn er behauptet, dafs die auf
unserem Stein hinter den | -Zeichen genannten Ereignisse solche sind, die
man zur Bezeichnung der einzelnen Regierungsjahre benutzte.^
Einem Jeden, der ims bis hierher gefolgt ist, wird einfallen, dafe
genau dieselbe Sitte der Datirung nach Ereignissen sich in derselben alten
Zeit auch in Babylonien findet. Zum Vergleich sei ein Stück aus den alt-
babylonischen Annalen hier hergesetzt, dessen Übersetzung ich der Güte des
Hrn. Messerschmidt verdanke. Es ist der Anfang der Regierung des
Königs Bur-Sin:
Jahr, in welchem Bur-Sin König (wurde).
Jahr, in welchem der König Bur-Sin ürbillum zerstörte.
Jahr, in welchem er den Thron des Gottes Bei anfertigte.
Jahr, in welchem er den erhabenen , grossen Herrn (d. i. ein Priester)
des Gottes Anu (und) den Herrn (Priester) des Gottes Nannar einsetzte.
Jahr, in welchem er den Herrn (Priester) des grofsen Wohnsitzes der
Göttin Nana einsetzte.
Jahr, in welchem er die Stadt Schaschru zerstörte.
u. s. w. u. s. w.
^ Eine solche Datirung nach Ereignissen ist im gewöhnlichen Leben bei allen Völkern
sehr häufig. Hr. Spiegelberg weist mich auf ein derartiges Beispiel aus einem ägyptischen
Text hin, den er in seinen »Studien und Materialien« S. Syff. veröffentlicht hat: Bei einem
Verhör wird eine Frau nach dem Verbleib einer Geldsumme gefragt. Sie antwortet: -Ich
habe es gebraucht , um Getreide zu kaufen in dem Jahre der . . . Thiere (irgend welche
Nagethiere), als man hungerte«. So erklärt es sich, dafs es unfruchtbar blieb, wenn
Hr. Na vi 11 e in seinem neuesten Aufsatz (Rec. XXIV, ii8 nach Maspero) die Aufschi*ift
des B§-Gefalses richtig aufgefafst hat, wenn Sethe schon lange einige der oben besprochenen
Inschriften, z. B. die B§- Inschrift und die Nennung der Viehzählungen in den Felsinschriften
des Wadi Marlra als Datirungen erkannt hat, und wenn auch ich die Inschrift Berlin 14467
rnpt iffU tffüt gelesen und auf das erste Jahr eines Königs bezogen habe; erst durch Sethe
bei unserer Beschäftigung mit dem Palermostein ist das Alles in das richtige Licht gerückt
worden. Denn gerade um die Erkenntnifs der amtlichen und fortlau/mden Anwendung
dieser Datirungsart auch im alten Aegypten handelt es sich hier.
Ein Bruchstück aüägyptischer Annaien. 11
Die Ähnlichkeit unserer Sgyptischen Inschrift mit diesen babylonischen
Annaien ist schlagend.
5.
Für das Verständnifs des praktischen Gebrauchs einer solchen Datirungs-
art möchte ich noch auf Folgendes aufinerksam machen:
Erstens durften natürlich innerhalb derselben Regierung nie zwei
Jahre dieselbe Bezeichnung tragen, da eine solche Wiederholung grofse
Verwirrung anrichten würde. In der That ist es auch auf unserem Stein
nie der Fall. So viele Jahrnotizen auch z. B. mit SmS 1}r oder ^^ itni Jh^
hitt anfangen, sie sind doch alle durch weitere Zusätze unterschieden.
Zweitens konnte ein jedes Jahr nicht schon von seinem ersten Tage
an eine Bezeichnung nach einem Ereignifs tragen. Erst wenn ein cha-
rakteristisches Ereignifs eingetreten war, oder gar erst nach dem Ablauf
des Jahres konnte ein amtlicher Erlafs erfolgen, der die Benennung des
Jahres verordnete. Inzwischen half man sich auf eine sehr naheliegende
Weise. So wird z. B. in den babylonischen Annaien das zweite Jahr des
Königs Bur-Sin bezeichnet als »das Jahr, in dem der König Bur-Sin die
Stadt Ur-billum zerstörte«. In den Urkunden aus diesem Jahre dagegen
findet sich auch die Benennung: »Jahr nach dem, in welchem Bur-Sin
König wurde«. Dem Schreiber der Urkunde war offenbar die officielle
Benennung des Jahres noch nicht bekannt geworden.
Dafs die Aegypter genau so verfahren sind , zeigen z. B. die Datirungen
von Felsinschriften des a. R. im Wadi Marära. So datirt eine Inschrift aus
der Zeit König Phiops' I.': f ^ r^© 0 ! ! | ! ^"^ ^ oEE »im Jahre nach
dem i8. Mal (der Zählung) im dritten Monat der Erntezeit am S.Tage«.
In Babylonien sowohl wie in Aegypten ist es vorgekommen, dafs
manche Jahre nie einen eigenen Namen bekommen haben , sondern auch
in den Annaien in der Form »Jahr nach dem, in welchem . . .« geföhrt
^ LD. II ii6a mit Verbesserung des ersten Q in ®. — Die fast gleichzeitige Inschrift
LD. U I iS9 zeigt die Form | 0 011111111 O, .Vi 1 1 r - ^«'' Schreiber
von LD. II ii5Är giebt gar nur i , also nur »Jahr nach«, und vergifst das Wichtigste,
I ®o
nämlich »dem achtzehnten Mal (der Zählung)«, LD. II 115 Ar und 115^ sind Qbrigens beide
aus demselben Jahre.
2*
12 H. Schafer:
wurden. In den babylonischen Annalen sind solche Falle häufig» aber
auch auf unserem ägyptischen Bruchstück finden sie sich , wenn die Ver*
muthung richtig ist, dals in Z. 3 Nr. i der Rückseite \ . . »Jahr nach
dem zweiten Male (der Zählung)« zu lesen ist.^
Selbst wenn ein Jahr erst gegen Ende wirklich einen eigenen offi-
ciellen Namen nach einem Ereignifs bekam, konnte durch solche Aushülfe-
bezeichnungen doch nie eine Verwirrung eintreten.
6.
Für das allgemeine Verständnifs des Steins haben wir zum Schlufs
noch einen merkwürdigen Theil seiner Inschriften zu besprechen. Unter
den einzelnen Jahresabschnitten finden sich regelmäfsig Notizen, die ein
Mafs in Ellen angeben, ohne dafs sich ersehen liefse, worauf sie gehen.
In der zweiten Zeile der Vorderseite, die auf eine uralte Zeit geht, fehlt
die Angabe bei zwei Jahren noch ganz; von da ab fehlt sie bei keinem
Jahre mehr. Des Weiteren läfst sich, wie uns Hr. Er man bemerkte, be-
obachten, dafs die Angaben der verschiedenen Zeilen und Zeiten nicht mit
der gleichen Genauigkeit angegeben werden. Die ersten vier Zeilen der
Vorderseite geben diese Mafse nur in Ellen /*— fl, Spannen <K ^, Hand-
breiten ^£, und Fingern ^, während die fiinfte und sechste Zeile der
Vorderseite und die Rückseite sogar noch Bruchtheile der Finger benutzen.*
Diese späteren Theile haben also ein genaueres Mefsverfahren als die
älteren.
Was bedeuten nun diese EUenangaben? Sie müssen sicher etwas
Wichtiges sein, da man sie sonst nicht officiell bewahrt hätte. Darum
erscheint die von Borchardt vorgeschlagene Deutung, dafs es Nilhöhen
^ Ahnlich in Z. 4 Nr. i.
' Hr. Er man weist auf den auffälligen Umstand hin, dafs dieses Mafs in unserer In-
schrift nur auf die Zeile 2 und 3 der Vorderseite beschränkt und nie von Handbreiten und
Fingern begleitet ist. — Das Zeichen selbst zeigt deutlich die gespannt aufgesetzte Hand,
wobei der einzelne Strich den Daumen, der doppelte die übrigen Finger andeutet. In spä-
terer Zeit wird dieses Zeichen, dessen Lautwerth wir nicht kennen, mit der Vogelklaue 0 ,
die wohl s^ t zu lesen ist, zusammengeworfen.
ist i, rf gewifs -f ; was aber y[\ ist, weifs ich nicht; es ist wohl nicht
gleich 0 d. h. J, denn ^ wird (Rs. Z. 3) "^"^^ geschrieben; ist es etwa ^?
I I I 1 1 1 1
Em BnuAslikA aUägyptiseher Ännalen. 13
seien, sehr einleuchtend. Die KenntniTs der Höhe des Nils in den ein-
zelnen Jahren hatte ja wegen der Steuern auch nach Jahren noch für den
Staat ein Interesse. Gewifs wird diese Deutung das Richtige treffen, aber
so glatt, wie sie auf den ersten Blick erscheinen kann, ist sie nicht.
Die Zahlen bewegen sich nämlich nicht in einer Höhe, wie wir sie
sonst bei Nilhöhenangaben zu finden gewöhnt sind, sondern liegen nur
zwischen i und 8 Ellen. Die Ma&e des Steins müssen also von einem weit
höheren Punkte gemessen sein, als über dem tiefsten sommerlichen Tief-
stand, der sonst als Nullpunkt angesehen wird. Es wäre also eigentlich
zu allen auf unserem Stein genannten Ellenzahlen eine bestimmte, uns un-
bekannte Zahl hinzuzurechnen. Obgleich uns sonst ein derartiges Verfahren
bei der Nilhöhenmessung nicht bekannt ist, hat diese Annahme doch
wohl kaum ernsthafte Schwierigkeiten.*
Ich gebe im Folgenden den Text der Inschrift unter Berücksichtigung
der Photographien des Hm. Salinas und Borchardt's Collation, und zwar
in die einzelnen Jahre zerlegt. Die beigefugte Ubersetzimg ist natürlich
nur ein Versuch, imd auch die gelegentlich gegebenen Bemerkungen können
keinen Anspruch darauf machen, einen so schwierigen Text zu erschöpfen.
Dafs sehr Vieles von dem Gesagten recht fraglich ist, auch wo es nicht
ausdrücklich gesagt ist, bleibt immer zu beachten. Aber doch ist ein
solcher Ubersetzimgsversuch das beste Mittel, das Verständnifs der In-
schrift als Ganzes zu ermöglichen, und nur darauf kommt es uns ja vor-
läufig an.
^ Ein kleines Bedenken äufsert Borchardt selbst, das ist die für Wasserstands-
messungen fast übergrofse Genauigkeit, die ja sogar noch zwischen -f und ^ Finger unter-
scheidet. Hr. Er man hat endlich beobachtet, dafs, wenn man für jede Zeile den Durch-
schnitt dieser Höhenangaben berechnet, diese Durchschnittszahlen von Zeile zu Zeile sinken.
Ich möchte diese Beobachtung hier nur anführen, ohne eine Erklärung der Thatsache zu
versuchen.
14
H. Schäfer:
Ton Unterägypten
aus der Zeit ror der Vereinigiuig
der beiden LSnder.
Vorderseite.
Zeile 1.
Sr. 1—13.
,fHtinffuinitnmtfff^
^.y.ftyn^.^ I \i^
Die Namen könnte man etwa umschreiben:
1. ---pw, 4. Tiw, 7. W5d-^nd,
2. sk?,, 5. T§, 8. Mh,
3. gj-iw, 6. N-hb(?), 9. ----^
10. — 13. zerstört.
OflTenbar haben wir hier nur Könige von Unter-
ägypten, aus der Zeit, wo die beiden Reiche noch
getrennt waren , vor uns. Ob die Könige von Ober-
ägypten auch noch auf imserem Stein gestanden
haben , läfet sich nicht sagen. Wenn der Denkstein
aus einem unterägyptischen Tempel kommt, so
ist es möglich, dafs die Könige von Oberägypten
gar nicht aufgeführt waren. Jedenfalls ist es un-
möglich, dafs sich unter diesen Namen solche von
Königen aus Abydos finden, wie Spiegelberg
(ÄZ. 35 S. lo) hoffte.
Die Reihe hat, wie der über den Namen lie-
gende freie Streifen zeigt, wohl eine zusammen-
fassende Überschrift gehabt.
Der unbeschriebene Streifen im obersten Eck-
chen des Steins gehört wohl dem Rande an.
Ein Bruchstück aüägypüscher Annalen.
15
König T.
Jahr
Name nicht erhalten.
Verehrung des Horus.*
Geburt des Anubis.*
^ Siehe dazu Einleitung § 4. Das Fest
ist nur in Z. 2 — 5 der Vs. genannt
^ Findet sich auch auf den Täfelchen
der I. Dynastie, z. B. Petrie, roy. I. II
Taf. XI, I.
Noch keine Nilhöhe.
[Vorderseite.]
ZeUe2.
Nr. 1.
Jahr 6 Monate, 7 Tage.
x-h2. Unvollständiges Jahr.
Nr. 2,
König U.
Jahr 1.
Jahr 2.
Name nicht erhalten.
Vierter Monat, Tag 13.^
Vereinigung der beiden Länder.^
Umzug um die Mauer.
^ Siehe Einleitung § 3.
' Siehe Einleitung § 4.
Nilhöhe: 6 Ellen.
Verehrung des Horus.^
Fest des dir.^
^ Das Fest wird nun alle zwei Jahre
gefeiert.
' Das Schiff ist wohl nur Determinativ,
8. zu Z. 2 Nr. II.
Nilhöhe: Nicht angegeben.
Nr. 3.
Nr. 4.
16
H. Schäfer:
[König U.]
Jahr 3. Geburt der beiden Kinder des
Königs von ünterägypten/
^ Diese Gottheiten kommen z. B. Fjt.
T. 79 = M. 109 = N. 23 vor.
Nilhohe: 4 Ellen, i Hand.
Jahr 5.
Jahr 6.
[Vorderseite.]
2.]
Nr. 5.
Jahr 4. Verehrung des Horus.
^ Dieser zweite Theil ist mir ganz un-
verständlich. Sethe bemerkt dazu: Das
erste Zeichen sieht wie die spätere Form von
kfp »räuchern« aus; das zweite, das einen
Vogel, von einem Messer durchschnitten,
darzustellen scheint, erinnert an das be-
kannte Determinativ von ^Ar
»köpfen« in den Pyramideninschriften; das
dritte Zeichen endlich scheint eine Frau,
verwundet oder geschlagen, darzustellen.
Nilhöhe: 5 Ellen, 5 Hände, i Finger.
Planen (?) des Hauses Qif-ntrw^
Fest des Sokaris (?).
^ Das ^jF mufs eine Handlung be-
zeichnen, die dem »Strickspannen« vor-
hergeht. Vergl. Zeile 3 Nr. 6. Das Gebäude
selbst wird der Palast oder das Grab des
Königs sein. .Die Festungszinnen sind
nicht ganz sicher.
Nilhöhe: 5 Ellen, 5 Hände, i Finger.
Verehrung des Horus.
Geburt der Göttin I^mt}
^ Eine im a. R. oft genannte Gottin,
z. B. Pyr. T. 76 = M. 230 = W. 197 =
N. 608 Mar. Mast. A. i = R. I. H. 98.
Nilhöhe: 5 Ellen, i Hand.
Nr. 6,
Nr. 7.
Nr. a
Em Bruchstück aüäpyptischer Anndien.
17
[KSnig U.]
Jahr 7. Erscheinen des Königs von Ober-
igypten.
Geburt des Min.
Nilhöhe: 5 Ellen.
Jahr 8. Verehrung des Horus.
Geburt des Anubis.
Nilhöhe: 6 Ellen, i Hand.
Jahr 9.
I. Mal der Feier des D^-Festes.
• ^^
Das Schiff ist nur Determinativ, so
wohl auch schon in Zeile a Nr. 4.
Nilhöhe: 4 Ellen, i Spanne.
Jahr 10. Zerstört.
[Vorderseite.]
[Zefle 2.]
Nr. 9.
Nr. 10.
Nr. 11.
Nr. 12.
Da gewlTs anzunehmen ist, dafs der Name
des Königs über der Mitte seines Regierungsab-
schnittes stand, so fehlen hier von der Regierung
des Königs U mindestens 10 (die Zahl der erhal-
Phil.-hüt Abh nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. I. 3
18
H. Schäfer:
[Vorderseite.]
[König U.] [Zefle 2.]
tenen Jahre) + 6 (der Raum, den der Name er-
fordert) = i6 Jahre. Dafs die Eönigsnamen nicht
am Anfang der Abschnitte gestanden haben, zeigt
Zeile 4, und dafs sie nicht am Ende gestanden
haben, Zeile 3.
Dieser König hat also zum mindesten 26 Jahre
regiert.
König V.
Jahr
1.
Jahr
2.
Name nicht erhalten. Nur der Schlufs vom Namen
seiner Mutter*:
"" ^* rt
^ Anders läfst sich der Frauenname an dieser Stelle
wohl kaum erklären.
Nach ähnlicher Überlegung wie die am Schlufs
von Zeile 2 angestellte fehlen hier am Anfang min-
destens 1 3 (die Zahl der erhaltenen Jahre hinter dem
Namen) + 5 (Raum für den Namen) = 18 Jahre.
Aufenthalt in Hk^ — und im Tem-
pel von S^w}
^ Die Übersetzung, besonders »Auf-
enthalt«, ist nur gerathen. Präpositionen
fehlen in diesen alten Texten oft. Wo
die beiden Städte liegen , wissen wir nicht.
Ähnlicher Gebrauch von v *^^ ^^^ ^*'
tirungstäfelchen , z. B. Petrie, roy. i. II
Taf. X, 2 (Sethe).
Nilhöhe: 3 Ellen, i Hand, 2 Finger.
Schlagen der ''Inw}
^ Also ein Feldzug gegen die Stamme
zwischen Aegypten und dem Rothen Meer.
Nilhöhe: 4 Ellen, i Spanne.
Zeile 3.
Nr. 1.
Np. 2.
Em Bruchstück altägyptischer Annalen.
19
[König V.]
Jahr Erscheinen des Königs von Ober«
X -h 3. ftgypten.
Erscheinen des Königs von Unter-
ägypten.
i^rf-Fest.
Nilhöhe: 8 Ellen, 3 Finger.
[Vorderseite.]
[Zefle 8.]
Nr. 3.
Jahr
x-h4.
. . . . der Gaue (Seen?) des Westens,
Nordens, Ostens.
Alle Menschen.
Die Übersetzung ist ganz fraglich.
Es fehlt ein Verbum, oder steckt das
in<|>?
Nilhöhe: 3 Ellen, i Spanne.
Nr. 4.
Jahr 2. Mal des J^^-Festes.
C -f- 6. Das Fest wird also in gröiseren, uns
nicht bekannten Abständen, wiederholt.
Nilhöhe: 5 Ellen, 2 Hände.
Nr. 5,
Jahr
x + 6.
Planen (?) des Hauses »Sitze der
Götter«.
Fest des Sokaris.
Im folgenden Jahre wird der Grund
zu diesem Gebftude gelegt.
Nilhöhe: 5 Ellen, i Hand, 2 Finger.
Nr. 6.
II I Ml
20
H. Schäfer:
[König V.]
Jahr Spannen des Stricks für das Haus
x-f-7. »Sitze der Götter« durch den
Priester' der l^iit
Grofses Thor.*
* -T^y nach dem alten Sprachge-
brauch statt ^Ti! (Sethe).
' Dieses §'^9 findet sich auch auf
Jahr
x + 8.
Jahr
x + 9.
Jahr
x+10.
[Vorderseite.]
[Zefle 3.]
Nr. 7.
der Schiefertafel von Hierakonpolis ÄZ. 36, Taf. 12
(Naville).
Nilhöhe: 4 Ellen, 2 Hände.
Offnen (?) des Sees vom Hause » Sitz
der Götter«.'
Schiefsen des Nilpferdes.
^ Wohl der heilige See des Tempels.
Nilhöhe: 2 Ellen.
Aufenthalt in Herakleopolis und
auf dem See des Tempels des
Gottes Hri'ifi?).
Zu »Aufenthalt« s. die Bemerkung zu
Zeile 3 Nr. i. Diese Form des Tempels
ist in den ältesten Inschriften allgemein
üblich (vergl.ÄZ. 34 8. 160; Petrie, Royal
tombs II Taf. X und öfter).
Nilhöhe: 5 Ellen.
Fahrt nach ^c^(^)^tni und Wr-k^-
. • • •
• Fahrt nach« ist sehr fraglich. Man
denkt an jd Die Präposition wäre, wie
bei Y und sonst, nicht geschrieben.
Nilhöhe: 4 Ellen, i Spanne.
Nn8.
Nr. 9,
Nr. 10.
Em Bruchstück aüägjfptischer Annalen.
21
[KSüig V.]
Jahr Geburt des Gottes J^d.^
X -f- 1 !• * Der Name dieses Gottes I
kommt vor Mar. Mast. D 19 (p. 339) und
in dem Namen
(Sethe).
Nilhöhe: 6 Ellen, i Hand, 2 Finger.
Jahr
x + 12.
Erscheinen des Königs von Unter-
ägypten.
Erstes Mal des Herumlaufens (?)
des Apis.*
^ Was f&r eine Ceremonie das ist,
wissen wir, wie bei den meisten in unse-
rer Insclirift genannten, nicht. Da nach
Manetho der Apiscult unter Kaiechos ein-
geführt ist, befinden wir uns hier gewifs
in der zweiten Dynastie.
Nilhöhe: 2 Ellen, i Spanne.
Geburt der jSs^t und der M^fdt.
Die Katze (?) auf dem n ist auch sonst
häufig das Determinativ dieses Oöttinnen-
namens (vergl. z. B. P e t r i e, Royal tombs II
Taf. VII).
Nilhöhe: 3 Ellen, 5 Hände, 2 Finger.
Jahr [Erscheinen des] Königs von Ober-
x-i-14. ägypten.
Geburt d[ ].
Jahr
X + 13.
[Vorderseite.]
[Zeile 3.]
Nr. 11.
I:
•i
I
J
Dieser König hat zum mindesten 3 2 Jahre regiert.
_j
Nr. 12.
Nr. 13.
Nr. 14.
22
H. Schafes:
KSaig Ntrn. König N§rn, der Sohn der iV»
[Vorderseite.]
Zeile 4.
Jahr
n-l.
Jahr
2.
Jahr
x-h3.
C5 P
f
nni
So nach Sethe zu deuten, der in X ein
Wort m »Kind« erkennt, über das er bei Garstang
Bet Khalläf (zu E. 1,3a) gehandelt hat.
Schon oben zu Z. 3 hatten wirvermuthet, dals bei
den Königen die Namen der Hfttter angegeben waren.
Ntm ist der König, dessen Name unter an-
deren auf der Schulter der Statue Kairo Nr. i
steht und der in Abydos vorkommt.
Da in dieser Regierung die Zählungen regel-
mäfsig alle zwei Jahre stattfinden, so wird das
Jahr X + I das 5. oder 6. des Königs sein.
Verehrung des Horus.^
[3. Mal der Zählung.]^
^ Die hier wieder auftretenden •Ver-
ehrungen des Horus« fehlten in der vorigen
Zeile ganz.
* Mit dieser Zeile i)eginnen die Da«
tirungen nach Zählungen.
Nilhöhe: Zerstört.
Erscheinen des Königs von Ober-
ägypten.
Spannen des Stricks über dem
Hause des ^or-Rn.
Nilhöhe: 3 Ellen, 4 Hände, 2 Fin-
ger.
Verehrung des Horus.
4. Mal der Zählung.
Nilhöhe: 4 Ellen, 2 Finger.
>c
Nr- 1.
Nr. 2.
Nr. 3,
Ein Bruchstück altägyptischer Annalen.
2a
[Kftnig
Nim.]
Jahr
x + 4.
Erscheinen des Königs von Ober-
ägypten.
Erscheinen des Königs von Unter-
ägypten.
Herumlaufen des Apis.
Nilhöhe: 4 Ellen, i Hand, 2 Finger.
[Vordersdte.]
[ZeUe 4.]
Nr. 4.
Jahr Verehrung des Horus.
x-t-5. 5. Mal der Zählung.
Nilhöhe: 4 Ellen, 4 Hände.
Nr. 5,
Jahr Erscheinen des Königs von Unter-
c-f-6. ägypten.
2. Mal des Sokarisfestes.^
^ Aach dieses Fest wird also in ge-
wissen gröfseren Abstanden wiederholt.
Bis zum nächsten Mal in Zeile 4 Nr. 1 2 sind
es 6 Jahre.
Nilhöhe: 3 Ellen, 4 Hände, 2 Finger.
Nr. 6.
Jahr Verehrung des Horus.
E + 7. 6. Mal der Zählung.
Nilhöhe: 4 Ellen, 3 Finger.
Nr. 7.
24
H. Schäfer:
[König
Ntrn.]
Jahr
x + 8.
I. Mal des Festes Dwi-^r-pt?
Besiedelung der Städte ^Sm-R^^
und »Nordhaus«.
Das Fest und die Städte sind sonst
unbekannt
^ So nach Sethe: •Verehrung des
Horus vom Himmel.«
Nilhöhe:. 4 Ellen, 3 Finger.
[Vordendte.]
[Zeüe 4.]
Nr. 8.
Jahr
x + 9.
Verehrung des Horus.
7. Mal der Zählung.
Nilhöhe: i Elle.
OÖUH
« ft 11 MI
Nr. 9.
Jahr
x + 10.
Erscheinen des Königs von Unter-
ägypten.
2. Mal des Herumlaufens des Apis.
Nilhöhe: 3 Ellen, 4 Hände, 3 Finger.
Nr. 10.
Jahr Verehrung des Horus.
X + 11. 8. Mal der Zählung.
Nilhöhe: 3 Ellen, 5 Hände, 2 Finger.
Nr. 11
i
Em Brvxhatück aUägyptiBcAer Armalen.
[KSnig
Ntrn.]
Jalir
x+12.
Erscheinen des Königs von Unter-
ftgypten.
3. Mal des Sokarisfestes.'
' Vergl. EU Zeile 4 Nr. 6.
Nilhöhe: 2 Ellen, 2 Finger.
25
[Vordeneite.]
[ZeUe 4.]
Nr. 12.
MI ©
11 V
ihr Verehrung des Horus.
- 13. 9. Mal der Zahlung.
NilhShe: 2 Ellen, 2 Finger.
QÖ'ill
IIV
Nr. 13.
Jahr Erscheinen des Königs von Unter-
1 + 14. ftgypten.
Opfer (?) . . . Göttin N^bl . . . ß(-Fest.'
* Die UbersetEUDg ist gUE unsicher.
Nilhöhe; 3 Ellen.
4<
Nr. 14.
Jahr Verehrung des Horus.
x+15. 10. Mal der Zählung.
Nilhohe: Zerstört.
Nr. 15.
Fha.-Utt. Abh. nicht sar Aiad. gehör. GehArter. 1902. I.
26
H. Schafes:
Pöhüg
Jahr
Zerstört.
Nilhöhe: Zerstört.
[Vorderseite.]
[ZeQe 4.]
Nr. 16.
Es fehlen noch mindestens 1 5 Jahre des Königs,
so dafs dieser mindestens 35 Jahre regiert hat.
König W. Name nicht erhalten.
Nach den »Zählungen« zu urtheilen, fehlen
am Anfang i o oder 1 1 Jahre.
Verehrung des Horus.
6. Mal der Zählung.
Jahr
x+1.
Nilhöhe: 2 Ellen, 4 Hände, i^ Fin-
ger.
Jahr
x + 2.
Jahr
3.
Erscheinen des Königs von Ober-
ägypten.
Erscheinen des Königs von Unter-
ägypten.
Das Gebäude Mn-Nirt wird aus
Steinen erbaut.
Nilhöhe: 2 Ellen, 3 Hände, i Finger.
Verehrung des Horus.
7. Mal der Zählung (und zwar) des
Goldes und der Äcker.*
^ Siehe Einleitung § 4.
Nilhöhe: 3^ Ellen.
Zeile 5.
Nr. 1.
Nr. 2.
Nr. 3.
Em Bruchstück altäffi/ptisdier Annalen.
27
[König W.]
Jahr Geburt des ff<^'i^fnwi^
X + 4. ^ So richtig Naville. Es ist der aus
Abydos bekannte König.
Nilhöhe: 2 Ellen, 6 Hände, 2iFin-
ger.
Jahr
x-t- 5,
Jahr
Verehrung des Horus.
8. Mal der Zählung (und zwar) des
Goldes und der Acker.
Nilhöhe: 4 Ellen, 2 Hände, 2f Fin-
ger.
4. Mal des Bringens der Mauer von
Dwi Dp}
Schiffbau (?).'
' Was das bedeutet, ist mir unklar.
* Siehe die Bemerkung zu Zeile 6 Nr.2.
Nilhöhe: 4 Ellen, 2 Hände.
[Vorderseite.]
[Zeile 5.]
Nr. 4.
tf*ll Uli
Nr. 5,
Nr. 6,
Jahr
x + 7.
2 Moüate, 23 Tage.
Dieses unvollständige Jahr ist mit
dem ersten des neuen Königs in eine
Rubrik zusammengedrängt. Offenbar liegt
hier ein erst später bemerktes Versehen
vor.
0
n
n
III
xt:
Nr. 7
Dieser König hat also im Ganzen i6 oder
17 Jahre, 2 Monate, 23 Tage regiert.
28
H. Schafeb:
König X.
Jahr 1.
^^
>^— X
..V
Name nieht erhalten.
Erscheinen des Königs von Ober-
ägypten.
Erscheinen des Königs vonXJnter-
ägypten.
Vereinigung der beiden Länder.*
Umzug um die Mauer.
* Siehe Einleitung.
Das Datum (s. Zeile 2 Nr. 3) fehlt hier.
£s ist f&r die Benutzung der Annalen auch nicht ab*
solut unentbehrlich.
Nilhöhe: 4 Ellen, 2 Hände, 2f Finger.
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)\"
IMI
[Vordoveite.]
[ZeQe 5.]
Nr. 8.
• • s
• • !
Jahr 2.
Erscheinen des Königs von Ober-
ägypten.
Erscheinen des Königs von Unter-
ägypten.
Einführung* des Königs in die
beiden Snw^-Häuser.*
^ So Naville. Statt des Fisches
scheint ein Messer dazustehen.
^ So Sethe. Sind die Determinative zwei Stelen?
Nilhöhe: 4 Ellen, i-^ Hände.
Nr. 9.
Jahr 3. Verehrung des Horus.
Geburt des Min.
Nilhöhe: 2 Ellen, 3 Hände, 2^ Fin
ger.
Nr. 10-
Em Bruchstuch aUägyptiseher Annalen.
29
[König X.]
Jahr 4. Erscheinen des Königs von Ober-
ägypten.
Erscheinen des Königs von Unter-
ägypten.
Spannen des Stricks für das Ge-
bäude ^hjj^-ntrw.
Nilhöhe: 3 Ellen, 3 Hände, 2 Finger.
Jahr 5. Verehrung des Horus.
Nilhöhe: 3 Ellen - - -.
[Vorderseite.]
[Zefle 6.]
Nr. 11.
Hier fehlen noch mindestens 5+6 Jahre, so
dafs dieser König zum wenigsten 1 6 Jahre regiert hat.
Nr. 12.
König Snefm. Die Überschrift nicht erhalten , aber der Name
aus den Jahresangaben ersichtlich. Es fehlen am
Anfang, wie sich aus den »Zählungen« (wenn
diese in jedem zweiten Jahre stattfanden, vergl.
Zeile 6 Nr. 4) ergiebt, 10 oder 11 Jahre.
Jahr
1.
Geburt der] beiden Kinder des Kö
nigs von Unterägypten.^
[6. Mal der Zählung?]
» Vergl. Zeile 2 Nr. 5.
Nilhöhe: Zerstört.
Zeile 6.
Nr. 1.
30
[KSnig
Snefrn.3
Jabr
Jahr
x + 3.
Bau von hun-
dertelligeni)«!/-
^w^ Schiffen
aus Jfr'-Holz
und 60 Sech-
zehner-Königs-
barken.*
Zerhacken desNe-
gerlandes.
Bringen von
7000 Gefange-
nen, Minnern und Weibern, sowie von
2tX)000 Stück Rindern und Kleinvieh.
Erbauen der Mauer des Sfld- und Nord-
landes mit Namen (?): HlLuser des ^nfrw.
Bringen von 40 Schiffen aus (?)Cedernholz.
' Die BesiehuDg von id dir auf den Schiffbau geht
z. B. aus der BeUchrift zu einer Darstellung des Schiff-
baues bei Petrle, Medum Taf. XI, hervor.
Schiffe aus diesem Holz, das noch im o. R. vielfach,
und zwar zu denselben Zwecken wie das Cedernholz,
verarbeitet wird, kommen auch auf den Ttfelchen aus
Abydos vor (Petrie, roy. t II, Taf. X.).
* Vergl. das 8er Schiff des ünl (Zeile 41).
Nilhöhe: 2 Ellen, 2 Finger.
Machen von 35---- 122
Rindern.
Bau eines hundertelligen
iJw^-^/w^- Schiffes aus
Cedernholz sowie zweier
hundertelliger aus itfr-
Holz.
7. Mal der Zählung.
Nilhöhe: 5 Ellen, l Hand,
I Finger.
[Vorderseite.]
[Zeile 6.]
Nr. 2.
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Em Bruchstück aUägyptiaeher Annalen.
[König
1 + 4.
Jahr
x + 5.
Errichten [der Gebfiude]
■ Hoch ist die Krone
des Snefru auf dem
Södthor«
und ■Hoch ifitdieKrone
des Snefru auf dem
Nordthor«.
Anfertigung derXhQren
zum KOnigspalast aus'
Cedernholz.
8. Mal der Zählung.
Hier kommt Eum ersten Mal die Zihlung i
auf eiauider folgenden Jahren vor.
KilhÖhe: 2 Ellen, 2 H&nde, 2^ Finger.
Zerstört.
Nilhöhe: Zerstört.
31
[Vorderseite.]
[ZeUe 6.]
Nr. 4.
König Y. Von seiner Regierung ist nur ein kleines Stock Zeile 7.
der Überschrift mit dem Schlufs des Namens
seiner Mutter erhalten:
\K.H.,mill^
Ob Zeile'7 die letzte Zeile der Vorderseite bil-
dete, oder noch andere folgten, I&Tst sich nicht
ausmachen.
32
H. Schafer:
König Z. (Mykerinos?).
Jahr X.
Der Name nicht erhalten.
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Rftckseite.
ZeUel.
Nr. 1.
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nn.
IUI
X
1
[ — Monate] 24 Tage.
Es ist natürlich wieder das letzte unvollständige Jahr des Königs.
Warum der Raum vor der Zahl unbeschrieben ist, scheint mir
nicht erklSrlich.
König Schepseskaf. Die Überschrift nicht erhalten, aber der Name aus
Jahr 1. der Jahresnotiz zu er-
schlieisen.
Der Rest weggebrochen.
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a) 4 + xterMonat, ii.Tag.
Nr. 2.
Ein Bruchstück aUägypHscher Anndien.
33
[König
Sehepseskaf.]
[Rfiekseite.]
[Zeile 1.]
b) Erscheinen des Königs von Oberägypten, Er-
scheinen des Königs von Unterägypten. Vereini-
gung der beiden Länder. Umzug um die Mauern
/^irf-Fest. Geburt der beiden Wjp-toy«7<. Der König
verehrt die Götter, die die beiden Länder ver-
einigt haben.^
c) Wahl des Platzes zur Pyramide
d) Norden und Süden. 20 alle
Tage,
e) 1624 600 —
^ Sind damit die Götter bezeichnet, deren Standarten so oft vor
dem Könige hergetragen werden?
^ Der König beginnt also wirklich gleich in seinem ersten Jahr
mit der Erbauung seines Grabes.
Nilhöhe: 4 Ellen, 3 Hände, 2-J- Finger.
■ — — — — '-
König Weserkaf. Die Überschrift nicht erhalten, aber der Name aus der
Jahresnotiz zu erschließen.
Wenn die Zählungen alle zwei Jahre stattfanden , fehlen am
Anfang vier oder fönf Jahre.
Jahr 3. Mal des Findens (?)
^ ^ Nilhöhe: Zerstört.
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INI
Vz.
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PhU.-Mst. Abh. nicht sur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. I.
Zefle 2.
Nr. 1
34
H. Scbäfek:
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38 H. SchAfeb:
[Kfinig [RBckseite.]
Sahnrec.] Zeile 4.
Da hier ebenso wie in der vorigen Zeile noch Jahre des SaJjfurffC
stehen, hat die Zeile keinen besonderen Streifen fflr die Über-
schrift.
Jiilirl2(?). Nr. 1.
a) [König von Ober- und Unter&gypten Sahure'^ stiftete als]
sein Denkmal fQr:
denRs^ — an Ackerland im Nord-u. Südland Morgen
dieHathor " " .... •
alle Dinge.
Was gebracht wurde
aus dem Jtf/Ay/-Lande: (Product) (Zahl)
aus Pwnt: Myrrhen Soooo; (Product) (Zahl);
(Product, und zwar Hölzer) 2900; (Product)
--- (Zahl)
b) 6. (?)Mal der Zählung.
Die Zahl ist nicht sicher. Sa^an" hat nach Manetho 13, nach dem Turioer
Papyrus ii Jahre regiert. Dazu wQrde die Lesung 6. Mal gut passen, wenn
die Zählungen alle zwei Jahre stattfanden (Sethe).
Nilhöhe: Zerstört.
Ein Bruchstück aüägyptkcher Annalen.
39
[König
Sahure^.]
Jahr 13(?)« 9 Monate, 6 Tage.
Das letzte unvollständige Jahr des Königs,
' Die Zahl der Monate und der Tage ist ganz unsicher.
Dieses unvollständige Jahr ist in den Raum des vorigen Jahres hinein-
gedrängt. Also auch hier, wie in Vs. Zeile 5 Nr. 7, liegt ein später bemerktes
Versehen vor.
[Rückseite.]
[Zeile 4.]
Nr. 2.
Ncfer-er-ke- ref.
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Da der besondere Streifen für die Überschrift fehlt, ist diese in
den Raum für die Jahresnotizen mit hinuntergerückt.
Jahr 1.
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Nr. 3.
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a) 2. Monat, 7» Tag.
Geburt der Götter.
Vereinigung der beiden Länder.
Umzug um die Mauer.
40
H. Schäfer:
[König Nefer-
er-kc-re<.]
[Jahr 1.] b) König von Ober- und Unterägypten Nefer-er-ke-rF^ stiftete
als sein Denkmal für:
die Götterneunheit: — Morgen Ackerland in — , im
Gebiet der Stadt »Nefer-er-ke-re^ von der Götter-
neunheit geliebt«, im Memphisgau
die Geister von Heliopolis und die Götter von Babylon
Morgen Acker im Gebiet der Stadt »Nefererkere
von den Geistern von Heliopolis geliebt« im
Ostland
— Morgen Acker im Gau von Tanis — die beiden
Oberpriester von Heliopolis
den R^^ und die Hathor je einen Opfertisch Opfer-
rationen. Ein Speicher gebaut (?), mit Leib-
eignen ausgestattet (?)
Bilden — Elektron 7^/ (der Sohn der Hathor), eine
Statue, die gezogen wurde zum Hause der Hathor,
der Herrin der Sykomore in Mrt-Snefrw^
den Re<^ von Tp-f^t
^ Diese Übersetzung von «Bilden« an nach Sethe.
Nilhöhe: 3 Ellen. Rest zerstört.
Jahrx+1. a) [König von Ober- und ^
Unterägypten Nefer-
er-ke-re^ stiftete als
sein Denkmal für:]
[Rfickseite.]
[Zeile 4.]
[Nr. 3.]
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1 1 1
1 1
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)f/0ff»ftf'
Äotni
I ^?V'^'
den Re^ im Sonnenhei-
ligthum »Sitz des
Herzens des Re^^
den König ^iny an
Ackerland Mor-
gen.
b) Jahr des 5. Mals der Zählung.
^ Also eine Stiftung Hir einen alten Konig, vielleicht denselben, dem
das Haus gehört, dessen Beamter Meten ist (LD. 11,3 oben links).
>//////'
Zeile 5.
Nr, !•
Ein Bruchstück aUägyptischer Annalen.
41
[König Nefer-
er-ke-re«.]
Jahr X + 2.
I
An f.
Mr.
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[Rückseite.]
[Zeile 5.]
Nr. 2.
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7/.
^
/m/7/W'''^^^^/////.
a) Erscheinen des Königs von Oberägypten.
Erscheinen des Königs von Unterägypten.
b) Aufmauern (?) der Sonnenbarke an der Südecke^ [des
Sonnenheiligthums Sitz des Herzens des Re^\
c) König von Ober- und Unterägypten Nefer-er-ke-r^^
stiftete als sein Denkmal für
den Re^ im Sonnenheiligthum »Sitz des Herzens«
des Re^ .• Brote
für die Abendsonnenbarke
» » Morgensonnenbarke*
die Geister von Heliopolis
den Ptah südlich von seiner Mauer: Acker
die Buto, die Herrin des Südens (?)
^ Das Schiff liegt also so wie das im Re-Heiligthum isp-ib^r' bei
den Ausgrabungen der Königl. Museen gefundene.
' Also ein sicherer Beweis, dafs es zwei Sonnenbarken bei jedem
Sonnenheiligthum gab, wie ja auch zu erwarten war. In dem einzigen
bis jetzt bekannten Sonnenheiligthum, dem des Ne-woser-Ref^ ist nur die
eine bis jetzt aufgefunden.
Ob unter dieser Reihe noch andere gestan^len haben, und wie-
viel, läfst sich nicht sagen.
I^a.-hist Abk. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. L
6
/
1
IWiiß.Akad. d. Wh«o«cA. ■ Än/utru/ :. d.Abk. 1002.
f
Prmß. Akad. d. Witsmsch, An/ianff z. d. Ahh. J902.
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter.
Von
Prof. Dr. WILHELM STIEDA
in Leipzig.
Phä.-hist. Äbh. nicki zur Alead. gehör. Oelehrier. 1902. IL 1
Vorgelegt in der Sitzung der phil.-hist. Classe am 30. October 1902
[Sitzungsberichte St. XLIV. S. 1023].
Zum Druck eingereicht am 6. November, ausgegeben am 6. Februar 1903.
In dem heutigen Stadium des Wirthschaftslebens spielt die Handelsstatistik
eine grofse Rolle. Wenn die Frage Schutzzoll oder Freihandel auch nie-
mals eine absolute Antwort finden kann, immer werden die Ergebnisse der
Statistik dazu beitragen, die Theorie zu klären, zu erweisen, welches der
beiden Systeme den augenblicklichen Verhältnissen des betreffenden Landes
am meisten zusagte, der Verwaltung einige Anhaltspunkte für eine Reihe
wichtiger Mafsregeln bieten können. Es ist bekannt, dafe die jährliche
Aufstellung dieser Statistiken eine heikle und schwierige Aufgabe ist. Trotz
gröfster Sorgfalt und vorsorglichster Regelung lassen sich Lücken nicht ver-
meiden, sind Fehler und Ungenauigkeiten nicht selten. Und vor allen
Dingen trotz hervorragender Leistungen einzelner lünder sind wir von einer
befriedigenden internationalen Vergleichung noch recht weit entfernt. Die
Verschiedenheit der Classification der Waaren, das abweichende Vorgehen
bei der Schätzung des Werthes der Aus- und Einfuhr, die Nichtüberein-
stimmung in der Bezeichnung der Ursprungs- und Bestimmungsländer —
sie lassen es nicht zu , einen Boden zu gewinnen , auf dem man festen Fufs
fassen imd sich an einem sicheren Überblick über die Bewegung des Handels
in den Culturstaaten erfreuen könnte.
Ist nun die moderne Handelsstatistik von Vollkommenheit noch weit
entfernt, so sieht es erst recht betrübend mit der Vergangenheit aus. Zwar
fQr das 1 8. Jahrhundert liegen manche geordnete Thatsachen und Nach-
richten vor. Als in England im Jahre 1696 ein permanentes Handelsamt
geschaffen wurde, begann in Verbindung damit eine amtliche Handels-
statistik. Schon vorher hatte man sich an eine directe Ermittelung der Ein-
fuhr- und Ausfuhrwerthe gemacht, indem man die Summe der Zollerträge
mit 20 multiplicirte. Fast alle aus- und eingehenden Waaren waren nämlich
4 W. Stiei) A :
durchschnittlich mit einem Zoll von 5 Procent ihres Werthes belegt.' Aufser-
dem liefse sich aus Registraturen und Handelsacten , wenn auch nur mit
grofeer Mühe, eine Handelsstatistik för einzelne Länder, Gebiete, Perioden
oder Jahre nachträglich beschaflfen. So bieten sich für Frankreich, wo seit
Colbert das Interesse für eine ziflFermäfsige Erfassung der Bewegung des
Handels erwachte, mit der Errichtung des Bureau de la balance du com-
merce im Jahre 17 16 wenigstens die Werthziffern des Einfiihr- und Aus-
fuhrhandels. Die MengenziflFern fehlen leider hier wie in England.
Können nun auch solche Daten nicht auf volle Zuverlässigkeit An-
spruch erheben, einen nicht zu gering zu schätzenden Werth für die Be-
urtheilung damaliger commercieller Zustände haben sie zweifellos. Wenn
wir aber 400 — 500 Jahre zurückgreifen, so scheinen uns alle Hülfsmittel
im Stiche zu lassen. Und doch wäre es gewifs von dem gröfsten Inter-
esse, sich ziffermäfsig vergegenwärtigen zu können, was die Venetianer
etwa noch im 14. Jahrhundert den Engländern zugeführt haben, welche
Ausdehnung der Activhandel der Hanseaten nach dem britischen Insel-
reiche gewonnen hatte zur Zeit, als Richard II. anfieng, von der Volks-
stimmung getragen, die Privilegien der fremden Kaufleute zu beschneiden,
welchen Umfang der Handel einer einzelnen deutschen Stadt, etwa von
Rostock nach Oslo und Tönsberg, der noch im 15. Jahrhundert so blühend
war, dafs eine eigene Compagnie der Wykfahrer sich bildete, gewöhnlich
erreichte? Es unterliegt keinem Zweifel, dafs wir uns den Inhalt trockener
Urkunden jener Zeiten, die Kämpfe um Freiheiten und Zugeständnisse in
handelspolitischer Beziehung besser zu eigen machen und beurtheilen könnten,
wenn wir thatsächlich wüfsten, was für die eine oder andere Partei auf
dem Spiele stand. Anschaulicher würde das Bild der hinter uns liegenden
Vergangenheit werden , wenn wir in Zahlen anzugeben vermöchten , warum
die Kaufleute so grofses Gewicht darauf legten, aufserhalb der Heimath
sichere Absatzquellen sich erschlossen zu sehen und die landbautreibende
oder industrielle Bevölkerung des betreffenden Staates sich gegen die über-
grofse Zufuhr auswärts erzeugter Producte wehrte.
Aber alle Klagen darüber, was einst versäumt worden ist, bringen
uns in der Erkenntnifs nicht weiter. Es kann nur darauf ankommen , die
' Friedrich Lohmann, Die amtliche Handelsstatistik Englands und Frankreichs
im 18. Jahrhundert in den Sitzungsber. d. Berl. Akad, d.Wiss, Jahrgang 1898, 8.864, ^7^*
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 5
Frage aufzu werfen , ob es nicht möglich ist, auf Umwegen dem vorschwe-
benden Ziele sich zu nähern. Dafs man nicht in modernem Sinne eine
Ausfuhr- und Einfuhrstatistik für ein ganzes Land oder für eine längere
Periode reconstruiren kann, scheint auf den ersten Blick klar, wenn man
überlegt, dafs es eine Zeit gilt, wo an eine systematische Massenbeobach-
tung noch nicht gedacht wurde. Vielleicht . aber wurde eine instinctive
Statistik aufgezeichnet, ergaben sich aus dem Gange des Erwerbslebens
oder aus fiscalischen Rucksichten Niederschriften, die sich statistisch ver-
werthen liefsen. Unter einander in Zusammenhang gebracht, aus den Er-
gebnissen der Aufzeichnung einer Stadt auf ähnliche Verhältnisse in einem
anderen Hafen oder Bezirke schliefsend, von dem Umsatz eiiies Geschäfts
auf den gcsammten Umsatz aller in einer Stadt urtheilend — so kann
man sich in tastendem und behutsamem Vorgehen denken zu Zusammen-
stellungen zu gelangen, die einen annähernden Ersatz für die Leistungen
einer modernen Handelsstatistik abgeben könnten.
I. Hier stehen nun obenan Zollaufzeichnungen. Die Zölle bilde-
ten das ganze Mittelalter hindurch die Haupteinnahmequelle der Landes-
herren und Städte. Eine gewisse Ordnung des Zollwesens ergab sich mit-
hin als selbstverständliche Nothwendigkeit.' Es mufsteu Quittungen aus-
gestellt, die Einnahmen in Register eingetragen werden. Diesem Umstände
verdankt man werth volle Angaben. Kam es bei diesen Aufzeichnungen
in erster Linie auf den Nachweis des Geldwerthes der Eingänge an , so er-
fährt man doch aus ihnen oft die Waare selbst, ihr Gewicht, die Herkunft
wenigstens der Kaufleute, bei Ausfuhrzöllen auch das Bestimmungsland.
Sehr vollständig haben sich solche Niederschriften in England erhalten.
Auf Anregung des Schatzamtes sind die von den Zollbeamten geführten
Rechnungen abgeschrieben und die Abschriften gesammelt und geordnet
worden. Als sogenannte »Enrolled Account^ of Customs« werden sie in
dem Public Record Office in London aufbewahrt. Sie gehen zurück bis
in die Zeit des ersten Eduard." Wiederholt hat deutscher Gelehrtenfleifs aus
ihnen geschöpft und höchst schätzenswerthe Aufschlüsse über die englisch-
deutschen Handelsbeziehungen gewährt. So Georg Schanz in seinem be-
deutenden zweibändigen Werke über die englische Handelspolitik gegen
' G. Schanz, Englische Handelspolitik. 1881. Bd. II, S. i.
' Schanz, a.a.O. Bd. II, S.i.
6 W. Stieda:
Ende des Mittelalters \ so Karl Kunze in seinen werth vollen Hanse -Acten
aus England.^
Wir wissen nun , dafs an der englischen Wollausfiihr des Jahres 1277
Italien mit 30, Frankreich mit 22, Holland mit 21, Deutschland mit 11,
Brabant mit 10 Procent betheiligt waren.' Auch in der WoU- und Häute-
ausfiihr eines einzelnen Hafens, Newcastle on Tyne, sind in den Jahren
1294 — 1298 Kaufleute aus Italien meist betheiligt.* Gegen das Jahr 13 10
aber hat sich das Bild so weit geändert , dafs an der aus Boston ausgeführten
Wolle — im ganzen 2545 Sack — mehr als der dritte Theil auf deutsche
Kaufleute, der Rest auf alle anderen fremden Kaufleute entf&Ut.^ So sehr
waren noch während der Regierung Richard's II. die deutschen Kaufleute
den einheimischen an Unternehmungsgeist überlegen, dafs in 22 Jaliren
(^377 — ^399) die ersteren aus Boston 41772 Stück Tuch, die letzteren
nur 12614, sonstige Fremde gar nur 1105 Stück ausfiihrten.* In Kingston
upon Hüll freilich hatten zu gleicher Zeit die Engländer die Oberhand.'
Und gehen wir ein Jahrhundert weiter, so ist es an der Hand von
Auszügen aus den »enroUed accounts« möglicli, sich den commerciellen
Aufschwung Grofsbritanniens unter den beiden ersten Tudors sehr deutlich
klar zu machen. Hob mit ihnen eine neue Zeit an, die das ökonomische
und geistige Leben rascher pulsiren liefs, auf allen Gebieten die überkom-
menen Anschauungen und Zustände zerbröckelte, so können wir nun auch
beurtheilen, inwieweit sich ihre Handels- und Wirthschaftspolitik bewährte.
Schon vor ihnen war man auf das eine Ziel losgesteuert, den englischen
Artikeln und Manufacten den Eingang in andere Länder freizuhalten, neue
Verkehrswege ihnen zu eröffnen, überhaupt den englischen Unterthanen
mögliclist günstige Bedingungen des Absatzes ihrer Erzeugnisse zu sichern.
Ihnen gelang es jetzt, diesen Gedanken mit mehr Energie und Nachdruck
zu vertreten, in der Schiffahrtspolitik, im Industrieschutz, im Fremden-
recht eine ftir England besonders günstige Wendung herbeizuÄhren. In
^ Leipzig i88t.
* Halle a. S. 1891.
• Kunze, a.a.O. S. 332.
* Kunze, a. a. O. S. 333.
' Kunze, a.a.O. S. 345.
• Kunze, a. a. 0. S. 360.
^ Kunze, a.a.O. S. 363,
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 7
den neun exfiten ßegierungsjahren Heinrich's VH.« in der die chaotischen Zu-
stände, wie sie die langen Bürgerkriege erzeugt hatten, beseitigt werden
mulsten, warf der WaarenzoU noch nicht mehr als 20000 PAind Sterling
j&hrlidi durchschnittlich ab. In den leti^ten fünfzehn Jahr^i seiner R^e-
rung aber offenbarte sich ein Aufschwung, der weit in die Regierungszeit
des Sohnes hineinreichte. Die ZoUeinnahmen stiegen auf 26000 und 27000
Pfimd Sterling j&hrUch. Dann machte sich in der Zeit von 1521 bis 1530
die Verderblichkeit des Wolsey'schen Regiment« kund. Schlechte Ernten
schwächten die Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung und liJunten die Indu-
strie. Der Handel gieng zurück. Dafür aber zeigt die letzte Lebenszeit
Heinrich 's VIII. eine entsdiiedene Blfithe. Die von Thomas CrcMnwell kurz
vor seanem Sturze durchgesetzte Gleichstellung der Fremden mit den Ein-
heimischen steigerte den Waarenhandel zu einer vorher nicht gekannten
Höhe. In den Jahren 1538 — 1547 wurden durchschnittlich 30100 Pfund
Sterling vereinnahmt.^
Der Wollexport gieng in dieser Zeit zurück ; aber der Tuchexport blühte
auf und die Einheimischen lagen ihm stfti*ker ob als die Fremden, mit Ein-
schlufs der Hanseaten. Sie fahrten unter Heinrich VIII. 55080 Stüdc, die
letztesten 43000 äus.^ Im Häuteexport stehen sidi Fremde und Einheimische
fast gleich, mit leisem Übergewicht der ersteren. Den Zinn- und Wachs-
handel beherrschen die Fremden, den Weinhandel die Engländer.^
Was die Gunst der Verhältnisse in England erhalten bat, wird anderswo
nicht angetroffen. Wenigstens ist nicht bekannt, da& in den Archiven noch
derartige Schatze vorhande« wären, die verdienten gehoben zu werden.
Die Erhebung des Zolls scheint auf deutschem Boden, obwohl gewi&
nicht minder häufig als anderswo, in höchst einfacher Weise sich vollzogen
zu haben. Die Thätigkeit des Zollschreibers bestand fast ausschliefslich
in der Aufzeichnung der Summen , die einkamen und über die in bestimmten
Zeiträumen Rechenschaft abgelegt werden mufste. Der Erlös jedes Tages
— so beschreibt Lamprecht* den Vorgang — wurde in die verschlossene
Zollkiste geworfen, deren Öffnung nur mit mehreren Schlüsseln möglich
war. Vierteljährlich oder monatlich — das letztere seltener — wurde die
» G. Schanz, a. a. O. Bd. 1, S. 674 u. ff.; Bd. II, S. 13.
« G. Schanz, a. a. O. Bd. II, S. r8.
* G. Schanz, a. a. O. Bd. II, S. 148, 126, 155.
* Deuteches Wirthschaftsleben im Mittelalter, 1885. Bd. Jl, S. 239.
8 W. Stieda:
eingegangene Einnahme gezählt, ihre Gröfse protokollarisch festgestellt und
die Summe vom Zollvorstand in Verwahrung genommen. Eine weitere
Buchung der Tages- und Wochenerträge etwa oder gar der einzelnen Ein-
nahmen unter Aufzählung der Waaren , von denen der Zoll entrichtet wurde,
scheint nicht üblich gewesen zu sein.
Demgemäfs ist an Zollordnungen kein Mangel, von Zollregistem in
dem letzterwähnten Sinne wird nichts gemeldet. Wenn einmal gerade dieser
Ausdruck in einer officiellen Auslassung gebraucht wird, wie z. B. in dem
Privileg des Königs Christian von Dänemark fBLr die Kaufleute aus Am-
sterdam vom Jahre 1461, so ist darunter der Tarif verstanden.* Auch
die dankenswerthen Verzeichnisse archivalischer Schätze^ haben sie ebenso
wenig nachzuweisen vermocht wie die jüngsten Geschichtsschreiber unserer
wichtigsten ZöUe.^ Es läfst sich den vorhandenen Quellen wohl manche
bemerkenswerthe Einzelheit der Zolltechnik oder Zollpolitik, über die Waa-
ren , den Verzollungsmodus , die Transportmittel u. s. w. entnehmen. Zu einer
Aufstellung der Zollerträge reichen die Angaben auch noch aus. Aber zu einer
Berechnung des Handelsumsatzes auf Grund derselben scheinen die Daten
doch zu unsicher.
Lamp recht hat versucht, aus den Zolleinnahmen bei Oberlahnstein
in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Werth des auf dem Rhein
an dieser Stelle sich abspielenden Waaren Verkehrs zu berechnen, indem er
den Zolltarif in der Höhe von 2,25 Procent des Waaren werthes zu Grunde
legt.* Auch hat er nach dem Koblenzer Zoll, wo ein Tarif von 8.8 Pro-
cent des Werthes in Kraft stand , den jährlichen Umsatz des auf dem Biiein
sich bewegenden Verkelirs für mehrere Jahrhunderte ermittelt.' Er findet
eine sehr bedeutende Entwickelung des Verkehrs von 1310 — 1464/65.
Sind diese Aufstellungen, obwohl an sich durchaus glaublich, doch
mit Vorsicht aufzunehmen, so haben die aus einzelnen Hafenstädten an der
Ostsee auf uns gekommenen Angaben gröfsere Glaubwürdigkeit. Die ZoU-
I
^ Hansisches Urkundenbuch , Bd. VIII , Nr. 1093 : doch also dat se uns van allen gu-
deren unnsen geborliken tollen , nacbdeme unse registere , dar wii dat eyne äff hebben unde
de genante stad van Amstelredam dat ander. Nr. 1094.
* Armin Tille, Übersicht über den Inhalt der kleineren Archive der Rheinprovinz, 1899.
* Theo Sommerlad, Die RheinzoUe im Mittelalter, 1894. — Bernhard Weifsen-
born, Die Eibzolle und Elbstapelplätze im Mittelalter, 1900.
* A. a. O. Bd. II, 344.
A. a. O. Bd. 11, S. 349.
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 9
bücher und Zollquittungen, die in Folge des von dem Hansebunde ein-
geführten Pfundzolls angeordnet und ausgestellt wurden , bieten eine brauch-
bare Grundlage.
Die genannte Abgabe wurde von Ausfuhr und Einfuhr genommen,
über ihre Erträge auf den Städtetagen abgerechnet, um dem Bunde seinen
Antheil zukommen zu lassen. Die Waaren sind meistentheils nicht nam-
haft gemacht. Einige Male werden sie angegeben neben der Bezeichnung
des Werthes oder statt derselben. Ungefllhr läfst sich, da der Zoll in einem
bestimmten Verhältnifs vom Werth des Umsatzes genommen wurde, aus
den Erträgen auf die Höhe des Außenhandels schliefsen. Ich habe ver-
sucht, derartige höchst mühselige Berechnungen anzustellen und glaube zu
einigen beachtenswerthen Ergebnissen gekommen zu sein. Lübeck spielt in
der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die erste Rolle. Der Werth seines
Aufsenhandels beläuft sich auf bald 5 Millionen Mark heutiger deutscher
Reichs wälirung , zehn Jahre später doch immer noch auf 4 Millionen Mark.
In Stralsund schwankt der Werth zwischen 2 und 3 Millionen und in Rostock,
das offenbar erst im 1 5 . Jahrhundert einen grOfseren Aufschwung entfaltet,
bleibt er regelmäisig unter einer Million.^
2. Nicht minder gut können Schiffahrtsregister zur Herstellung
einer Handelsstatistik benutzt werden. Darunter sind die in den einzelnen
Hafenstädten geführten Verzeichnisse zu verstehen, welche die ein- und aus-
gehenden Schiffe, getrennt nach Bestimmungsplätzen oder Herkunftsorten
und in der Regel mit Angabe der Ladung nachweisen. Auch ihre Nieder-
schrift ist kaum von dem Wunsche angeregt worden, sich über die Stärke
des Verkehrs mit bestimmten Gegenden unterrichten zu wollen. Vielmehr
sind diese Listen lediglich einem praktischen Bedürfnisse entsprungen , der
Noth wendigkeit nämlich, sich zum Zwecke der Versteuerung über die
Zahl der ein- und ausgelaufenen Fahrzeuge zu vergewissern. Die Erhebung
eines Zolls ist es gewesen, die die Anlage derartiger Register zu einer
unerläfslichen Maferegel gemacht haben mufs. Man mufste darüber klar
sehen, wieviel Schiffe im Hafen vor Anker giengen, wie grofs ihr eigener
Werth und der ihrer Ladung war. Vielleicht empfand man es auch als
zweckmäfsig, sich über den in den einzelneu Theilen des Jahres ver-
* Willi. Stieda, Revaler ZoUhücher und -Quittungen des 14. Jahrhunderts, 1887
S. LVII.
Phil.-hi8t. Mh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. IL 2
10 W. Stieda:
schieden starken Besuch des Hafens zu belehren , um darnach die wahr-
scheinlichen Einnahmen eines bestimmten Z^tabschnitts ungefähr berech-
nen zu können.
Freilich konnte dieser fisealisebe Zweck schon in yerh<nÜkmafsig
einfacher Weise erreicht werden. Man brauchte nur fortlaufend auf einem
Blatt Papier oder in einem Buch den Moment der Ankunft oder des Ab-
gangs eines Schiffs nebst Art und Werth der Ladung , welche verzollt
werden sollte, sowie den Zollbetrag festzuhalten. Es ist daher sehr fraglich,
ob vollständige Schiffahrtsregister überall vorhanden gewesen sind und bei
Anordnung eines Zolls gleich eingerichtet wurden. An vielen Orten wird
man sich mit einer Aufzeichnung, die weniger mühselig und umständlich
war, den hauptsächlichen Zweck jedoch erföUte, begnügt haben. That-
sächlich scheinen sich derartige Register nur vereinzelt erhalten zu haben.
Ich kann sie nur in den Archiven von Lübeck, Danzig und Reval nadi-
weisen, und es ist mir nicht bekannt, wo und ob sie in aufiserdeutschen
Archiven sich vorfinden. Ein Bruchstück eines Registers aus Greifswald
vom Jahre 1388 ist einmal veröffentlicht worden.^
In Lübeck beginnen diese Register im Jahre 1368 und ersteecken sich,
wenn auch in leider ofl unterbrochener Folge bis in die erste Hälfte des
16. Jahrhunderts. Nicht inuner ist jedem Jahre ein besonderer Band ge-
widmet, sondern bezieht der eine oder andere dieser in pergamentnen Um-
schlag gehüllten Folianten sich auf zwei oder mehrere Jahre. Die Einträge
scheiden sich in die über die auslaufenden und die über die eingehenden
Schiffe. Die Schiffsladungen und die Namen der Eaufleute, denen die ein-
zelnen Gegenstände gehören, der Werth der Waaren und der Zoll, der ent^
richtet werden mulste, sind in der Regel vermerkt. Bisweilen sind nicht
alle Bestandtheile einer Ladung angegeben, sondern wird Verschiedenes
declarirt. Kurz, es treten zweifellos die Momente entgegen, die zur Auf-
stellung einer Handels- und Schiffahrtsstatistik in modernem Sinne nöthig
sind. Gewifs vräre es wünschens werth , dals eine jüngere Kraft einmal
diesen Reichthum an Daten im Zuisammenhange verarbeitete.
Beispielsweise sei hervorgehoben, dafis im Jalire 1368 in Lübeck 423
Schiffe eingiengen und 871 ausliefen. Es fehlt die Möglichkeit des Ver-
gleichs mit anderen Häfen, und man weifs daher nicht, ob diese Zahlen
Pyl, Pommersche Geschichtsdenkmäler II, S. 113 — 115.
Über die Quellen der HandelsstatisHk im Mittelalter, 11
eine grofse oder geringe Frequenz andeuten. Bemerkens werth aber ist,
dafs gerade Scandinaviens HSfen ein erhebliches Contingent stellen.
Es kamen aus und waren bestimmt nach^
2 2 Schiffe
14 .
18 »
(Jothland
271
Schiffe
Kalmar
15
Stockholm
43
Suderköping
12
Westerwik
2
Kopenhagen
I
Bergen
10
Norrköping
I
Nyköping
6
Schonen
47
Ellebogen
21
160 »
9 -
In seinem vortrefflichen Buche über die Lübecker Bergenfahrer hat
Friedrich Bruns diese Register zu einer Darstellung des Waarenverkehrs
zwischen Lübeck und Bergen im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts be-
nutzt.^ Er kommt zu dem bemerkens werth en Ergebnils, dafs der durch-
schnittliche Werth der Schiffsladung sich bei der Ausfuhr erheblich niedri-
ger als bei der Einfuhr herausstellt.
Hundert Jahre später erscheint Danzigs Schiffsverkehr auf Grundlage
der erhaltenen Register noch nicht einmal sehr viel bedeutender. Es kom-
men in den Jahren 1474 — 1476 zwischen 4(X) — 634 Schiffe ein, in den
Jahren 1490 — 1492 aber verlassen zwischen 562 — 720 Schiffe jährlich den
Hafen. Von den letzteren ist nur selten ihr Bestimmungsort angegeben.
Aus der Liste der eingegangenen Schiffe erhellt, dafs Danzig nur geringen
Verkehr mit Norwegen pflegte , dafs es im dänischen Handel hinter den wen-
dischen Städten zurückbleibt, jedoch sehr lebhafte Beziehungen zu Schwe-
den unterhielt. Nicht weniger als 15 schwedische Hafenplätze werden ge-
nannt. In der Einfuhr spielen Laken, Salz, Heringe, Osemund (Eisen),
^ Wilhelm Stieda, SchifTahrtsregister in • Haasische Geschichtsbl&tter« , Jahrgang
1884, 8. St.
^ Berlin, 1900, 8. XXXff. Bruns nennt die Bucher • Zollregister« und mag damit
den Zweck, dem sie zu dienen bestimmt waren, wohl zutreffend bezeichnet haben. In der
Thai aber dienen sie auch dem Nacliweis der Schiffahrtsbewegung, und so mag es erlaubt
sein die obige Bezeichnuitg «ofrecht zu halten.
12 W. Stieda:
Pferde, in der Ausfuhr Getreide und Holz, Pech, Theer, Asche, Flachs,
Garn, Hanf die wesentlichste Rolle.*
In Verbindung mit solchen Schiffahrtsregistem stehen die jüngst ver-
öflFentlichten Revaler Frachtverzeichnisse.* Sie sind zwar undatirt, vom
Herausgeber Dr. Koppmann in die Zeit um etwa 1430 verlegt, und be-
ziehen sich nur auf eine kleine Zahl von Schiffen, die damals in den Re-
valer Hafen eingelaufen sein mögen. Es ist nicht recht ersichtlich, welchem
Zwecke jene Aufzeichnung hat dienen sollen. Dafs man sie dort oder in
anderen Hansestädten regelmäfsig zu machen pflegte, läfst sich kaum an-
nehmen. Fest jedoch steht soviel, dafs es sich um einen Theil der Schiffe
handelte, die zur lübischen Handelsflotte gehörten. Jedenfalls erhält man
durch sie eine Bestätigung der Kenntnifs von den Waaren , die Lübeck dem
Osten zukommen zu lassen doch wohl die Gewohnheit hatte. An Nahrungs-
und Genufsmitteln gelangten Hering, Salz, Honig und ein nicht näher er-
klärtes Getränk »wiinetekes« zur Ausfuhr.^ Der Honig, der hiernach an-
geblich in grofsen Massen von Lübeck nach Reval gekommen sein sollte
es sind ganze Insten nachgewiesen — dürfte richtiger als Honigseim ge-
deutet werden, d. h. Meth. Es gab in Lübeck ein besonderes Gewerbe der
Honigseimer, d. h. der Rath hatte verschiedenen Häusern die Befugnifs zur
Bereitung dieses Getränks verliehen, die an denselben als Gerechtsame haf-
tete.^ Meth ging viel nach Nowgorod, und so ist es sehr wahrscheinlich, dafs
in den abgedruckten Frachtverzeichnissen nicht Honig, sondern Honigseim
gelesen werden mufs. Bedeutsam ist, dafs in diesen Verzeichnissen viele Fabri-
kate genannt sind, von denen man freilich nicht weifs, ob sie nicht auch theil-
weise Durchfuhrgut waren. Als gewerbliche Erzeugnisse sind aufzufassen : Tuch,
Leinwand, Blech, Kessel, Schwerter, Sättel, Filzhüte, Nägel, Äxte, Kleider,
Bilder, Oblaten. Was in den »bereven« oder »drogen« Tonnen, in den »packen«
und »packeel« enthalten gewesen sein mag, mufs dahingestellt bleiben.^
^ Victor Lauf f er, Danzigs Schiffs- und Waarenverkehr am Ende des 15. Jahrhun-
derts. 1893, S. 7, 9, II, 23, 29, 39.
* Uanserecesse, 1. Abtheilung, Bd. 8, Nr. 769, 770, 771.
' •14 iechgeien wiinetekes« a.a.O. Nr. 769 §76.
* Wehrin an n, Die älteren Lübeckischen Zollrollen. 2. Aufl. 1872, S. 285.
^ Die Schifferbucher, von denen uns R. Ehrenberg in den Mittheilungen des Vereins
für Hamburgbche Geschichte, Bd. 4, S. 374f. berichtet, beziehen sich gröfstentheils auf das
17. Jahrhundert. Ernst Baasch hat aus ihnen (Zeitschrift des Vereins für Hamburgische
Geschichte Bd. 9, 8. 245 f.) eingehende höchst lehrreiche Zusanuneostelluiigen veröffentlicht.
Über die Quellen der Handehstatv^tik im Mittelalter. 13
3. Haben wir in dem Vorstehenden Quellen von allgemeiner Bedeu-
tung kennen gelernt, so kommen wir bei den Schadensverzeichnissen
einzelner Kaufleute oder Gruppen von Kaufleuten zu solchen von mehr
individueller Wichtigkeit. Wenn Schiffe untergegangen oder geraubt sind,
so pflegten die Betroffenen, die Waaren auf den verlorenen Fahrzeugen
gehabt hatten, Verzeichnisse derselben zu entwerfen, um im Falle der Ber-
gung ihre Rechte geltend machen oder sie von der feindlichen Macht re-
clamiren zu können. Auf diese Weise gewinnen wir alsdann von den Waaren,
die auf gewissen Strecken befördert zu werden pflegten, von den Mengen
und ihren Werthen eine annähernde Vorstellung. Natürlich kann nicht von
dem einzelnen Vorkommnifs auf die Regelmäfsigkeit geschlossen , nicht ohne
weiteres von dem grofeen oder geringen Waarenquantum im speciellen Falle
auf die Bedeutung des Artikels in dem betreffenden Verkehr überhaupt ge-
folgert werden. Aber wenn man nun verschiedene Schadensnachweise aus
verschiedenen Handelsrichtungen oder auf derselben Strecke aus verschie-
denen Jahrhunderten zur Verfugung hat, so gewinnt man doch Anhalts-
punkte genug, um von einer systematischen Massenbeobachtung der Handels-
bewegung reden zu können.
Derartige Aufzeichnungen sind in den Urkundenbüchem der zum Ge-
biete der Ost- und Nordsee gehörenden Städte sowie in den Recessen der
Hansetage mehrfach veröffentlicht, und aufserdem besitzen von dieser Sorte
die Archive noch viele Schätze. Es wäre fiir die Kenntnifs des Waaren-
verkehrs sicher nicht unverdienstlich , sie , soviel man ihrer habhaft werden
kann, an's Tageslicht zu ziehen und vergleichend zu bearbeiten.
Da verunglückte z. B. im Jahre 1345 ein Hamburgisches Schiff vor der
Maas. Ein Theil der Mannschaft wurde dabei erschlagen. Es werden uns
gegen 30 Befrachter genannt, die Pelzwerk, schwedisches Kupfer und Kupfer
aus Goslar, Thran, Schinken und Leinwand für Flandern bestimmt hatten.
Auch gemünztes Gold und Barrensilber, mit denen man vermuthlich Einkäufe
im fremden Lande hatte machen sollen, waren untergegangen.*
Ein volles Jahrzehnt später haben Thorner Kaufleute es erleben müssen,
dafs ein von ihnen befrachtetes Schiff an der schwedischen Küste wegge-
nommen wurde.^ Da König Magnus bereit war, den Schaden zu ersetzen, er-
* Hansisches Urkundenbuch , Bd. III, Nr. 63.
'* Hansisches Urkundenbuch, Bd. III, Nr. 360.
14 W. Stieda:
schienen zwei Thorner Bürger als Bevollmächtigte der betroffenen 25 Schicksals-
genossen y um die Entschädigung in Empfang zu nehmen oder wenn möglich,
die geraubten Güter selbst zurückzuerhalten. Kupfer, Wachs , Pelzwerk , aber
auch Grewürznelken und nicht weniger als zwei Tonnen und zwei Fa& Wurm-
kraut, desgleichen Goldmünzen und Barrensilber bildeten die Gregenstände
des Verkehrs.
Im Verkehr Livlands mit der Hanse — es ist nicht gesagt, wohin
speciell die Schiffe bestimmt waren — wurden in den neunziger Jahren des
14. Jahrhunderts drei Schiffe von den Mecklenburgern gekapert, in denen
für 15000 Mark Lübecker Waaren sich befanden. Pelzwerk, Talg, Butter,
Fett, Salz waren auf diesem Wege zum Austausche ausersehen, wobei nur
aufOlllt, dafs Salz nach Westen verschifft werden sollte/ In dem wenige
Jahre später niedergeschriebenen Schadensverzeichniis Dorpater Eaufleute
von 1406 findet sich eine Bestätigung der geschilderten Waarenbewegung,
indem Pelzwerk in allen nur gangbaren Sorten und Wachs die Ausfuhr-
gegenstände von Dorpat sind.^
Die für gewöhnlich aus Danzig, d. h. also aus den preußischen Städten
exportirten Waaren erföhrt man durch eine Au&tellung, die .bei Gelegen-
heit der Aufbringung von G^ld zur Ausrüstung der Admiralschiffe gemacht
würde.* Es sind ausschliefslich Rohstoffe, wie Weizen- und Roggenmehl,
Butter, Flachs, Wachs, Pech, Theer, Eisen, Kupfer, Pelze, Asche und vor
allen Dingen Holz in vielen verschiedenen Sorten , als Wagenschofs , Bogen-,
Knarr-, Klapper-, Riemenholz und Dielen.* Die Schadensverzeichnisse Danziger
Kaufleute über die ihnen in den Jahren 1396 — 1434 im Bereich der scandi-
navischen Staaten zugefögten Vergewaltigungen , die ernste Verluste erkennen
lassen^, bringen zwar hierför keine Bestätigung. Denn in diesen Fällen
drehte es sich um Importgüter. Da fiel z. B. ein mit Baie-Salz geladenes
Schiff, das auf Rechnung eines Danziger Hauses nach Pemau bestimmt
war, einem Seeräuber in die Hände, der es aufbrachte und dem Bischöfe
Peter von Roeskilde überliefs. Ladung und Schiff wurden auf 1 200 Nobeln
^ Hanserecesse, I. Abtheiluog, Bd. IV, Nr. 640.
' Hansereoesse, I. Abtfaeüuog, Bd. V, Nr. 442. Über die damals im Handel gangbaren
Sorten vergl. das Verzeichnifs in Stieda, Revaler ZollbQcber und -Quittungen. 1887. S. 127.
' Hanserecesse, I. Abtheiluog, Bd. VIII, Nr. 216. Ober das Hok als Gegenstand des
Handels vergl. Hirsch, Handels- und Gewerbegeschichte Danzigs. 1858. 8. 253.
^ Hanserecesse, II, Abtheilung, Bd.I, Nr« 381,
TJber die Quellen der Handels^tatistik rni Mittelalter. 15
bewerthet. Im flbrigen hatten Einfuhr- und Ausfiihrgfiter den Beifall der
Scandinavier gefiinden und war den Fahrzeugen der Hanseaten ohne Ge»
genwerth entnommen worden: Heringe und andere Fische, Wachs, Pelz*
werk, Butter, Tuchgewand (englisches und schottisches), Pfeffer, Confect
und sonstiges GrewQrz, englisches Zinngeschirr, HOizer aller Art, Leinwand
und Seilerartikel, Armbrüste, Wein und öl, Mützen und Hosen, Papier
und rohe Baumwolle, Hopfen und Salz. Einen besonders guten Fang machte
der KOnig von Dfaiemark, als er gegen den 25. Juli 1427 eine Flotte von
16 Fahrzeugen, die, mit Salz aus der Baie beladen, den Sund nach PreuTsen
und Livland passiren wollte, aufbringen liefs.
Dagegen zeigen die Aufzeichnungen der Danziger über die ihnen von
den Engländern im Jahre 1487 zugefügten Schäden augenscheinlich ihre
Ausfuhr oder Durchfuhr an.^ An Nahrungsmitteln werden Roggen und Fisch
genannt. GrOfser ist die Zahl der Rohstoffe, als Pelzwerk, Holz, Theer,
Thran, Pech, Flachs, Eisen, Wachs aus Reval. Auch Industrieproducte
kommen zur Ausfuhr, nämlich Schreibpulte, Bemsteinpaternoster, Leinwand,
Garn, Canevas. Interessant ist die Ausfuhr von Färbemitteln, wie Lack*
mus (litmosz), Lasur und Waid (wede).^
Was von PreuJ&en aus ostwärts nach Reval , vermuthlich auch welter
nach Nowgorod gieng, ergibt sich aus den Ladungen, die durch die Aus-
lieger der im Jahi*e 1430 kriegführenden Städte weggenommen wurden.*
Da kommen unter den Nahrungs- und Genufsmitteln vor: Bier, Hopfen,
Heringe, Störrogeu, Salz und rother Russcher Wein (wyn). Bei letzterem
dürfte aber kamn an Wein russischer Herkunft zu denken sein , zu welcher
Annahme der Wortlaut die Hand bieten könnte , sondern wenn überhaupt
die Handschrift richtig gelesen worden ist, wäre auf Wein aus Roussillon
zu schliefen.* Sehr zahbeich sind in diesem Falle die Industrie -Artikel,
nämlich: Kannen, Schüsseln, Teller, Brotmesser, Lattennägel, Steigbügel
(stegerepen) , Eisendraht, Kleiderkisten, Schreibpulte, Spielbretter (voelde-
taffel), englische Laken, Leinwand, Stockbret, Hosen, Gürtel und Kürschner-
arbeiten.
' Hanserocesse , III. Abtiieilung, Bd. II, Nr. 163, 510.
* Lackmus wird aus Flechten und Moosen der Kilsten Schwedens und Norwegens
gewonnen.
' Hanserecesse , I. Abtheilung, Bd.Vill, Nr. 780.
* AI. Henderson, Geschichte der Weine. 1833. S. 193.
16 W. Stieda:
Doch nicht nur der Handel aus den östlichen Hansestädten erfalirt
durch die Schadensverzeichnisse Beleuchtung. Der Verkehr im Westen selbst
oder dahin wird ebenfalls aufgeklärt. Zwischen Holland und England geht
auf Rechnung eines Duisburger Hauses ein Handel mit rheinischem Wein
vor sich , den der deutsche Kaufinann wohl zuvor nach holländischen Häfen
hatte verbringen lassen.^ Hamburg wiederum verschifft in der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts nach England: Lackmus (vom Herausgeber
als Litmos bezeichnet), Waid, Leinwand und Stockfisch.* Von Bremen
endlich wurde im Jahre 1402, wie aus ihren Klagen über die ihnen von
den Engländern widerrechtlich weggenommenen Gütern erhellt, nach England
bestimmt oder von dort bezogen : Weizen und Gerste , Roggen - und Weizen-
mehl, Felle und gesalzene Häute, Leinwand und Waid, Wachs und Holz
sowie die nicht näher zu erklärenden sechs Last «mortinsen«.*
Ein schweres Unglück traf die Lübecker, die im Jahre 1468 ein statt-
liches Schiff nach Reval ausgerüstet hatten, das leider an der schwedischen
Küste von den Fluthen des Meeres in den Abgi'und gerissen wurde. Nicht
weniger als 62 Kaufleute haben Schaden erlitten und geben die Marken,
mit denen die Güter gezeichnet waren, zu Protokoll, wahrscheinlich in der
stillen Hoffnung, dafs, wenn die gierige See wieder etwas herausgeben sollte,
ihre Ansprüche sofort klargestellt seien. Aus dem im Anhange i zum
ersten Male veröffentlichten Document hört man einmal genauer, was die
reiche Handelsstadt Lübeck den zahlungsfähigen Abnehmern im Osten zu
schicken pflegte. Da sind Metalle wie Kupfer und Quecksilber, Halb-
fabricate wie Weifsblech und Eisendraht genannt. Femer sollten dem
Absätze entgegengefiihrt werden: Tücher aller Art aus Ulm und Erfurt,
Flandern und England, Leinwand aus Perleberg in der Mark Brandenburg,
Lübeck, Münster und Holland, Hopfen und Honigseim, letzteres nicht we-
niger als 52 Last, d. h. bald 700 Tonnen. Dazu kommen viele kleinere in-
dustrielle Erzeugnisse als Papier, Kämme, Riemen, Nadeln, Messer, Schlösser,
Spiegel, Gürtel, Beutel, Kessel, Pfannen, Rosenkränze aus Korallen, nicht zu
vergessen Gewürze aller Art. Einen Werth haben die Kaufleute nicht ange-
geben. Sicher kämen aber grofse Beträge zusammen, wenn man an eine Bewer-
thung der auf dieser unglücklichen Fahrt vernichteten Waaren denken wollte.
^ Hanserecesse , 111. Abtheilung, Bd. II, Nr. 117.
* Hanserecesse, ITT. Abtheilung, Bd. II, Nr. 124.
' Hanserecesse, 111. Abtheilung, Bd.V, Nr. 445.
V*
über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 17
Umgekehrt zeigen die Nachweise der in den gestrandeten Schiffen des
Hans Schacke befindlichen Waaren uns, was aus Rufsland und Livland
nach Deutschland geschickt zu werden pflegte. Die Verzeichnisse, die im
Anhang 2 abgedruckt sind, beziehen sich auf ein VorkommniXs im Jahre 1493
und ergänzen auf diese Weise ganz gut die auf ein Jahrhundert früher sich
erstreckenden Nachrichten. Wieviel Falu^euge unter der Fuhrung des
Schiffers Schacke bei Gotland veininglückten , ist uns nicht mitgetheilt, so
dafs Betrachtungen über die Zahl der Beiader und den Gesammtwerth der
genannten Waaren unterbleiben müssen. Es sind noch immer vorzugsweise
Rohstoffe, die der Osten spendet und die einer Verwerthung im Westen
entgegengefiihrt werden. Dahin gehören Flachs, Wachs, Asche, Talg,
Thran, Zeelspeck, Eisen (osemund). Als Halbfabricate erscheinen Kabel-
garn, Flachsgarn, Leder, Häute, von denen Elendshäute, russische und
gesalzene Häute namhaft gemacht werden, und vor allen Dingen Pelzwerk,
Marder, Eichhörnchen (grau werk), Lammfelle (smaschen), Hermelin, Wiesel
(lasten), Otter (menk), d. h. kostbare und geringere Sorten kommen auf
den westeuropäischen Markt. Nicht unbedeutend sind auch die Nahrungs-
mittel, die die im Uberflufs schwelgende osteuropäische Bevölkerung her-
zugeben vermag: Roggen und Buchweizen, Fische von allen Sorten, als
Flachfisch, Flunder (butte), Hecht, Lachs, aufserdem Butter und nun sogar
Meth. Fabricate, wenn man nicht die Chorkappe von Grauwerk als solche
ansehen will, fehlen ganz. Denn was Kord Monterd aufser dem Pelz-
werk in seinem Fasse hat, wie braunes Tuch oder ein silberner Löffel,
war wohl die Habe eines von längerem Aufenthalte in der Fremde heim-
kehrenden Hanseaten. Auch die Bibliothek , deren Verlust Peter Possyck
zu beklagen hatte (eyne kiste mit gepeented boken), trat wohl nur eine
Rückreise an.
Endlich eine Erinnerung an ein im Jahre 1546 an der finnischen Küste
gestrandetes Schiff, das von 4 2 Kaufleuten , gröfstentheils Lübeckern und
neun Hamburgern, beladen, entweder för Rufsland oder für Schweden be-
stimmt war. Das Reichsarchiv in Stockholm hat uns die Kunde von diesem
Verlust aufbewahrt. Das darüber aufgezeichnete Actenstück ist im An-
hang 3 zum ersten Male abgedruckt. Aufifallenderweise hatte das Schiff
viel Geld an Bord. Nicht weniger als 3650 Thaler, aufserdem drei Beutel
Geld, deren Inhalt nicht angegeben ist und 8 Pfund Gold, werden an-
gefiihrt. Im übrigen sind Tuche, deutschen und englischen Ursprungs,
PÄt/.-Ä«/. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. II. 3
18 W. Stieda:
von letzteren zähle ich 270 Stücke, in den glänzendsten Farben: lichtblau,
papageiengrün, leibfarben, feinroth, goldgelb u. s. w. Sammet, Damast,
Seidengewand, Hosen, Wämmser und andere Kleider der Hauptbestand-
theil der Ladung. Gewürze spielen bei dieser Gelegenheit nur eine be-
scheidene Rolle. An Metallen hatte das Schiff Zinn und Blei sowie die
Halbfabricate Weifsblech und Messingdraht. Von Industrie -Erzeugnissen
waren nur »etlich schuhe und pantoffeln« und Papier an Bord gewesen.
Ein Mangel aller dieser Nachrichten bleibt, dafs wir nicht wissen,
wieviel Schiffe in jedem Jahre die Fahrt über die Ostsee oder nach Westen
zu machen pflegten. Ferner dafs von den angegebenen Mengen nicht auf
den ganzen Verkehr geschlossen werden kann. So haben mithin die er-
wähnten Verzeichnisse nur die Bedeutung, dafs man die Art der Waaren-
gattungen feststellen kann.
4. Die gleiche Beschränkung gilt fiir die Handelsbücher, deren Inhalt
handelsgeschichtlich und statistisch aufserordentlich wichtig, uns doch ver-
hältnilämäisig selten seither zugänglich gemacht worden ist.
Lange bevor ein Luca Pacioli die Theorie der Doppelbuchhaltung sy-
stematisch flxirte, sind natürlich von Kaufleuten Bücher geführt worden.
Zuerst scheinen sie bei den Geldwechslern üblich gewesen zu sein, die
Leihgeschäfte vermittelten und das darauf bezügliche Schuldverhältnifs in
ihre Bücher eintrugen. Für Italien wenigstens haben wir sichere Anzeichen,
dafs man dort bereits im 14. Jahrhundert ganz allgemein Handelsbücher
kannte.* Doch haben sich wenige dieser kostbaren, von ihnen oder von
Waarenhändlern gewährten Documente erhalten.
Das älteste ist das Fragment eines Florentiner Handlungsbuches schon
aus dem Jahre 1 2 1 1 . Es zeigt nach Sieveking^ eine ausgebildetere Technik
der Buchfthrung als spätere deutsche Bücher und wurde von einer nicht
näher bezeichneten Bankiergesellschaft gefuhrt. Dieselbe trieb wesentlich
Darlehnsgeschäfte. Sieveking berichtet uns auch von Florentiner Hand-
lungsbüchern des 13. und 14. Jahrhunderts, unter denen er die von der
Gesellschaft der Peruzzi um 1339 namhaft macht.* Erhalten haben sich
ferner venetianische Handelsbücher aus den Jahren 1410 — 14 16 und 1406
* Lettere di Mercanti Toschani, scritte nel secolo XI V'. Venedig 1869.
* Aus venetianischeD Handlungshüchern in »Jahrbuch f&r Gesetzgebung, Verwaltung
und Volkswirthschafl«, herausgegeben von Schmoller, Bd. 25, S. 1494.
* A. a. O. S. 1498.
1
■
J
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 19
bis 1434 (Donado Soranzo), 1436 — 1439 (Jacob Badoer), 1430 — 1449 (An-
drea Barbarigo) und 1456 — 1482 (Nicolo Barbarigo). Eine Edition dieser
zweifellos hochbedeutsamen Documente ist angeregt. Aus den Büchern des
Soranzo hat Sieveking dankenswerthe Auszöge geliefert/
Für Frankreich sind die ältesten bis jetzt bekannten die auf die Ge-
schäfte einer Vereinigung von Juden in Vesoul in der Franche - Comte sich
beziehenden Rechnungsbücher.^ Das eine, von Heliot (Elias) de Vesoul
gefuhrt, erstreckt sich auf die Jahre 1300 — 1306, das andere, wahrschein-
lich von seinem Sohne Vivant geschrieben, umfafst die Jahre 1300 — 13 18.
Sie wurden vermuthlich confiscirt, als König Philipp V. von Frankreich im
Jahre 1321 die Juden verjagte. In hebräischer Sprache abgefafst, sind sie
nicht wörtlich veröffentlicht worden, was ja auch ihre Benutzung keines-
wegs erleichtert haben würde. Vielmehr hat dankenswertherweise der Her-
ausgeber Auszüge, ausfuhrlich und systematisch, geboten, die vollständig
ausreichen, um sich von der Bedeutung dieser Handelscompagnie ein deut-
liches Bild zu machen. Die Geschäfte derselben giengen vorzugsweise vor
sich im Gebiet des heutigen Departements der Haute -Saöne sowie theil-
weise der benachbarten Doubs, Jura, C6te d'or und Haute -Marne bis in
das Departement des Vosges nach Norden und das Departement Saöne et
Loire nach Südwesten. Sie bestanden im Ausleihen von Geld in erster
Linie, woran sich ein Handel mit Stoffen und Kleidern, mit Wein und
anderen landwirthschaftlichen Erzeugnissen schlofs. Auch gegen Pfänder
Geld zu leihen, verschmähten sie nicht, wobei lebendes Vieh, selbst Schweine
nicht zurückgewiesen wurden.
Die Kundschaft unserer Kaufleute war eine umfangreiche und ver-
schiedenartige. Grafen, Barone, Geistliche, höhere Würdenträger so gut
wie einfache Bürger und arme Leute gehörten zu ihren Klienten, selbst
Frauen nahmen, mit zum Theil winzigen Beträgen, ihre Zuflucht zu den
bewährten Geldmännern. Wenn aber diesen es nicht mehr möglich wurde,
allen an sie gestellten Ansprüchen zu genügen, so wandten sie sich an
eine Gesellschaft von Lombarden, die stets bereit waren, mit ihren gröfseren
Geldmitteln einzuspringen.
^ A.a.O. Bd. 25, S.1490; Bd. 26, 8.189fr.
* Herausgegeben von Isidore Loeb in der Revue des etudes juives vol. 8 (1884),
p. 160 — 196; vol. 9, p. 21 — 50, 187 — 213: Deux livres de commerce du commencement du
XIV«- si^cle.
20 W. Stieda:
Die auf uns gekommenen Bücher waren nicht die einzigen der Handels-
gesellschaft. Sie führte offenbar noch andere , aus denen sie zeitweilig in
die erhaltenen zu übertragen pflegte oder die sie neben den erwähnten hielt.
Das ältere von den geretteten ist ein Tagebuch, in das täglich Eintragungen
vorgenommen zu werden pflegten, doch schon mit den Anfängen einer nicht
zu verkennenden Ordnung. Denn dasselbe ist nach den Orten, wo die
Kunden safsen, auseinandergehalten und überdiefs ist bei den einzelnen
Personen ein Zwischenraum freigelassen, offenbar in der Absicht, spätere
Geschäfte mit derselben Person an. der gleichen Stelle nachtragen zu können.
Die Eintragung erstreckt sich jedesmal auf den geliehenen Betrag, den
Namen des Schuldners, dessen Wohnsitz, etwaige Zeugen oder Bürgen und
den Termin, an dem das Darlehen gewährt oder zurückerstattet wurde.
Das jüngere, das den Zeitraum von 13CK) — 13 18 umfalst, erscheint
dann nach dem Herausgeber als eine Art Hauptbuch. Ohne nämlich sich
an eine chronologische Reihenfolge zu halten, sind die auf eine Person
bezüglichen Operationen zusammengestellt. Dabei ist gleichzeitig, soweit
die Kaufleute es erfahren mochten, der Zweck der Anleihe angegeben.
Ins südliche Frankreich ftüirt das Zweitälteste Handelsbuch, von dem
sich in dem Einbände eines alten, den Archiven von Forcalquier (Departe-
ment Basses -Alpes) angehörenden Registers ein Bruchstück gefunden hat.*
Es erstreckt sich nur auf einen kurzen Zeitraum, die Jahre 1330 — 1332,
und ist von dem Tuchhändler Hugo Teralh geführt. Mit Ausnahme ein-
zelner kleinerer lateinisch oder hebräisch geschriebener Posten sind die Ein-
tragungen in provencalischer Sprache erfolgt. Sie beziehen sich auf die Nam-
haftmachung des Käufers, des Gegenstandes, des Datums, an dem die Zah-
lung erfolgen soll und desjenigen, an dem sie wirklich eintrat. Das Sonder-
bare ist hierbei , dafs die Käufer zum Theil selbst in das Buch des Meisters
Teralh eintragen mufsten, also gleichsam über ihre eingegangene Verpflich-
tung ein Zeugnifs abgaben. Die wenigen Blätter, die vollständig zum Ab-
drucke gelangt sind, sind höchst lehrreich für das ältere Tuchgeschäft,
namentlich fiir den Handel mit Tuchen aus Languedoc, über den wir ebenso
mangelhaft wie über den von Artois und Flandern unterrichtet sind. Von
^ Herausgegeben durch Paul Meyer in: Notices et Extraits des Manuscrits de la
biblioth^que nationale vol. 36, p. 129 u. f. Le livre «Journal du maitre Ugo Teralh, notaire
et drapier a Forcalquier; vergl. auch C. Peter Kheil, V^alentin Mennher und Antich Rocha,
Prag 1898, 8. 47 und Hoitzmann in der Deutschen Litteratur- Zeitung 1899, Bd. 20, $.989,
Über die Quellen der HandehstaÜstik üu Mittelalter, 21
«
einer Buchführung im kaufmSnnischen Sinne ist bei diesem Buche , im Gegen*
säte zu dem vorhergehenden, nicht die Rede.
Ebenfalls aus dem südlichen Frankreich stammt das Handelsbuch der
Gebrüder Bonis in Montauban in der Gascogne. Genauer mü&te es heifsen :
das Buch des Barthelemy Bonis, denn der andere Bruder, Geraud, der an
dem Geschäfte bethe\ligt war, hatte schon einige Jahre, nachdem das vor-
liegende Buch begonnen wurde, das Zeitliche gesegnet. Die Bonis trieben
Gommissions- und Geldhandel und sind am besten als lombardische Händler
charakterisirt. Das von ihnen erhaltene Buch war sicher nicht ihr einziges.
Es beginnt mit Eintragungen im Jahre 1345, weist aber UbertrSge aus
einem älteren sub B. angeföhrten Buche aus dem Jahre 1339 auf. Wenn es
aber ein Buch B. gab, so mufs natürlich auch noch eins sub A. dagewesen
sein. Neben dem abgedruckten, das der Herausgeber als C. bezeichnet,
war aber noch ein Livre des Depots vorhanden. Dieses geht im Jahre 1347
an, hört im Jahre 1368 auf und weist die Depositengeschäfte von Klöstern
oder Privatpersonen nach, die in besonderen Fällen, etwa bei Erbtheilungen,
baares Geld niederlegten und die Bonis mit der Verwaltung desselben betrauten.
Forestie' nennt das von ihm vollständig veröffentlichte Buch, das 1345
beginnt und 1369 aufhört, ein Hauptbuch: »un veritable grand- livre de
marchand«. Man findet bei jedem Kunden, obwohl nicht einem jeden ein
besonderes Blatt eingeräumt wird, alle die Operationen, die er mit den
Bonis gemacht hat, vereinigt nachgewiesen, übertragen augenscheinlich aus
Hülfsbüchern (manuels), die daneben gefuhrt wurden. Unter einander steht,
was der Kunde schuldet, mit den Worten: »Item deu«, eingeleitet und
was er zu fordern hat, durch die Worte: »E nos a lu« angezeigt. Eine
umfangreiche Einleitung aus der Feder des Herausgebers hat geschickt ver-
standen, den grofsen Reich thum an Nachrichten aller Art, die die Hand-
schrift birgt, in ihrer Bedeutung zu beleuchten.
Ein viertes französisches Handelsbuch erscheint in denjenigen , das der
Kaufmann Jacme Olivier in Narbonne am Ende des vierzehnten Jahrhun-
derts hinterlassen hat.* In derselben Weise, wie bei dem vorhergehenden
r
' Edouard Forestie, Les livres de compte des fr^res Bonis, marchands Montalbanais
du XIV'*"* si^cle, 1890 — 1894, 2 vols. in: Archives Historiques de la Gascogne, Fascicules
20, 23, 26 abgedruckt.
' Alphonse Blanc, le livre de comptes de Jacme Olivier, inarchand narbonnais du
XIV**"* siede. Paris 1899. Tome 2.
22 W. Stieda:
Buche geschildert, werden die mit einem jeden Kunden abgeschlossenen
Geschäfte im Soll und Haben unter einander mitgetheilt. Demnach setzt
auch dieses Handelsbuch die Führung von anderen Hülfsbüchern voraus , aus
denen gelegentlich Übertragungen in das Hauptbuch vorgenommen werden
konnten. Von der auf drei Bände berechneten Publication ist bis jetzt ein
Band erschienen, der den Text nebst einer Anzahl kaufmännischer Docu-
mente aus dem Archiv zu Narbonne enthält.
Die Einleitung, die es ermöglichen wird, mit den Besonderheiten der
Handschrift vertraut zu machen, steht noch aus. Klar erkenntlich ist in-
defs so viel, dafs Ober den Tuchhandel von Languedoc ungeahnte Aufschlüsse
gewährt werden, <lie zugleich erlauben, von dem Handel in Narbonne selbst
eine andere Vorstellung zu gewinnen, als es nach dem nicht unverdienst-
lichen Buche von Celestin Port möglich ist.*
Die deutsche Litteratur hat bis jetzt nicht so umfangreiche und so be-
merkenswertlie Handlungsbücher an die Öffentlichkeit gebracht. Auch lassen
die bis jetzt bekannten keine so entwickelte Buchftihrung erkennen wie
bei den französischen.
Die beiden ältesten Bücher sind die der Wittenborg's in Lübeck, Vater
und Sohn, von welchem der erste Theil in die Zeit vor 1338 fallt, der
zweite sich auf die Jahre 1346 — 1360 bezieht und das des Johann Tölner
in Rostock, das den Zeitraum von 1345 — 1350 umfafst.
Das von Hermann Wittenborg herrührende Buch^ ist undatirt, weist
aber einige datirte Einträge aus den Jahren 1329, 1331, 1332 und 1336
auf und da er selbst zwischen dem 14. Juni 1337 und dem 29. März 1338
starb, so mufs dasselbe aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts
stammen. Mollwo meint von ihm^, dafs es im Anfange der Entwickelung
regelmäfsiger Buchführung im Hansegebiet zu stehen scheine und knüpft
daran einige Bemerkungen über die wahrscheinliche Entwickelung der Buch-
führung. — Allein ich furchte, dafs diese Behauptungen sich nicht aufrecht
halten lassen werden. Denn die Niederschrift Hermann Wittenborg's ist über-
haupt kein eigentliches Handelsbuch, sondern lediglich ein Nachweis seiner
ausstehenden Forderungen , indem gleichzeitig seine Betheiligungen an ver-
schiedenen Handelsgesellschaften unter einander aufgeführt sind. Zu irgend
^ Essai sur l'histoire du commerce maritime de Narbonne. Paris 1854.
' Carl Mollwo, Das Handlungsbuch von Hermann und Johann Wittenberg. 1901.
» A. a, O. S. XXX VHl.
Über die Queüen der Handehstaiistik im Mittelalter. 23
einer Zeit ereehien es ihm wünschenswerth, sich über den Stand seiner Activa
klar zu sein, und zu diesem Zwecke fertigte er dieses Register an. In der
umständlichen Form seiner Zeit hat er sich nicht damit begnügt, einfach
den Betrag, den man ihm noch schuldete, einzutragen, sondern in vielen
Fällen das Geschäft, aus dem die Verbindlichkeit herrührt, notirt. Er hatte
z.B. dem Kopekin Hoykendorpe lo Mark geliehen, dafür nach einiger Zeit
för 8 Mark Wolle und Schafe erhalten, so dafs ihm sein Schuldner 2 Mark
schuldig geblieben ist. Nun schreibt er nicht diesen Betrag hin, sondern
die Operation, aus der die Schuld von 2 Mark resultirt.^
Dafs auf diese Weise , wenn man alle seine Activa addiren wollte , ein
artiges Sümmchen erscheinen würde, macht mich nicht an der Richtigkeit
meiner Auffassung irre. Denn Hermann Wittenborg war, wie MoUwo selbst
bemerkt*, ein vermögender Mann. Nur ein solcher, der überdiefs sein Geld
in vielen kleinen Beträgen ausstehen hat, kommt auf den Gedanken, sich
über den Stand seines Vermögens orientiren zu wollen.
In diesem Sinne scheinen mir auch die Eintragungen der Wittwe Witten-
borg verstanden werden zu müssen , und erst mit dem Sohne Johann Witten-
borg beginnt seit 1346 eine Buchführung, die sich über alle Geschäfte aus-
läfst, die nicht Zug um Zug abgeschlossen wurden, sondern bei denen ein
Rest zu Gunsten Wittenbergs bleibt. Selbst hierbei sind aber die ersten
Einträge noch im Sinne der Aufzeichnung des Vaters eine Übersicht über
seine Zinseinnahmen und Renten aus Häusern.^
Moll wo macht uns nun darauf aufmerksam, dafs das Buch sicli nur
mit den Geschäften befasse , bei denen Wittenborg keine volle Baarzalilung
gegeben oder erhalten hat.* Ich glaube, dafs man hierin eine der Wurzehi
der Buchfuhnmg zu erblicken hat. Geschäfte, die Zug um Zug g^g^n baar
oder im Austausch erledigt wurden, hielt man zu notiren ursprünglich nicht
für erforderlich. Wo dagegen ein Guthaben ausstand, wurde es zweckmäfsig,
um es nicht in Vergessenheit gerathen zu lassen oder auch um ein Aner-
kenntnifs der Verbindlichkeit zu besitzen, es aufzuschreiben. Der Proven<?ale
Hugo Teralh liefs sogar seine Schuldner sich selbst in sein Buch eintragen
und mehr als 100 Jahre später ist bei Ott Ruland diese Art der Bescheini-
* Moll wo, a. a. O. S. 3. Nr. 17 und 18.
« A. a. O. S. IV.
' Moiiwo, a. a. O. 8. 12 und 13. Nr. i — 6.
♦ A. a. O. S. XLl.
24 W. Stieda:
guug noch nicht ganz aus der Mode gekommen. Erst ein weiteres Stadium,
wie man es bei dem freilich gleichzeitigen Tölner wahrnehmen kann, giebt
dann über alle Geschäfte und ihre Abwicklung Auskunft.
Ferner liegt eine andere Ursache in der Aufzeichnung von Inventaren.
Wenn es als noth wendig erachtet wurde , sich oder Anderen über den Stand
einer Wirthschaft oder eines Vermögens Belehrung zu schaffen , so war es
nur ein Schritt weiter, auch das Bewegliche oder sich Bewegende regelmäfsig
aufzuzeichnen.^ Übersichten, wie sie z.B. in den Rechnungen des Deutschen
Ordens sich erhalten haben, dürften einer Buchfiihrung vorausgegangen sein.
Die Niederschrift von Inventaren und ähnlichen Aufzeichnungen geht in sehr
alte Zeiten zurück.
Moll wo weist dann daraufhin, dafs in dem ältesten, noch ungedruck-
ten lübeckischen Rechnungsbuche die hauswirthschaftlichen Eintragungen
überwiegen , auch bei Wittenborg anfangs häufiger sind und später sich ver-
lieren.^ Er hat es nicht ausgesprochen^, aber wenn damit hat angedeutet
werden sollen, dafs aus der privaten Buchftihrung die geschäftliche und
kaufmännische hervorgegangen wäre, so möchte ich dem widersprechen.
Die officielle Rechnungslegung, sei es eine Rechnungsführung über fremdes
Gut oder zum Zwecke , sich mit anderen auseinanderzusetzen , wie es bei den
Handelsgesellschaflien nöthig wurde, ist die ältere. So wie heute Millionen
Familien gar kein Bedürfnifs verspüren , sich über ihre Einnahmen und Aus-
gaben ziffermäfsig zu vergewissern, so war es in jenen Zeiten gewifs noch
mehr der Fall. Vom Beamten oder Kaufinann, der gezwungen oder frei-
willig eine Buchführung beginnt, geht die Gewohnheit auf die Privatwirth-
schaften über. Das älteste bekamite Ausgabenbuch eines deutschen Privat-
mannes stammt aus den Jahren 1391 — 93* und die eingehenderen, die eine
gewisse Übung in der Führung derartiger Bücher erkennen lassen, aus dem
Ende des 15. Jahrhunderts. Die Eintragung von hauswirthschaftlichen Aus-
gaben in Handelsbucher ist nicht so sehr eine Unvollkommenheit der Buch-
fllhrung, als dem begreiflichen Wunsch des Kaufinanns entsprungen, sich
über den Verbleib des Erworbenen zu orientiren. Sie ist auch noch in spä-
^ Äimlich Sieveking, a. a. O. S. 1491 und 1492.
» A. a. O. S. XXXIX.
" Sieveking, a. a. O. S. 1491 sapjt, dafs Aufzeichnungen, die sich der WirthschaiVnde
zu seinem Privatgebrauch machte, den Anfang der Buchführung bildeten.
* Lamprecht, Deutsches Wirthschaftsieben im Mittelalter. Bd. 2. S. 542.
Über die Quellen der Hcmdehstatistik im Mittelalter. 25
teren Büchern des 1 5 . Jahrhunderts wahrzunehmen. Nach Mafsgabe dessen,
wie der Kaufmann mehrere Bücher neben einander zu führen lernt , trennt
er dann sein Privatconto von dem Geschäftsconto.
Noch eins ist bei Wittenborg's Buch bemerkenswerth. Es fuhrt uns
die Geschäfte eines wirklichen Grofshändlers vor, der mit einer verhältnifs-
mäXsig geringen Zahl von Kunden es zu thun hat und für seine Zeit ganz
bedeutende Abschlüsse macht.* Auf ihn pafst jenes von den Frankfurter
Handelsherren gesagte Wort nicht, dafs man nicht wisse, ob man sie unter
die Rentner, Landwirthe oder Kaufleute rechnen solle.^ Er war sicher
ein Grofshändler, und es ist überhaupt fraglich, inwieweit bei ihm oder
anderen Kaufleuten vorkommende Land- oder Immobilienkäufe sie ihres
Charakters als Kaufleute entkleideten. So wenig wie heute Hamburger
Grofskauf leute , die sich etwa in Mecklenburg ankaufen, deshalb aufhören
Kaufleute zu sein, so wenig durfte darin im 14. Jahrhundert ein Grund
gegen die selbständige Berufsstellung des Kaufmanns zu erblicken sein.
Ein unverkennbarer Fortschritt zeigt sich schliefslich in dem Witten-
borg'schen Buche darin, dafs das Deutsche als Geschäftssprache überwiegt.
Daraus ergibt sich doch wohl , dafs die Reclmungsfuhrung aus den Händen
der gelehrten Kleriker, die sich des Lateinischen bedienten — man kennt
noch heute den Ausdruck »clerk« für den kaufmännischen Gehülfen — ,
in die Hände des Kaufinanns selbst übergeht.
Das Tölner 'sehe Buch ist nur ein Fragment*, gleichwohl von der
grofsten Bedeutung. In lateinischer Sprache geführt, gibt es nicht nur
Auskunft über die Geschäfte Tölner's allein, sondern auch über die Unter-
nehmungen einer Handelsgesellschaft, deren Mitglied er war. Nach diesen
zerfallt das Buch in zwei inhaltlich verschiedene Abschnitte. Der erste
geht auf die Societätsgeschäfte , der zweite auf die Privatgeschäfte ein.
In beiden herrscht deutlich das Streben vor, eine bestimmte Ordnung ein-
zuhalten, die an die Grundzüge der doppelten Buchführung erinnern. Es
wird in der Hauptsache jedes Geschäft f&r sich , wenn auch nicht auf einem
besonderen Blatte , behandelt. Jedes Societätsgeschäft wird in seiner ganzen
Abwickelung zur Darstellung gebracht, und bei den Privatgeschäften sind
gewisse Rubriken auseinandergehalten, die die Absicht verrathen, eine be-
» Mollwo, a.a.O., S.LXVI.
* BQcher, Entstehung der V^olkswirthschaft, 1893, S. 232.
' Karl Kopp mann, Johann Tölner's Handlungsbuch von 1345 — 1350. Rostock 1885.
Phü.'hist Äbh. nicht zur Akad, gehör. Gelehrter. 1902. II. 4
26 W. Stieda:
stimmte Übersichtlichkeit zu gewähren. So zeichnet Töbier auf, was er
für die Gresellschaft , an der er betheiligt ist, ausgelegt hat, ein anderes
Mal seine Schuldner, dann wieder, wie er ein Quantum englischen Tuches
gekauft und an wen er es in einzelnen Parcellen verkauft hat. Es ist
demnach nicht unglaublich , dafs Tölner aufserdem andere Bücher zu fuhren
pflegte. Die Gesellschaft, der sich Tölner angeschlossen hat, macht aus-
schliefslich Geschäfte in Tuchen aller Art. Sie kauft Tuchstoffe in Flandern
ein und läfst sie in Packen nach Rostock kommen, wo sie verkauft werden.
Innerhalb des Zeitraums, über den die Aufzeichnungen Auskunft geben,
vom 8. September 1345 bis etwa 1348, bezieht sie 10 Packen Tuch im
Werthe von 4082 Mark, die fiir 6071 Mark wieder veräulsert werden.
Von der letzteren Summe geht freilich nicht Alles baar ein, sondern bleiben
Ausstände im Betrage von 1494 Mark. Das Privatgeschäft Tölner's be-
steht dann darin, dafs er das Tuch im Detail als Wandschneider absetzt.
Zu 2, 3, 6, i^, 2^ EUen u. s. w. sind die Verkäufe vor sich gegangen,
über die er gewissenhaft in seinem Rechnungsbuche berichtet. Ein 6e-
sammtumsatz läfst sich gleichwohl aus diesen Eintragungen nicht berechnen,
weil die jedesmal hinzugefugte Summe oft nicht den vollständigen Kauf-
preis angibt, sondern den rückständigen Rest nach Abzug einer auf Ab-
schlag geleisteten Baarzahlung. Aufser mit Tuch handelt unser Kauftnann
noch mit Holz zu Fenstereinfassungen , sogenannten Borden und Böttcher-
holz. Seine Kundschaft setzt sich aus allen Schichten der Gesellschaft zu-
sammen. Fürsten, Adlige und Rathsherren erscheinen ebenso wohl als seine
Abnehmer wie die Gewerbetreibenden, von denen 27 vei-schiedene nam-
haft gemacht werden. So legt das Buch deutlich Zeugnifs von der hohen
gewerblichen Entwickelung der Hansestädte im 14. Jahrhundert ab.
Bemerkenswerth sind die von C. Sattler in so vortrefflicher Weise
herausgegebenen und commentirten Handelsrechnungen des Deutschen Or-
dens.' Zwar bieten sie zum Theil, wie die Rechnung des Grofsschäffei-s
ZU Marienburg vom Jahre 1 399 , nur einen Überblick über den Stand der
Geschäfte. Indefs schon das zweite Rechnungsbuch derselben Grofsschäfferei
vom Jahre 1404^ versucht, nachdem eine Übersicht über die Lager, Vor^
räthe in Danzig, Elbing u. s. w. gegeben ist, eine bestimmte Ordnung -ein-
* Leipzig, 1887.
" Sattler, a.a.O., S. i ff.
' Sattler, a.a.O., S.yff.
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 27
zuhalten. Die Schuldner sind, wie bei dem ältesten französischen Buche,
nach Orten getrennt. Auf dem gleichen Grundsatz ist das dritte Rechnungs-
buch von 1410 — 1418 aufgebaut \ nur dafs noch mehr Ortschaften genannt
sind und bei einzelnen zeitlich spätere Nachträge dem Stande von 1410
zugefögt worden sind.
Eine sehr gute Ordnung weisen alsdann die flandrischen Liegerbücher
seit 1391 auf.^ In chronologischer Reihenfolge schreibt der Lieger Johann
Plige an, was er verkauft, wieviel er baar erhält, wieviel man ihm in
jedem Falle schuldig bleibt. Den Schlufs aber bildet immer, was er von
dem empfangenen Gelde dem Grofsschäffer abgeliefert hat und wieviel
dieser, entsprechend den noch nicht eingegangenen Forderungen, zu be-
kommen hat. Eine Schlußabrechnung für jedes Jahr ist unterlassen. Gleich-
wohl dürfte es dem Buchhalter kaum schwer geworden sein, zu einer be-
stimmten Zeit sich über den Stand gewisser Geschäfte, als z. B. Verkauf
von Bernstein, Kupfer u. s. w., auszuweisen. Ob der Lieger daneben an-
dere Bücher führte, bleibe dahingestellt. Es ist wahrscheinlich. Denn
manche Operation , über die er alles Zusammengehörige unter einander be-
richtet, konnte nicht auf einmal erledigt werden. Die Zahlung der Un-
kosten , Zölle u. s. w. wird sich über mehrere Tage erstreckt haben.
Inhaltlich sind gerade diese Rechnungsbücher von der allergröfsten
Wichtigkeit. Sie rollen ein Bild auf von dem Verkehr zwischen den
preufsischen Städten und den flandrischen. Wir erfahren von einem leb-
haften und umfangreichen Waarenverkehr, der uns die gegenseitige Ab-
hängigkeit deutlich erkennen lä&t.
Den Unterschied zwischen mehreren Büchern oder Abschnitten findet
man in dem der Zeit nach dritten deutschen Handelsbuche, dem des
Vicko Geldersen in Hamburg aus den Jahren 1367 — 1392.^ Das Buch
zerfallt in getrennte Ausweise über Handelsgeschäfte , Rentenkäufe , Schulden
und letztwillige Verfugungen. Der Gedanke scheint vorgeschwebt zu haben,
innerhalb dieser Abschnitte eine genaue Scheidung der einzelnen Opera-
tionen vorzunehmen. Das ist jedoch in der Durchfuhrung nicht gelungen.
Das Buch bietet in seinen einzelnen Abschnitten weder chronologische
^ Sattler, a.a.O., S.48ff.
* Sattler, a.a.O., S. 317 ff.
• Hans Nirrnheim, Das Handlungsbuch Vicko's von Geldersen. Hamburg 1895,
4*
28 W. Stieda:
noch systematisch auseiiiandergehaltene Daten. Vermuthlich wuchs die
Buchführung dem Ungeübten über den Kopf.
Unser Hamburger Kaufinann war ein Wandschneider, d. h. ein Tuch-
händler, der das en gros eingekaufte Tucli ellenweise oder in ganzen Stücken
wiederverkaufte/ Zugleich handelt er indeis auch mit anderen Waaren,
wie Bier, Flachs, BaumwoUe, Krämerwaaren , Mineralien, Metallen u. s. w.
Und er entwickelte eine sehr umfassende Wirksamkeit. Der mannigfache
Inhalt seines Buches gewährt, wie der Herausgeber ganz richtig betont^,
einen Einblick in den Kleinbetrieb mit seinen Sitten und Gepflogenheiten,
sowie in den Gang des damaligen Welthandels und dessen Formen. Lehr-
reich ist die Sprache , in der das Buch geführt wurde. Sie ist zu Anfang über-
wiegend die lateinische, wird aber allmählich eine niederdeutsche. Also die
gleiche Erfahrung, die wir schon anderswo gemacht haben, wird hier bestätigt.
Gewähren die vorstehend charakterisirten Bücher Auskunft über nord-
und ostdeutsche Handelsverhältnisse, so eröffnen zwei andere uns den süd-
deutschen Verkehr. Aus dem Buche der Regensburger Kaufleute Wilhelm
imd Matthäus Runtinger^, deren Geschäfte sich über die Jahre 1383 — 1407
erstrecken , sind Auszüge veröff'entlicht. Das in deutscher Sprache geföhrte
Buch weist die Anfange einer einheitlichen Ordnimg unverkennbar auf. In
einer Überschrift, ist gewöhnlich der Name dessen, mit dem das Geschäft
abgeschlossen, dessen, der Geschäfte besorgt hat, sowie der Ort, nach dem
gehandelt wurde, und die Zeit genannt. Es sind jedoch die Handelsope-
rationen nicht genau, sondern nur im allgemeinen von einander geschieden,
die Überschriften keineswegs immer einheitlich und erschöpfend und an
persönlichen oder Familiennachrichten, Recepten oder Mittheilungen über
städtische Amter, die übernommen wurden, fehlt es zwischen den geschäft-
lichen Eintragungen nicht. Der Inhalt ist nach den mitgetheilten Daten
wichtig und verdiente wohl eine vollständige Bearbeitung. Wechsel-, Handels-
und Geldgeschäfte kommen vor und es tritt ein Verkehr entgegen, der in
Italien, besonders in Venedig, Brabant und Frankftirt einkauft und nach
Wien und Prag ausfuhrt.
* Nirrnheim, a.a.O. S. XXV.
» A. a. O. S. XXVI.
* Franz Ebner, Ein Regensburger kaufmännisches Hauptbuch aus den Jahren
1383 — 1407 in den »Verhandlungen des historischen Vereins der Oberpfalz und von Regens-
burg«. Bd. XLV.
über die Quellen der HandelsstatisWc im Mittelalter. 29
An dieses schliefst sich der Zeit nach an das Buch des Ulrich Starck
in Nürnberg für die Jahre 1426 — 1435.' Zwar ist es nach der Ansicht des
Berichterstatters eine Art Haus- und Memorialbuch zugleich, und neben
ihm führte der Kaufmann eigentliche Geschäftsbücher. Wenigstens ver-
weist er gelegentlich auf sein »grospuch«. Indels, wenn in diesem Buche
in zwangloser Folge Nachrichten über den Hausstand, die Einkünfte, den
Betrieb der Landwirthschaft sich mit denen über Handelsgeschäfte ver-
mischen, hauptsächlich berichtet er über die letzteren. Das Buch ist be-
merkenswerth auch wegen der Zeit, aus der es stammt. Trotz der Be-
drängnifs jener Jahre, trotz der Hussitenstürme , der Irrungen mit Venedig,
der Kriegsstörungen , die auf den französischen, niederländischen, englischen
Markt nicht ohne Einflufs geblieben sein können, erscheint der Nürnberger
Handel in hellem Lichte. Wir lernen einen Kaufmann kennen, der in
Rohstoffen, wie Wolle, Wein, Getreide, doch auch in Tuchen und Pre-
tiosen und Juwelen handelt. In ihm erscheint einer derjenigen, die dem
Geldhandel als dem einträglicheren neben dem Waarenhandel sich zuzu-
wenden anfangen.
Ungefähr ein halbes Jahrhundert später ist das Buch des Kaufmanns
Otto Ruland in Ulm, von 1446 bis 1462, geschrieben.^ Es bietet in
grolser Fomdosigkeit inhaltlich bemerkenswerthe Nachrichten. Auf jeder
Seite werden Dinge , Personen , Zeiten durcheinandergeworfen. Noch immer
sind Eintragungen, die sich auf private Angelegenheiten beziehen, nicht
ausgeschlossen. Selbst die Thatsache, dafs Fremde in das Buch Eintra-
gungen zu machen veranlafst werden, können wir beobachten. Zwischen
»Soll« und »Haben« weifs gleichwohl unser Kaufmann den Unterschied
deutlich zur Darstellung zu bringen. Dieses Haus hat wesentlich die Be-
ziehungen zwischen Ost und West gepflegt. Alle bedeutenden Orte west-
lich von Basel bis zum Niederrhein sind genannt und im Osten Regens-
burg, Landshut, Braunau, Linz, Wien, Klosterburg und andere.^ Von
seinen Commanditen befindet sich eine in Frankfurt a. M. , eine zweite in
Augsburg, eine dritte in Braunau, eine vierte in Wien. Ganz andere Waaren
als in den vorhergehenden Büchern erscheinen hier: niederländische, vene-
^ Kln, «Ein altes Handelsbuch> in der Beilage zur »Allgemeinen Zeitung«. 1901. Nr.ioi.
* Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart. 1843. Herausg. von Konrad D.
Kassier.
» A. a. O. S. Vin.
30 W. Stieda:
tianische, Ulmer Tücher, Leinwand aus Ulni und Augsburg, Tischtücher,
Metalle, Weine aus Württemberg, Schweine aus Bayern, Rosenkränze und
Holzstöcke für die Holzschneidekunst u. A. m.
Neben diesen besprochenen, bereits ganz oder theilweise der Öffent-
lichkeit übergebenen Handelsbüchem bergen die Archive zu Danzig, Lübeck,
Hamburg, Augsburg, Reval, Riga und die Bibliothek des Germanischen
Museums zu Nürnberg eine Reihe anderer, grö&tentheils aus dem i6. und
17. Jahrhundert, deren einstige Besitzer zum Theil haben bestimmt werden
können, zum Theil aber auch noch unbekannt geblieben sind. Höchst
lehrreiche Auszüge aus einem von sieben Hamburger Handelsbüchern,
die Matthias Hoep zugehört haben, hat Richard Ehrenberg mitge-
theilt.^ Eins derselben hatte ursprünglich dem Schwager Hoep's, Jacob
Schröder, gedient, der es in den Jahren 1553 und 1554 benutzte, aber
dann liegen liefs. Auf diese Jahre ist Ehrenberg's Darstellung gerich-
tet. Das hat ihn nicht gehindert, zugleich auf den Reichthum an Nach-
richten in den Hoep'schen Büchern hinzuweisen. Hoep's Eintragungen
beginnen im Jahre 1563 und hören im Jahre 1593 auf. Sämmtliche
Zweige der damaligen Hamburger Handels- und Gewerbsthätigkeit werden
uns vorgefÄrt. Der Tuchhandel mit den Gewerben, auf die er sich
stützt, die Tuchbereitung und -färberei, der Handel in Getreide, mit Pferden,
Ochsen, Vögeln (Falken, Habichte, Papageien) wird beleuchtet, daneben
eine fast unübersehbare Fülle von Notizen über alle möglichen Waaren
geboten.
J. Härtung hat dann in der Zeitschrift für Social- und Wirthschafts-
geschichte aus dem Geheimbuche der Augsburger Handelsgesellschaft von
Anton Haug, Hans Langenauer und Ulrich Link, welches sich auf die Jahre
1532 — 1549 und 1551 — 1562 bezieht, Mittheilungen gemacht.^ Es ist
mir in hohem Grade wahrscheinlich, dafe auch noch in anderen Archiven
und Bibliotheken derartige Schätze vorhanden sind. Nur ist eben noch
keiner auf ihren werthvollen Inhalt auftnerksam geworden oder hat wenig-
stens nicht in der Öffentlichkeit auf sie verwiesen.
Sehr dürftig ist in dieser Beziehung die englische Litteratur. Aus
ihr oder vielmehr aus der schottischen weifs ich nur anzuführen den von
^ Zeitschrifl des Vereins für Hamburgische Geschichte. Bd. VIII, S. T39f,
» Bd. VI, S.36f. (1898.)
99
über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 31
C. Innes herausgegebenen »Ledgerof Andrew Halyburton«.^ Dieses Handels-
buch erstreckt sich auf die Jahre 1492 — 1503 und ist ein wirkliches
Hauptbuch, indem es in so viel Abschnitte zerfallt als Halyburton Ge-
schäftsfreunde hatte. Unter dem Namen eines jeden derselben finden sich
die mit ihm im Laufe der Jahre nacheinander abgeschlossenen Handels-
geschäfte eingetragen. Die Sprache ist schottisch, vermischt mit flämischen
und deutschen Brocken. Halyburton hatte seinen Wohnsitz in Middelburg
(im holländischen Zeeland), entwickelte aber seine Hauptgeschäfte in Ant-
werpen, Brügge und Gent. Kaufleute aus Turcoing (Frankreich), Bergen
op Zoom (Holland) und Edinburg spielen eine grofse Rolle im Verkehr
mit ihm.
Die Methode, nach der Manuseripte von Handelsbüchern ftir die Handels-
statistik und -geschichte nutzbar gemacht werden konnten , scheint mir noch
keine ganz feste zu sein. Denn wenn es auch wünschenswerth ist, die
älteren vollständig zum Abdruck gebracht zu sehen , weil ihrer nicht viele
sind und meist von keinem grofsen Umfange, so verhält es sich mit den
jüngeren doch wesentlich anders. Diese wird selbst unsere druckeifrige
Zeit kaum in ihrem ganzen Umfange an's Tageslicht ziehen wollen. Es
liegt hier ähnlich wie mit den Zunftrollen. Von den älteren ist wohl kaum
eine für eine Geschichte des deutschen Gewerbewesens ausreichende Zahl
veröffentlicht worden. Unter den jüngeren, die viel zahlreicher und von
starkem Umfange angetroffen werden, müfste man sich mit einer aller-
dings sachgemäfs zu treffenden Auswahl begnügen. Am besten wäre es,
wenn einmal von berufener Stelle eine Art Schema aufgestellt würde, wo-
nach vorkommenden Falls eine Veröffentlichung vorzunehmen wäre. Sonst
würde man immer Gefahr laufen , Wichtiges und Nebensächliches zugleich zu
bekommen und die für eine zutreffende geschichtliche Darstellung wünsch ens-
werthe Vollständigkeit doch nicht erreichen.
Fassen wir am Schlüsse das Gesagte zusammen, so wird sich nicht
leugnen lassen, dafs in der That die älteren Handelsbüeher eine hervor-
ragende Quelle der Handelsstatistik sind. Die wenigen Andeutungen, die
hier über die Waaren, Handelsrichtungen u. s. w. gemacht werden konnten,
erweisen ihre Bedeutung ohne Zweifel. Nicht so sicher scheint mir das
* Kdinburgli, 1867. Published by authority of the Lords of tbe treasui7 undev the
.direetiun of the Loi'd clerk - register of Scotland.
32 W. Stieda:
Ergebnifs in Bezug auf die Entwickelung der Buchführung. Von den Theo-
retikern über die Buchhaltungskunst im 16. Jahrhundert wird angenommen,
dafs , um Rechnung zu halten , drei Hauptbücher nöthig seien : das Journal,
das Schuldbuch und das Waarenbuch. Ersteres diene zur Eintragung der
täglichen Geschäfte, welche sich auf den Handelsbetrieb beziehen, unter ge-
nauer Rücksichtnahme auf alle Umstände des Handelsgeschäftes. Das Schuld-
buch soll dazu dienen , um aus dem Journal die Debitoren und Creditoren
auszuziehen. Das dritte Buch endlich diene dazu, über Waaren Rechnung
zu fahren, um zu wissen, wieviel man von einer Waare haben mufs, wie-
viel man empfangen , versandt u. s. w. hat. Aufser diesen gäbe es noch
weniger wichtige , nämlich eins für die Betriebsauslagen , eins fSr die Waaren-
versendung, eins far die Briefe.
Es ist gewifs, dafs dieses Schema für die ältere Buchführung keine
Gültigkeit gehabt hat. Aber inwieweit die erhaltenen Bücher nun erlauben,
eine Entwickelung zu construiren , die in zwingender Weise vor sich ge-
gangen ist, scheint mir so lange zweifelhaft, als man nicht weifs, ob das
auf uns gekommene Buch das einzige des betreffenden Kaufmanns war oder
nicht. Mir scheint eine grofse Formlosigkeit die Regel gewesen zu sein.
Kein Kaufinann hat es dem anderen in der älteren Zeit gleich gemacht.
Der Eine bediente sich mehrerer Bücher, ein Anderer behalf sich mit einem
einzigen. In Frankreich war die Organisation eine andere als in Deutsch-
land oder in Italien, und auch über den Punkt, inwiefern die Handels-
bücher schon damals öffentliche Anerkennung genossen, scheint mir ein
sicheres Urtheil nicht möglich.^
* Vergl. darüber Sievekiog, a. a. O. S. 1505.
über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 33
Anhang.'
I Ladung des dem Schiffer Hanneke Yrome gehörigen, auf der Fahrt
von Lübeok nach Reval untergegangenen Schiffes. 1469, Febr. 20.
Reval'sches Stadtarch. Orig. Eine Pergamentlage in Folio, bestehend aus vier Doppel-
blättern, die am Rücken durch einen Pergamentstreifen zusammengeheftet sind. Das erste
Blatt dient als Umschlag , die f&nf folgenden sind beschrieben , doch die Ruckseite des letzten
Blattes nur etwas Aber die Uilfte; die beiden letzten Bl&tter sind wieder ungenutzt geblieben.
Das Siegel ist nicht mehr vorhanden.
Verz. Hildebrand, Melanges Russes 4, S. 754, Nr. 282 und danach v.d. Ropp, Hanse-
recesse Bd. 6, Nr. 146, Anm. 2. Hier abgedruckt nach der von Hildebrand ftir das livlän-
dische Urkundenbuch genommenen Abschrift, die mir von Hrn. Stadtarchivar Dr. Ph. Schwartz
in Riga zur Benutzung freundlichst überlassen wurde.
Allen unde eneme iszliken , de dessen breff zehen , lioren oflfte lesen,
unsen ghunstigen leven heren unde besunderen guden frunden na irbedinghe
unses willigen unde firuntliken denstes mit vermögen alles guden, don wy
borgermestere unde radmanne der stad Lubeke witlick openbar betugende
in unde mit desser schritt, so alse schipper Hanneke Vrome van unser
stad na Revell wardes mit kopmans guderen vorfrachtet was to zegelende
unde, Gode enbarmed, mit den luden unde gude is vordruncken in den Nu-
landesehen scheren in deme lene Razeborch , aldus sint vor uns gekomen
alse wy to rade zeten desse nabenomeden unse radeszkumpane borgere
unde koplude bynnen unser stad vorkerende unde hebben eyn jewelick vor
zin hoved vormyddelst eren uthgestreckeden armen unde upgerichteden
vingeren staveder eede liifliken to den hilgen gesworen unde wargemaked,
dat ze in des erscreven schipper Hanneken Vromen to desser lesten reyse
geschepet hadden alle sulke ghudere, so hir nabenomed stiu, de en erer
zelschop unde in de.Dutschen hause behoren unde nymand in Dennmargken
part oflfte deel darane hadde ane alle argelyst namliken:
' Der Abdruck erfolgt getreu den Vorlagen. Ge&ndert wurde nur die Interpunction ;
alle Eigennamen wurden mit grofsen Anfangsbuchstaben wiedergegeben; y und i zu Beginn
eines Wortes in j umgewandelt.
IM.'hist Abk. nicht zur Akad, t/ehär. Gelehrter. 1902. IL 5
34 W. Stieda:
1. De ersamen her Hinrik Kastorpp, unse borgermester, dede seligen
Hanse Beseler mede veer unde twintich Rinsche güldene umme de her
Johanne van Bercheme, radmanne to Revel, to bringende.
2. Her Hinrick van Hacheden sosz vate bleckes, aldus - -
3. Her Ludeke Beere teyn last zemes, derteyn tunne vor de last, also
%l-
4. Hans Beere zin zone ene last zemes, aldus jL ^.
5. Item her Ludeke unde Hinrick Burammer samptliken twe last zemes,
alle derteyn tunnen vor de last van dessen merken ^l^ /tx'
6. Her Johan Hertze ene droge tunne mit lakene unde twe sacke
hoppen under desseme mercke vA^ .
7. Her Johan Witinghoff veer terlinge lakene, twe aldus 4^, enen
also^, noch enen aldus ^ v X' ^^^ droge vat, also ^, unde ene halve
last zemes also V.
A )^
8. Albert Bemmer derteyn tunne zemes aldus \^, twe bale poppirs,
also 1 L, ene droge tunnen mit yseren drade, ock also gemerket.
9. Clawes Neenstede eyn droge vat und^ eyn terlinge laken aldus
X I den schal entfangen Gherd Deman to Revel.
Item eyn terlinge lakene also r^, den schal Jacob Eppenschede entfangen.
10. Godert van Hovelen eyn last zemes, derteyn tunne vor de last,
also /Y\ ^\ I ene packen aldus 'T ^¥^9 noch dre terlinge lakene,
also %J I C ] I ^ noch enen terlingk lakene unde eyn di'oge vat aldus
%t
II. Hans by deme Zee enen terlingk lakene, darinne twe unde twintich
brede Pepersche unde enen packen, darinne dredusend schullen, aldus ^K .
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 35
1 2 . Diderick van der Beke vyf unde twintich tunne , dree vate , twe
blekvate, also /yK • Int erste darinne dree rysz poppirs, vefleyn dos-
sin beretken, teyn dossin kemme, sosteyn papir natelremen, veerteyn gro-
teken snor remen, veer groteken natelremen , dre dossin schalen, verde
halff dossin hansken, twelff dossin enlopelinge, negen papir natelremen,
vif dusend snor natelen , vyf dusend hechte , twe dusend stennatelen unde
twedusend schnirenatelen , sosz dusent grover natelen , eyn dusend grover
natelen, sosz dossin schermeste, teyn dossin brotmeste, sosz dossin slotte,
soven dossin myspelen, dre dossin myspelen, viff dossin grote spegel,
vyf dossin spegel, sosz dusend knopnatelen, teyn buxzyden, twe stige
walsch lennewand, negen teyn hundert messinge ringhe, twelff dossin
gordel, achte dossin gordel, twee dossin gordele, achte dossin gprdel,
twe dossin gordel, anderhalff dossin gordel, dree lotbussen, twelff dossin
krichsn6r\ eyn unde twintich punt quicksulvers , noch enen sintener unde
eyn marktpunt twe vate blix, negen unse goldes, sosz unde dortigeste-
halff dossin vilthode, viff punt saffranes, teyn punt negelken, vif punt
musschaten, eyn dossin rulgoldes, twe punt unde twelff lot syden binde-
ken, veer XJlmer doke, veftich punt peperkomen, sostich Nerdesche lakene,
veer Amstelredamsche, eyn brun Engelsch, dre brune, dre grone Leydesch,
dre s warte Leydesch, eyn vateken Monsters louwandes gebleket, dar sint inne
vif unde achtentich holten, twe dusent stavelen haken, eyn hundert vinger-
hoyde, veer dusend tengelken, veerteyn deker rotlasch, twe deker rotlasch,
twintich dossin kiener budel, twe grone hode, dre holten cleyne louwand, teyn
elen grawe Engelsch, soven deker rotlasch, eyn dossin swerde, allerleie
gordel, veer dossin krige, eyn krevet mit armwapen, eyn stelen hoet, eyn
Stelen pansere, negenteyn tunne zemes, eyn schoff kettel, noch eyn vat twe
smale tunne aldus / / , darinne ick mene to wesende sosz grone Leydesch.
In deme vate is allerleye krut, saffran, qwicksulver, unsegolt, Walsch lenne-
wand, kleyn HoUandesch lennewand, syden stucke un de Ulmer doke.
13. Volmer Musz teyn droge tunne under desseme merke vT^> darinne
achte swarte Leydesch, twe Amsterdammesche, achte Altesche unde sosz
Nerdesche, achtehundert unde veer elen Monstersch louwand.
^ sie!
5*
tich Nerdesche, unde dree tunne also T , darinne soven unde achtentich
stucke louwendes, de holden twelffhundert unde veer unde negentich elen.
15. Arnd Mentze eyne halve last stör rogen, ene pannen van ander-
halven schippunde, sosztehalffen liispunt myn twe liispunt, twe tunnen
sippoUenzades under desseme marke ^ 1 N^ .
16. Clawes Brant de junghe ene last vigen, ene packe louwendes,
soven vate blickes , sosz droge tunnen my t Munsterscheme louwende , twe
droghe vate mit Munsterschen louwende, alsus JC_j
1 7 . Item her Ludeken Beeren vorbenomed noch veftich Rinsche gül-
den, hefft gedan Hinrike Burammer en samptliken tobehorende. Item noch
twe terlinge lakene Hinrike Burammer tobehorende, darinne negen unde
twintich brede Kumesche imde vefteyn brede Pepersche, also ^vX-
18. Jacob Richerdes ene droge tunne, darinne eyu halff rod Engelsch
lakene, veer dossin sporen, eyn dossin punthoyde, item dre last vighen
under desseme merke 4- .
"* ^ ZLJ
19. Hermen vame Stade eyn terling lakene aldus '\ /n^^ ®^® packe
lakene 1 Ti , item eyn terling lakene , noch alsus gemerket OC .
20. Gherd Prediker teyn tunne darinne dertich Delremundesche , also
rri; item teyn tunne, darinne vertich Altesche; negen tunne, darinne
soven unde twintich Nerdessche; item eyn vat darinne soven Erfordessche,
twe Nerdesche unde eyn Altesche , veer unde twintich punt blaw tweme ;
item ene kiste, darinne veerteyn zenebaffen, vertich elen louwandes, teyn
ducker vodere, sosteyn untze goldes, achte Ulmer doke, by vertich Rin-
schen gülden, alle under desseme T^.
21. Hans Bück twe terlinghe Engelscher lakene, twe droge vate,
darinne sosteyndehalven zintener missinges drades unde anderhalve last
heringes y y : item drehundert Rinsche gülden.
j
Über die Quellen der HandelssiaHstik im Mittelalter. 37
2 2. Gherwen Buk dree terlinghe lakene, in deme eneii eyn unde
twintich Poppersche; in deme anderen vefteyn Poppersche, sovedehalve nye
Kumesche lakene; in deme derden teyn Ypersche unde elven Trikumesche
lakene; item dre last unde teyn tunnen zemes, also ^T^ XX XX'
23. Wilhelm Kortsak eyn terlinge lakene, darinne veer unde vertich
Altessche, gemerket also ^L^.
24. Hermen Darsouwe enen terlinge lakene, darinne eyn unde twin-
tich* teyn brede Pepersche; item eyn terlinge Engeische, darinne twintich
lakene under desseme merke 1 ' 1.
25. Godeman van Buren dree terlinge brede Peppersche, darinne
viff unde sostige halflf lakene; twelff last zemes myn ene tunne, der-
teyn tunne vor de last under desseme merke /4v; item sostich margk
Rigesch geldes; item noch enen terlinge lakene under desseme merke "T^"'
item^ terlinge also •+"; item enen terlinge, darvan wet men dat merk
nicht.
26. Tonnyes Dyman eyn terlinge brede Peppersche, darinne veer
unde twintich lakene also "^tj; item noch eyn vat mit mennigerleye pen-
ningwerde, de werde boven soventich mark also merket ClT«
27. Wilhelm Pleskouwe eyn terUng lakene, darinne twe unde twin-
tich brede Kumesche aldus I . Noch hadde he dan Hermene van der
Molen hundert Rinsche güldene, hirvan heft entfangen Bernd Kannengeter
viff unde dertich gülden.
28. Hinrik Bostede enen terlingk unde eyn klene vat mit lakene,
dar weren inne twe unde dertich Nerdesche, viff Engeische unde eyn
^ Hier hat der Schreiber verrouthlieh ein Wort ausgelassen, wenn das »teyn« nicht
als Angabe der Breite anzusehen ist.
' Eine Zahl vielleicht ausgelassen.
darinne louwend.
38 W. Stieda:
29. Hans Brekelvelde eyn terlinge lakene, darinne teyn brede Pe-
persche unde twelfthalff brede Kumesche; item ene packen, darinne negen-
tein blauwe Junckers, derteyn elen graw tome slachdoke; item Jacob
Cellenkisten eyn nasch, darinne eyn güldene ringk mit eneme saffir unde
enen korallensnor , allent vorscreven under desseme merke -p. Item noch
eyn terling lakene, darinne eyn unde twiiitich brede Kumsche unde eyn
Trikumesche also J^. Item noch eyn terling lakene under desseme merke
T| , den schal wan Borger to Revel entfangen. Item noch eyn ter-
linge lakene aldus k^, den schal Hans Hasse entfangen. Item twe ter-
linge lakene aldus gemerket J ^4" 4^. Item noch eyn pakschen aldus
30. Hinrik Klockeman eyn droge vat mit vossen unde beveren unde
ene droge tunne darinne twe swarte Leydesche lakene also Nl .
31. Hermen Smedingk veer last zemes also Ztlf derteyn tunne vor
de last.
32. Ludeke van Thunen soven last honniges, viiff last van desseme
merke /-^ unde twe last van desseme \rf^ , dertein tunne vor de last.
33. Wolter Bredholt dre terlinge lakene, in deme enen twe unde
twintich brede Kumesche, in deme anderen twe unde twintich brede Pepersche,
in deme derden eyn unde twintich Kumesche laken under dessen merken
I [1 . Item eyn droge vat gemerket also j . , dat schal entfangen her
Johan Pawels to Revell. Item noch eyn terlinge, darinne twintich Engeische
lakene, aldus gemerked ,p, den schal entfangen to Revell Plonnyes Berk.
34. Everd Peters viif last zemes, dorteyn tunnen vor de last unde
anderhalff schippunt oldes koppers unde^ tunne Schonsches heringes also
^ Die Zahl ist vergessen worden.
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 39
merket yf^ y unde veer korallenveftich in ener kisten; item viiff schone
kettele aldus /VX y^.
35. Bertold Rykman twee terlinge lakene, in deme enen twelff kostele
Ypersche, dar mede twe Thernige unde twe nye Eumesche, in deme an-
deren terlinge sosz kostele Ypersche, darmede twe Therniglie unde ver-
teyn Trikumesche unde veer unde twintich tunnen zemes, benamen veer
tunne tynnes , wegene sosz schippunt achteyndehalff lyspunt also Tf'^ jv .
36. Grodeke Pleskouwe sosz last zemes aldus -4- . derteyn tunne vor
de last, twe terlinge lakene, in elkeme eyn unde twintich brede Peppersche;
noch enen terlinge, darinne eyn unde twintich Treikumesche unde eyn
droge vat unde ene droge tunne under desseme merke JL^; item ene packe
aldus j\ , darinne viif unde twintich Westerlundesche , eyn brun unde
eyn rod schoren Lindesch, noch eyn rod unde eyn gron Lundesch unde
derteyn blawe Junchers, de hören Hanse Sehopholt; item noch eyn terlinge
aldus J , offte also [^ » darinne eyn unde twintich Thomassche.
37. Hermen Detmers eyn terling lakene, darinne twintich Dortmun-
desche unde eyn Nerdesch lakene, noch eyn droge vat, darinne twintich
zin teuer missinges draed, alle under desseme merke /x •
38. Hermen Jolp eyn droge vat under dessen twen merken ^V
, darinne drehundert Munstersches louwandes unde ein blaw Ner-
desch; item ene halve last Schonsches heringes, also ^)[ ^ n^Q^ viiff
blawe Juncher myt Symon Dusborch ingeslagen.'
39. Hermen Zuborch sosz droge tunnen, darinne twelff Nerdessche,
veer Leydesche, twe Altessche lakene aldus S^ ; noch veer tunnen, darinne
soszteyn Altessche lakene, aldus gemerket
>S<
* Es ist zu ven'miithen, dafs hier ein Lesefehler Hildebrand 's vorliegt und etwa ein
Tuch aus Duisburg gemeint ist.
40 W. Stieda:
40. Amd van Meyderik eyn terlingk kosteler Engeische snytlakene,
aldus jÄj, eyn droge vat, darinne eyn veteken gron engefers, wecht mit
deme holte twehundert acht unde twintich punt, viif Viamische hode,
verdehalff riisz poppirs, also gemerket J^; item noch eyn terlinge kosteler
Engelscher snytlakene under dessen beyden merken 1 Jk .
41. Hinrick Prume an vaten unde tunnen van dessen twen merken
yC I jT] item ene packe pechtlinges, darinne twelff hundert viiff unde
vertich elen an Munsterscheme unde Lubeschen louwende uppe drehundert
unde negen unde vertich mr. ; noch drehundert derteyn elen Vlamesch lou-
wend; noch an zyden, untzegolt unde mennigerleye klene parcele, summa
van dessen vorscreven alle achtehundert elven mr., verteindehalven Schilling;
noch dre unde vertich Altessche lakene, verteyn Leydesche, verdehalff
Bruggesch teyn Nerdessche, veer Westerlindesche , twe kirsey, ene brede
Bruggesche vitze, twelff Delremundesche , sosz Amstelredammesche , sosz
Engeische vitzen, eyn kassel kamesch rod, soven unde veftich elen frese,
hirvan summa in al twintich hundert acht unde achtentich mr. unde twelfte-
halven schillinghe. Item noch soven terling lakene dre also \/ k. 1., de
schal Hans Roterdes entfangen ; item enen alsus \A c. , schal hebben her
Reynolt van Weren ; item enen also IX g. , schal hebben Everd van der
Schuren. Item enen also ^\ 1 schal hebben Hans Westhoff, darinne dre
unde twintigestehalff Engelsch lakene. Item enen noch alsus 1 V JL.
schal hebben Everd van der Scuren, darinne soven teyn brede Kumesche,
twe rode geschoren Eiigelsche lakene, holden viif unde negentich elen.
42. Gherd Grutere eyn terling laken darinne twelff Trikumesche, viiff
Ypersche, twee lichtgron, eyn lichtblaw gabuke*, twe lasurblaw; item eyn
terling lakene, darinne teyn Ypersche, viiff wilde, dree lassurblaw, eyn
lichtgron, eyn rod Terniger, elven Ny kumesche; item ene bereven tunne,
* sie.
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 41
darinne hundert acht unde sostich punt qwicksulvers , viif unde vertich
markpunt swampe , item halve blade van nacken vossen unde kelen ; item
enen Russchen zube; item eyn eken vat, darinne twe schone blancker
kettele, de wegen sovedehalven zin teuer, eyn lyspunt unde dree mark-
punt; item anderhalven zintener pissebecken; item noch eyn droge vat,
darinne sosz tymmer unde veflfteyn bever, veer tymmer unde negen Swe-
dessche vosse, alle vorscreven parcele van dessen merken A-\ j-. Item
zin knecht selige Jachim Becker hadde by sick eyn güldene signeteboch
umme trent sosz nobelen wegende. Desse vorscreven gudere scholde Jachim
Maesz to Revell entfangen.
43. Brun Bruskouw ene packen lakene, dar weren inne brede Pep-
persche unde Ypersche under desseme merke ^H".
44. Tydeman Beseler eyn terlinge darinne negen grawe Bruggesche
unde elven Engeische snytlakene, dre rode, dre grone, veer brune unde
^^
eyn swart, aldus \ 1 ; item twe packen darinne dertich brede Peppersche,
r..
de zint gemerket aldus [ . ; item eyn terlinge Trikumesche, darinne twe
unde twintich lakene; item ene halve berevene tunne darinne eyn Florensz
lakene unde noch eyn droge vat mit vossen, noch viff blawe Junchers,
alle aldus T^,
45. Diderik van Mere eyn droge vat yC , darinne negen stucke
Lubesches louwandes, viff unde vertich stucke Munstersches louwandes,
teyn stucke Hollandessches louwandes, veer Ulmer zardoke, derteyn zinne-
baffen, eyn vat aldus yC , darinne veerteyn stucke Lubesches lou-
wandes holdende twehundert eyn unde twintigeste halff eleu, dre unde
vertich stucke Munstersches louwandes, holden viif hundert acht unde vertich
eleu, veer stucke Hollandesches louwandes, holdende negen unde vertich
eleu. Item noch twehundert Rinsche gülden by Peter van Mere. Item
sosz smale tunnen, darinne twelff Nerdessche unde sosz Altsche lakene,
alle under desseme merke /v .
Fhil'hist Ahh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. IL 6
42 • W: Stieda:
46. Johan Kaldeaiborn twee latet zemes /Y\ /h-
47. Hinrik Lisen eyn packe lakene, darinne twelflf Eribrdessche , dree
Leydesche, twe Amstelredamsche, dree Hegensche, twe kirsey, derdehalff
hundert unde soven unde vertich elen louwandes, eyn Dreselsch lakene.
Item viifteyn tunnen, dar sint inne derticli Altsche lakene, soven Nerdesche,
veer Delremundesche. Item noch ene packe wand es, darinne veer men-
gede, veer gelsche» eyn Deventersoh y viiff unde sostich dossm beretken,
allent vorscreven :undeir desseme merke [
48. Wilhelm Ringhoff eyn droge vat iserendr'aed ; item ene last vigen
aldus -j-^ A [ ■
49. Hans Berskamp tWe last myn anderhalve tunne zemes, derfceyn
tunne vor de last, aldus gemerket i: /\|T.'» Item ene packe • lenwandes,
darinne sosteynhundert myn veer elen Parldberges; noch sevedelialffhün*
dert soven unde twintich elen Ulser louwandes, eyn wit MoUensch lakene
unde eyn stucke stok vissches , noch ene packe, darinne twelffhundert myn
enen reep Parleberges, sostehalff hundert Ulser, negeu Leydesche lakene,
de there* twe brune, dree grone, eyn roed, dree s warte, eyn wit MoUensch
lakene; item eyn achtendeel in Hans Hagers kisten an unzegolde, köpper-
gelde, an zyden bordeti uppe negen unde soventigeste halve mr.; noch
an zyden borden unde untzegolde, borden uppe twe unde vertich. imr.,
alle under desseme \/7', noch eyn terling lakene brede Pepepsch aldus J— :
noch eyn terlinge, darinne dre unde twintich Nykumesche, eyn droge
vat unde ene tunne alle gemerket aldus- JL .
50. Hinrik Hoveman soste haUfe last zemes, dörteyn tunne vor de
last, also 1 ; item eyn terling lakene aldus ^\ darinne teynswarte
Nerdesche, soven Leydesche de there twe brune, twe grone, twe swarte,
eyn rod, twelff Altsche, teyn Ulmer doke, veer Oustborger, veer Eammike;
noch enen terling also /l^ , darinne negen Leydesche > dre brune j twe
* sie.
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 43
grone , vecr swarte , eyn brun Hagensch , twe Delreinuadesche , soven Ner-
desche, achteyn Altsche, veer grawe Bruggesche. Item. Bernd Eannen-
geter hadde darinne eyn terlinge Nerdessche, darinne vif unde vertich,
aldus yC; noch enen terling offte packe, darinne rode, brune, swarte
Mustebillyrsche kostele Engeische lakene; item dre droge vate unde viff
droge tunne ok gemerket alsus yK. , unde wes dar furder inne was , en
wet men nicht; item noch derdehalff vate Einsehen wyne unde andere
droge vate unde tunnen, darvan men nyn bescheet enweet» under wat
merke edder wat darinne was. Item Brand I-»ampe. van Abo hadde darinne
eyn terling lakene offte pecke aldus 1^, darinne veer unde vertich Altsche;
item noch eyn terling ofle packe, darinne sosteyn Leydesch, veer brune,
soven grone, ver swarte, eyn rod, veer Engeische dre brune, eyn gron,
dre Nerdesche, eyn brun, eyn gron, eyn blaw, sosz witte fcirsey, eyn
Lubesch graw, dre olfte veer droge vate.
5 1 . Borcherd van Schyn imde Bernd van Wynten twe terlinge lakene
also N^ , darinne in elkeme terlinge eyn unde twintich lakene , twe berevene
vate JZ, darinne vosse unde bevere; item eyn unberevene vat aldus N^,
darinne rosse unde draed.
52. Ludeke Lange dre last zemes unde twe tunne, derteyn tunne
vor de last, eyn terling Nykumesche, darinne twe unde twintich hele
lakene; item ene packe, darinne achteyn MoUensch lakene, eyn heel swart
Engelsch, negen halve Engeische lakene, dre witte stockbrede, eyn half-
hundert reep louwendes, eyn vat missinges drades, darinne teyndehalff
zintener unde twintich punt; item twe unde twintigehalff dossin vilthode,
negenteyn: punt zyden unde borden, sovedehalflF lot korallen, soven dossin
sporen unde bogele, veer Westerlindesche witte aldus .^l^-
5 3 . Henningk Wegenere eyn grot slottaitich kramvat, . darinne veer Ulmer
doke, tzeter, scherbeckene, remen unde andere mennigerleie «pisserie unde
imesiiwerk; item ene Hamborger tunne mit pattynen unde iserwerke; item .ene
kisten mit brunen Leydeschen klederen' unde wände ,♦ also . gemerket ]L-.
6^
44 W. Stieda:
54. Hans H6n twe last zemes, eyn klene vat mit beveren also ge-
merket .NV •
55. Peter van Scheven ene packe Parleberges louwandes, darinne dre
unde dortich hundert aldus j
56. Jurjen Boleken twe last zemes, dorteyn tunne vor de last, also
A. ; item twe terlinge lakene A, , in deme enen vertich Altsche, in
deme anderen twintich Nerdesche, achte Leydesche, veer Hagensche, eyn
Delremundesch , eyn Deventersch; item noch eyn terling, aldus "TT", da-
rinne vefteyn Nerdesche, twelff Altsche, veer Leydesche, dre Delremun-
desche, eyn Deventersch; item sosz tunne zemes van desseme merke "7I—
unde eyn droge vat, darinne eyn zintener kettele unde anderhalff punt
zyden bendele, rossine unde andere spisserie; item dree tunne zemes also
•- item twe tunne tynnes 41.; item noch hundert unde dertich Einsehe
güldene. . ^
56. Clawes van Calven eyn terlinge lakene also ^ V/ / > darinne ver-
teyn Trikumesche, sosz kostele Ypersche, twintich tunne zemes aldus
yfl I y ^w^ Hamborger tunne unde ene smale tunne my t tynne aldus + k .
57. Hans Bertoldes eyn vat, ene kiste unde eyn halve tunne under
dessene / X » darinne viifftehalff hundert Munsters blekedes louwandes.
anderhaliff Lubesches louwandes, viiff dossin beretken, twe rode tzeter,
twe blawe kogeler, sosteyn dusend haken, twe stucke Walsch louwandes,
sosz deker meste, eyn hundert blickes, eyn dossin rullen goldes, sosz
deker loskes, sosz dossin vilthode, veer unde twintich dossin gordele vor
vefteyn mr. budele, veer zardoke, twe riisz poppirs, vor teyn margk
natelen, eyn hundert Lubesches bleket louwandes.
58. Dethert Holthusen ene packe darinne Leydesche, Nerdessche
unde andere lakene, dre droge tunne mit spisserie unde twe grote malde
über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 45
59. Hermen Zeberhusen heft gefunden in der dreger boke, dat Hinrik
Hörne hefft hirmede ingeschepet twe terlinge brede Peppersche, twe vate
unde twe kisten aldus jK.
60. Marquard van Rene viiff droge tunne unde ene kiste mit louwande
unde kramgude ; it-em dre vate blekes , also JK ; item eyn terlinge lakene,
darinne twe unde twintich Trikumesch lakene, ene last vigen unde eyn
droge vat unde veer droge tunnen gemerket aldus N,^.
61. Hans Hobingk eyn nye droge tunne darinne allerleie spisserie
so gud alse vertigestehalve mr., aldus J^ .
62. Item Her Johan Witinghoff vorbenomed hefft noch medegedan
Hinrike Berke hundert acht unde vertich Rinsehe güldene her Diderike
Depenbeke to Revel to bringende.
63. Hans Sasse twe terlinge, in deme enen dre unde twintich brede
Peppersche in deo,e anderen twinUeh Enge.,che a.. gen,.*et ^
Unde wo wol etlike unses rades kumpane borgere unde koplude in
aller mathe so voran in desser schriflft steit, hebben vorrichtet de gudere
her vorbenomed, jedoch wy borgermestere unde radmanne der stad Lubeke
vorbenomed beholden uns des, oflft jemand in der Dutschen hanse were,
de gudere in des erscreven Hanneken Vromen schepe to desser latesten
reyse gehad hebben unde der nicht hedden vorrichtet, dat en dat nicht
vorfengklik offte schedelik sy unde eres rechtes unvorsumed blyven. To
merer tuchnisse der warheid is unser stad secrete witliken gehenged an
desse schrifft. Gheven na der bord Christi unses heren dusend veerhun-
dert im negen unde sostigesten jare am mandage na deme sondage alse
men in der hilgen kerken singhet Invocavit,
46 W. Stieda:
2. Gertification über die in den 1493 bei Grothland yenmglückten
Schiffen des Schiffers Hans Schacke befliiälich gewesenen 'Waaren.
' Staatsai'chii^'iii Lübeck. Hier t abgedruckt nach einer von weilandMHrn. Staatsarchivar
Dr. Webrmann freundlichst zur« Vsrfögung gestellten Abschrift.
1 . Her Anthonius Djnemant 4 fate flasses Fickelers eme unde Hinrick
Umelung tobehorende is to gelde 72 ,^. Lfib.
2 . Hinrick tor Horst viff stro wasses wegende 2 3 schfi 1 6 lysS unde
viff marcS[ noch 4 last asschen, steit assche unde was to hope
1626 JL unde 10 ß Lüb.
3 . Hans Dekedes eyn stro wasses , wecht 3 schipS 1 7 lysS unde
9 marcS[ is 250 JL \ ß Lüb.
4. Hermen Huntenberch 3 stro wasses wegen 9^ schipS vifftehalf ly sfi
unde eyn marcfi is 800 JL T ß /^ 6- Lfib.
5. Hans Redeke 3 stro wasses wegen 8-J- schipß 2 ly^ unde
2 marcffl[ noch viff latst i asst;h«n is 600 .>^. unde 7 ß Lüb.
6. Diderick Pothoff van Hans Muters wegen eyn stro wasses wegende
4 schipfi 2 last roggen eyne schymmese flackvissche -J- droge tunne eyn
fat: flasses is to gelde 359 JL /[ ß Lüb.
7. Matthias Veit viff stro wasses wegen 17 schip@[ 3 lysfi is
i 100 JL eynen ß Lüb.
8. Peter Possyck eyn stro wasses , noch 3 stro noeh eyn fat, dar was
mede inne was, so is in dessen 4 stro wasses mit den in deme fate was
in lutter wicht 11 schipS. 6 lysS/ unde 6 mar66 is t^o JL 2 S^ Lüb.
9. Hans Ampetmann eyn stro wasses wegende 2 schipS 8 lysffi, noch
eyne tunne mit wasse darinne 10 lysS, noch eyn vat flasses viff vemdels
lasses, is to hope 233 JL ^ ß Lüb.
10. Hans Pawes eyn bereven vath werekes, darinne werck unde märten
is to hope 192 ii^ Lüb.
11. Hans Junge eyn bereven vat, steit . . , ^%2 JL ^ ß Lüb.
12. Arndt Jagehoen 62 stucke kabelgarns, wegen 8 schipS is, 48 JL Lüb.
13. Diederick Tottelstede eyne last roggen, eyn verndell lasses is,
24 JL Lüb.
14. Hinrick Segebode 2 stro wasses, wegende viff schipS 7 lysS unde
viff marcS noch 120 stucke kabelgarns, is in all • , . 426 JL Lüb.
Uher die Quellen der Hnndelsstatistik im Mittelalter. 47 ^
15. Hans Schinokelly synem broder Clawese to behorende, eyn vätken
hir iiine 10 000 lastken unde viflFtymmer, noch eyn stro wasse^, wegende
3^'soliipfi viff lysS unde viff marcS, löpet int gelt . 776 JL ^ ß Lüb.
16.' Clawes Schinkel 2 last roggen^. 140 stucke kabelgarns is 160./^ Lüb.
1 7 . Berndt Bomhouwer 2 stro wasses wegende t^ sehipS unde 8 ly sfe
myn 3 marcS noeh 3 last assohen noch i^ last bockwete unde 7 löpe
noch 6 elendeshude is in all 750 ,/ÄtLüb.
18: Lütke Heyneke eyn stuoke wasses hefft in- Bemt Bomhouwers
stro mede gehat wicht eyn schipfi 7 lysfi unde 2 marcS is. 91 «/^ 8 /^ Lüb.
19. Clawes Kostken 2 stro wasses, wegende 4 schipp vifftehalff lysS
unde eyn marcfi unde steit int gelt ^20 JL Lfib.
20. Dirick Volmers viif last asschen, 123 stucke kabelgarns, noch
twe stro wasses wegende 6 schip& myn 21 marcfi, noch eynen deker
ledderes steit in all 550 JL Lüb*
2K Peter Possyck hefft noch mer hir inne gehat in eynen vatken,
dar dat was inne was , in vlessen garae 7 lysS myn 6 mareS noch viffte-
lialff iysS vlasses noch 8 last asseben noch viff vate vlasses noch 208 stucke
kabelgarns noch 2 last 7 löpp bockweten noeh eyne last ozemundes, desse
parcele zindt getekent to den vorgeschreven wasse unde belopenmit deme
wasse int gellt in all is I047 JC. 2 ß ^ S- Lüb.
22. Eggert Jeger eyn stro wasses, eyn stucke wicht 19 lysS, noch
2 stucke hirinne wegen eyn schipß 4 lysS 8 fi, stan int gelt 145 JL Lüb;:
23. Bemdt Wisse 120 stucke kabelgarns. is . . . . 96' e/^ Lüb.
24. Gk)tzschalck Horenz^e 120 stucke kabelgarns is . . 96 JL'AJSh.
Summa 10258 JL % ß unde 8 h- Lüb.
Item de ander certificatio uppe schipper Hans Schakenn gudere
ludende.
25. Hans Schulte 2 stro wasses eyn wicJit 3 schipfi viff marcS unde
dat andere 2 schipfi. unde 2 lysfi is viff schipfi eyn lysfi unde 1 5 marofi. is
343 Jt:^ /? Lüb.
noch eyne droge tunne 2 verndell unde eyn achtendcJel, is 5 Ji, Lüb.
summa to samede is 348 JL T ß Lüb.
26. Hermen Huntenberch hefft certificert von Säbel Osborne tom Sunde
eyn= stro wasses wecht eyn schipfi 2 lysfi. unde viff marcfi is 74 Ji, Lüb.
27. Hermen Huntenhercli hefl't certificert vor Jacob Buntzouw^n to
Anklem eyn stro wasses wicht 3 schipfi unde 6 lysfi is 222 .>Ä. 12 ^,Lüb.
48 W. Stieda:
28. Diderick Holschen heflft certificert vor Casper Boekholt 140 stucke
kabelgams stan 1 11 JL Lüb.
noch 2 stro wasses, wegen vefftehalflf schipS glysS stan iZ^ JL2 ß Lüb.
noch 4 last roggen unde 11 löpe stan ^6 JL Lüb.
summa in all 541 JL 2 ß Lüb.
29. Lambert Loflf hefft certificert van Marcus WulfFes wegen van Stettyn
eyn stro wasses wecht 3 schipS myn 3 marcS is 202 JL myn i ß Lüb.
noch 3 last roggen, noch vifF smale tunnen talliges, noch 2 halve tunnen
lasses, is to hope 82 «/^ 14 ^ Lüb. summa in all 284^ JL unde viff /^ Lüb.
30. Eersten Spierinck hefft certificert von Hans Granses wegen eyn
cleen stro wasses, wicht 2 schipS 4 lysfi unde viff marcfi is i^g JL^ ^Lüb.
noch eyne tunne butte unde eyn verndell lasses . . . 3 «/Ä^ Lüb.
3 1 . Kersten Spirinck hefft noch certificert van wegen Ffriederikes vam
Holte eyn stucke wasses, wicht eyn schipS, is int gelt, so idt steit
68 0IL Lüb.
summe in all dat Kersten certificert hefft is 220 JL T ß Lüb.
32. Mathias Veit van Cordt Monterdes wegen eyn droge fat, hir
inne eyn tymmer märten, eyne chorkappe van grauwerke, noch 4 grau-
werckes foder, 2 tymmer grau Werkes, 16 deker gerder smaschen, 7 eleu
brun Lundesch, viff* elen swart delffs, 22 eleu lenwendes, eynen sulvem
lepell, eyn elendeshuth, eyn stucke wasses woch 2 schipS, 1000 gerder
smaschen, etlike rode hude unde andere wäre, noch eyn vath, darinne
30 droge lesse is tosamede int gelt 2^0 JL Lüb.
33. Diderich Duve 12 clene stucke wasses wegen eyn schipS myn
12 marcS noch eyne solttunne mit fisschen stan . . 6% JL \ ß Lüb.
34. Hinrick Hon eyn fat flasses steit 2^ JL Lüb.
De summe is in all van dessen guderen in dessen cleynen certificatien
bestemet 20051 .^ 12 ^ Lüb.
Von dit nageschreven is de drudde certificantien Hans Schaken.
35. Herman Bruninck unde Hermen tor Loo hebben certificert van
wegen Matthias Nokes i 2jg JL ^ ß Lüb.
Dit nageschreven is de verde certificatio Hans Schakenn.
36. Peter Poleman 24untze^oldes, de untze eynen Rinschen gülden is
30 JL Lüb.
37. Clawes Schepell 4 schipS 2 lysS wasses, dat schipS 96 JL
noch 2 sehS wasses dat schipS 96 *.0a noch 76 tymmer lastken stan
TJl)er die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 49
66 Rinsche gülden, noch i6 voder stan 42 Einsehe gülden noch 20 Rinsche
gülden vor grauwerck summa in all tosamende . . . . 6^0 iJC Lüb.
38. Symon Ort van wegen Hans Prekels eyn vat knacken, eyn fat
mit vlesseme garne, etlike clene stucke wasses in eyner kisten is to gelde
80 J6. Lüb.
39. Kersten Spirinck eyne last kabelgarns is to gelde 72 e/Ä. Lüb.
40. Schipper Hans Schake 14 serpentiner dat stucke viff JC. Lüb.
noch eyn ancker van 2^ schipS dat schip® 10 JL Lüb. summa 95 JC Lüb.
dit hört den redern des schepes tho.
41. Schipper Schake hefft vor sick certificert 6 2-j- schipS kabelgarns
is to gelde in all 375 JC, Lüb.
Summa in desser veirden certiftcatien is . . . . i 288 t/^. Lüb.
Item int erste schryve ik hir de ersten unde grotesten certiftcatien
van Schipper Hans Schaken belopt sick int gelt . 10 2 ^S Jt. S fi S S-
de ander certificatie belopt int gelt 20051 t>Äl 12 /^ Lüb.
noch de dorde certificatie belopt 12791/^. 4/^ Lüb.
noch de verde certificatie belopt 1288 JC Lah.
Item noch hebbe wy de gudere to vorfolgende uthgegeven so wy
idt gerekent hebben summa 460 JC Lüb.
Summa summarum is 15 337 «/Äl 8 ^ 8 penninge Lüb. mit deme ungelde.
42. Here Diderick Hup eyn stro was.
43. Her Jaspar Lange veer bereven vate werckes, noch eyn last trans,
eyn kip hekete, eyn tunne lasz unde ene halve tunne bottern, nocli eyn droge
tunne eyn bereven packelken darinn Darpsche hekede, noch ene last trans.
44. Her Johan Kerckrinck twe vate Werkes unde eyn stro was.
45. Her Tydeman Beeck eyn bereven vat Werkes.
46. Her Diderick Hup unde her Tydeman Beeck alse testamentarii
seligen Hans Beecken wandages nagelaten kinder vormunder eyn stro was.
47. Her Hinrick Witte etlike guder wes der gefunden werden.
48. Lutke Lange twe vate Werkes, twe stro was unde sosteyn vate
gesmoltes talges.
49. Hermen Ruckerdingh sossz stro was, noch dre stro was, noch
twe stro was, noch eyn stro was, noch eyn vat werckes.
50. Gert üenter dre stro was, noch twe stro was.
51. Clawes Parketyn vyfl* stro was, noch dre stro was, noch etlick
wjus unde werck.
Phil'hist Abh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. II. 1
50 W. Stieda:
52^ Hinrick Berck veer stro was, noch eyn stro was, noch etlick was
unde ander gudere.
53. Hansz Pawes twe stro was, noch sossz vate talges.
54. Warner Buxtehude twe vate werckes unde twe last tranes, noch
eyn stro was to Lunenborch unde in de anze to husz behorende.
55. Peter Possyck dre stro was, noch eyn vat unde eyne kiste mit
gepeented boken , noch eyn stro was , noch eyn stro was , item noch eyn
bereven Vat synen gesellen und in de anze to husz behorende.
56. Hansz van Dalen dorteyn vate smoltes talges unde dre stro was.
57. David Duntzen sosz stro was unde eyn vat werckes.
58. Magnus Bruns dre stro was eyn bereven vat unde ene halve last
deget, noch dre stro was, noch eyn bereven vat.
59. Balthazare Bocholt dre stro was, dre last zeelspeckes, ene last
bottern, twe last tranes, veer vate knucken unde eyn vat Werkes, item
noch eyn stro was, noch twe stro was unde eyn bereven cuntor; dem-
sulVen Balthazar noch eyne käste, darinnen eyn packelken, darinn syn
gewesen twintich tymmer hermelen, eyn dusent lastken unde elve tymmer,
synen knechte Hanse Blotgudt tobehorende.
60. Wolter van Lennep veer stro was, noch eyn vatken.
6i. Kersten Swarte twe last tranes, veer droge vate unde twe stro
was , noch eyn stro was , noch twe stro was , noch twe vate Werkes , eme
unde siner selscup to Revel unde in de anze to husz behoi*ende, item
noch eyn vat werckes unde veerteyn tymmer mencken , synen knechte Hansze
Wyncken tobehorende unde in de anze to husz hörende.
62. Mathias Hudepol eyn bereven vat.
63. Hermen Hutterock vyff last trans.
64. Berndt Bomhouwer eyn bereven vat eyn stro was unde dorteyn
vate gesmolten talges.
65. Gotke Lange lieft certificeret, dat syn broder Hinrich Lange borger-
•mester to Darpte eyn vat werkes.
66. Hermen tor Lo twe stro was unde eyn bereven vat mit lastken,
item noch etlick was unde andere gudere, synen gesellen Conde Bratvissche
tobehorende, noch hefft desulve Hermen tor Loo certificert, dat alle sodane
gudere alse aldus J^ gemei'cket, gefunden werden, eme unde Hansze
Notkraken siner suster sone enen copgesellen, tobehorn.
Über die Quellen der HandelsstatisHk im Mittelalter. 51
67. frederick Kortsack twe stro wfus.
68. Bemdt Middelborch eyn stro was unde ene halve tunne botteren.
69. Clawes Strusz dre stro was unde elff tunnen zeelspeckes.
70. Frederick Worrsz dre stro was.
71. Hans Rute eyn droge vat, noch ene tunne, noch dre strp waß
eyne tunne unde eyn last tranes.
J2. Steffen Molhusen negeu vate trans.
73. Hansz Nyestadt eyn vat werkes. Item noch hefft desulve Hs^^sz
Nyestat certificert, dat her Johan Rotert borgermester to Revel eyn vat
Werkes darin gehabt.
74. Clawes van Sottrum twe stro was.
75. Gerdt Kock eyn bereven vat, noch twe stro was, noch negenteyn
vate smolten talges eme unde to Revell to husz behorende.
76. Hynrick Pemne hefft certificert, dat syn s wager Hansz Meyer eyn
vat Werkes gehat hebbe.
77. Evert Tymmerman eyn bereven vat, sosz tunnen unde eyn verndeyl
bottem ene halve tunne unde ein verndeyl lasses.
78. Hans van der Strate eyn stro was.
79. Plonies Beeck twe stro was, noch eyn stro was.
80. Hinrick Runge • twe stro was i verndeyl ales unde ene smale
tunne alle eme unde sinen broder tobehorende, wes ock forder van gudern
aldus Nix gemercket gefunden werden, hefft desulve Hinrick Runge certi-
ficert, dat sodane gudere eme unde hyr in unse stadt to husz behoren.
8i. Hansz Wolthusen eyn stro was unde twe tunnen botteren.
82. Hansz Ringel heft certificert dat Hans Potgeter twe stro was
gehat hebbe.
83. Hans Muter eyn copgeselle teyn vate smolten talges.
84. Pelgrim Ermelinckrode eyn vat werkes, noch 32 solten hude unde
eyn kleyn vatke^, noch eyn stro was unde eyn bereven vat.
85. Herman Moller twe stro was unde eyn vat werkes.
86. Hinrick Wantschede eyn vat werckes unde eyn stro was.
87. Evert Smit eyn vat werkes unde twe stro was.
88. Jürgen Husher eyn stro was.
89. Hansz Stellinck soven vate talges, eme unde to Revel to husz
behorende.
52 W. Stieda:
90. Hansz Schinckel Arndes szone eyii vat werk es , noch ene halve tuniie
bottern unde wes forder aldus J4- J+ >L gemercket gefunden werde.
91. Hansz Dithmers eyn vat Werkes, twe vate vlasz unde eyn vat
smaszken.
92. Berndt Brinnck dre stro wasz.
93. Hinriek Bulouw eyn vat knucken, sosz unde vefflich kyp solten
hude, eyn vat Russeher hude unde eyn stro was, noch eyn vat knucken.
94. Michael Heytman dre stro was.
95. Werner Dudinck veer stro was, dre unde twintich vate talges,
eyn cleyn droge vatken unde eyn packe hekede.
96. Lutke Loseke veer stro was, darinn vyif stucke.
97. Willem Hostelberch eyn vat werkes.
98. Peter Volck twe stro was eyn vat Werkes unde elff vate ge-
smolten talges.
99. Thomas Rump twe vate knucken.
100. Emeke Kluve heff't certificert, dat alle sodane guder alse aldus ^/Ov
gemercket gefunden werden eme unde in de anze to husz behoren.
loi. Hansz Bruskouw heff't certificert, dat sodane guder alse aldus ps
gemercket, gefunden werden, eme unde Hanse Vinckhane tobehorn.
102. Hinrick van Beesz dat alle sodane guder, alse aldus I ge-
mercket, gefunden werden, eme tobehorn.
103. Hinrick Sluter dat alle sodane guder alse aldus > p ^/^ ge-
mercket, gefunden werden, eme unde in de anze to husz behoren.
104. Reynolt Vemern dat alle sodane guder, alse aldus -p gemerket,
gefunden werden, eme unde in de anze to husz behoren.
105. Jacob Bratvisch dat alle sodane guder, alse aldus ^jZ I ge-
merket, gefunden werden, eme unde in de anze to husz behoren.
106. Berndt Ysz dat alle sodane guder, alse aldus =t gemercket,
gefunden w^erden, eme tobehoren unde in de anze to husz behorn.
Über die Quellern der Handekstatisiik im Mittelalter. 53
3. Ladung des dem Schiffer Martin Herman gehörenden Schiffes , das an
der finnischen Küste strandete. 1546.
Stockholm. Reichsarchiv. Acta, Handlingar ang. Lübecks u.s. w. Pap.Conv. von 1 1 beschr.,
I unbeschr. Blatte, bis ii paginirt.
(i.) Lübischer unnd Hamborgischer Ausszugh aus 4 derselben Certi-
ficationen yber Martin Hermens schiif iinnd geladne güther so von Lübeck
ausgeschiffet unnder Finnlandth gestrandet und geblyben umb Martini anno
1546.
(2.) Ausszug aus 2 der Lübeschenn und 2 der Hamborgischen Certi-
licacien pergamentz brieff yber alle die Güther Warenn goldhtaler etc. so
inn seligenn schipper Martin Hermens schiff zu Lübeck eingeschifft unnder
Fynnlandt gestrandet unnd geblyben umb denn trenth Martiny anno 1546.
Namen der borger inn Lübeck gezogenn aus 2 certificacionsbrieffen :
Herr Jheronimus Packbusch, Herr Anndres Buschman, Jörgenn Mi-
chahelis, Hanns Grenssin, Heinrich Wybbekungh, Friderich Tollner, Everdt
Bosse, Hanns Meyer, BernntKniper, Thomas Wibbekungk, Claus Gloywinck,
Rothgerth Rügessbergh , CristofferNeyenstedt, Jocliim Klepel, Gorius Osters,
Heinrich Protesting, Hanns Plage, Gerth Upertrepenn, Marcus Mul, Clement
Ebbeling, Paul Hennigs, Joachim Hallepage, Paul Reinfeldh, Hans Holt-
husenn, Hermen Snickmann, Hanns von Rennteln, Hanns Fobbe, Hörmen
HoUeholtschoo , Hans Lütke Hening, Philipus Trappe, Tonius Hagenow,
Heinrich Spittel, Wynolt Jeger.
(26.) Nhamen der burger inn Hamborgh gezogenn aus 2 certificacions-
brieffen :
T Thomas Kammerman, Cecilien Tornlnge, Davidt Grodt, Herr Jorghenn
Filther, Reinicke Reinickens , Gerth Swarth , Cristoffer Ficke , Hans Sanndt-
mann, Eiert Paulsonn.
(Sct>) L Lubische burger geschiffeth:
Erstlich
1. Herr Jheronimus Packebusch: /\r fDaler 100 stücke f Zcynn,
I fas , wichtig 4 schipund weniger i markpundt.
2. Herr Anndres Buschmann: ungemerckt: fSaffrann, 15S.
54 W. Stieda:
3. Jörgenn Michahelis: ÄZ f Dalers, 183 stücke, f Screckenberger,
17 dalers. ,>
4. Hanns Grenssin: "^P f Dalers, 150 stücke, f Messing, i fath, wichtig
loZcintener i marcpundt, f Tradt, 28 Ringb, wichtig 1 1 Zcintener 28 marc-
pundt.
5. Heinrick Wybbekingh : ^ X , Ar Dalers, 2 budel, 486 stücke.
(36.) 6. Früderick Tölner: X f Mölnische Lackenn, 2 rodte, 2 blawe,
I grons stücke, f Messing tradt, 55 Ringe, wichtig 22 zinterer 28®
7. Everth Bosse: * I Dalers, 100 stücke.
8. Hanns Meyer: TT/^ Engliske lacken, i pack, darine 2 schwartz-
bereite, 2 liffarbe, 2 blumengel, 2 papagogron, i düstergrön, i gossel-
grons, summa 10 stücke.
Noch I pack lacken darine 4 Norder do syn i graw, i blaw, i tannet,
I grön), I graw Rolduch, 6 blawe, 4 rodt Easterkundiseh , i goldgel, i fyn-
rodt, summa 17 stücke, y.
9. Bernnth Knyper: »i 'i « Messing tradt Ringe 37, wichtig 15 zintener
minus 4 marcpunt. ^^
(4a.) 10. Thomas Wybbekungh : jC Dalers, 217 stücke.
11. Claus Gloywinck: -J-bj Englische lacken i pack darine 10 rodte,
4 blawe stücke. ^^
12. Röthger Rügessbergh: -+1 Ennglische lacken i pack 14 stück.
^ Flemsche decken 3 stücke, Rüsselsche halffzcayn i stücke, Zcynn
kanner 12 stücke, Enngelske handzweheln 2 stücke sampt etlichen schuhen
unnd pantoflfelnn.
13. Christoffer Neynstadh: "x Engliske lacken, i pack No. 5, 2 rodte
Kastenkundische, 2 papagOgrön, 2 askefarb, i blancketz, i blomengel,
summa 8 stücke.
Noch I pack No. 6, inn der certificacione forgessenn.
(46.) 14. Joachym Klepel: xk^ Cursaten 100 stücke.
Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter. 55
15. Grorius Osters: ^ j)Q ,
Englische lacken | 2 goldgele
Nersch ^ S 2 gele } stücke
3 rode
20 stuck.
Noch I pack Ennglisk, i rodt bereith, 9 stoplisten, i geringez stücke.
$
16. Heinrich Prottesting: Ji Dobelducaten 7 stücke, Dalers 80 stücke,
Engliske lackenn, 2 düstergrön bereith, 3 anndergrön, i blaw, 2 gele,
I aschefarby summa 9 stücke.
17. Hanns Plage: ungemerckt, Engliske lackenn, 3 blawe, 3 rode stücke.
(5a.) 18. Gerth Upertrepenn: j^ Zcynn, i fas, ungewogen.
X
=^
19. Marcus Möl: /\ Engeliske lackenn, 8 rodte, 6 blanckete uptledt
Gottinges, i stucke.
20. Clement Ebbelings : Muskaten I3'}'®, Muskatblumen 4|-0., weyssen
ingfer 29 S, Canel I4'}'S, i)feffer 2 3-j-®., lang pfeffer 14^®, Zcedewar-
samen I2-J-S, zcedewar 33®, Calingen 50 S.
Kt^
Noch I kisten darinne |— T > jIi ' Damasch blaw in rodt 17 eleu, weyss
Damasch i stucke , halff Macheyer leiferfarb 2 stücke, halft* Machey er swartz
4 stücke, Macheyer grön inn rodt 2 stücke, Macheyer, gantz swartz, 2 stücke,
Rolle Messing, 5 zintener 70® Weyssen blech, 6 fass, darin 1800 stücke.
(5 6.) 21. Paul Hennings: ^^k Engliske lacken 2 pack, No. 10:9 rodt
Kasterkundische, 2 rodte stoplisten, 5 düsterblaw, 2 düsterbrun, 3 bastert-
rodt, I nigcolor (?). Summa 22 stücke. No. 11: 4 rodt Kasterkundisch,
2 rodt stoplisten, 4 hemelblawe, 4 gi*aw, 3 papagogrön, 4 gele. Summa
21 stücke.
t
22. Joachim Hallebage: ^~ Dalers 240 stücke, Enngliske lacken i pack,
13 rode, 2 blumengel, 2 goesselgrön, 2 düvstergrön, i brun, 4 schwartze.
Summa 24 stücke. Swai'tzes Leidische, 3 stücke, Flamsehen Hering, 2 last.
(6a,) 23. Paul Reinefeldli: JT Dalers 219 stücke.
t
56 W. Stieda:
24. Hanns Holtliussenu : "T^ Dalers, 200 stücke, Messing dradt 6 Ham-
borger tonen, darinen stücke 74, wichtig 30 zintner 28 S
25. Hermen Snickman: .JT Bly, 6 stücke, wichtig 27-}- schip®, 6 S. (?)
2 marcpfund. Hering schonisch gudt 2 helle tonnen.
26. Hanns von Rentelnn: jr- Dalers, 114^ stücke.
27. Hanns Fobbe: -^ppi Blicks, i last.
28. Hörmen Holteskoo: /V^ Lacken, 2 packen No. 8: 8^ himelblaw,
8^ rovelinge, 3^ fitze, i himelblaw umschlagh, Summa 21^ stücke. No. 9:
4 wilde, 2 salte blaw, 2 arainen, 2 lichtblaw, 6 gra^sgröns, 6 himelblawe,
thom Umschlag ^ grön, -J- gel. Summa 23 stücke.
(6 6.) 29. Hanns Lutke : -Jr- Dalers, 1 5 5 stück, büdel mit gelde 3 stücke,
üfllden ringh mit ein edlen stein i, Bly, 4 stücke, woge 15 schippund 13 ff,
SipoUensaedt, 128 puudt, Rock graw und blaw 4, Etlich hossen und wammes.
30. Philippus Trappe: ungemerckt, Dalers 300 stücke.
31. Tonius Hagennow: T Untzegold 8 S.
Kasterkundisch rod 6 ) , , ,
-^ ,. , -, f stücke lackenn,
r^nglisch rodt i >
^- . , \ 1 2 stücke.
Siechte rode 5 ;
32. Heinrich Spittel:
Englische 2 schwartze ]
I grön I bereide lackenn.
I blaw )
Summa 4 stücke.
(7^-) 33- Wynolth Jeger: Ungemerckt: Ennglische, 6 blawe, 4 rodt
lacken.
(76.) Summarum yber alle die inngeschiff'te gudter so nach innholth
der Lubischenn Certificacien brieffen sich zusamen belauffen: Dobel Du-
caten 7 stücke, Cursatenn 100 stücke, Dalers 2544-}- stücke, Screckenberger
17 daler, Budel mit gelde 3 stücke, Güldene Ring mit eim edlen Stein 1,
Untze Gold 8 pundh, Knngliske lacken 208^ stücke. Noch ein pack
Über die Quellen der Handebstatistik im Mittelalter. 57
mit allerley lackenu, 17 stück. Noch pack i stücke, Kasterkundische
21 stücke, Leidische lacken 3 stücke, Molnische lacken 5 stücke, Gottinges
lacken 2 stücke, Nersch lacken 20 stücke. Blaw und graw Roeck 4 stücke.
Etlich hossenn und wammes. Dammask i stuck 1 7 eleu, Machey er 10 stücke,
Halffczayn i stücke, (8a.) Flemsche Decken 3 stücke, Engeische Hanndt-
zwehel 2 stücke, Saifran 15 pundh, Muskat 13-}- pundh, Muskatblumen
4^ pundh , Weyssen Ingfer 29 pundh, Canneel 1 4^ pundh , Pfeffer 23^ pundh,
Lang Pfeffer 14^ pundh, Zcedewer 33 pundh, Calinge 50 pundh, Zce-
dewersamen 12-j- pundh, SipoUensaeten 128 pundh, Heringe 2 last i tunne,
Zcynn 4 schipund minus i marcpund , i fas unnd 1 2 kannen , Bly 43 schip-
pund 9S 2 marcpundt, Rolle Messing 10 zintner 28 marcpundt, Messing
tradt 83 zintener 150 marcpundt, Weyss Bleck, 1800 stücke, Weyss Blicks
1 last. Etliche schuch unnd pantoffeln.
(86.) n. Hamborgische burger geschiift: i. Tomas Kamermann, Cecilien
Torninges und Davit Groth: /)C Dalers 150, Engliske lackenn 5 rodte,
3 blawe, 3 blumengel, 3 goesselgrone stücke, Summa 14 stücke, Papir for
60 mr Lubsch.
2. Herr Jörgenn Fylther: *A Skarlack 3^ eleu, Schwartz utherfyn
23 stücke, Rodt utherfyn 3 stücke, Brun stamet i stücke, Rodt stamet
I stücke, Grön stamet ^ stücke, Blaw stamet ^ stücke. Englisch schwartz
bereit i stucke, Swart Ennglisk 21 elenfyn, Tannet Ennglisk 22 eleu fynn,
RodtEnnglisk 1 7^ eleu fyn, Rodt kersey i stücke, Swartzs Gottinges i stücke.
(9 a.) 3. Reinicke Reinickens: JV Dalers 30 stücke, Englisch 1 1 stücke,
Kasterkundisch 6 stücke, Rodt Stoplyste 2 stücke, Askefarb i stücke,
Goesselgrön i stücke, Blomengel i stücke, Gottinges grön i stücke.
4. Gerdth Swarth: \L^ Dalers inn einer kystenn 300 stück.
5. Christoifer Fick: X JT TTT^ "+0. J^ ^Dalers 400 stück.
Englisch 6 stücke, Kasterkundisch 1 7 stücke, Hemelblaw 4 stücke, Grön i stuck.
6. Hanns Sandtmann: V Rodt Kasterkundisch 8 stücke, Weyss
I stuck, Blomengel i stuck, Brun i stuck, Goesselgrön i stuck, Swartzs
kersey 24 eleu, Blaw Gottinges i stucke.
Fha.'hi8t. Abh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1902. IL 8
58 W. Stikda: Über die Quellen der Ilandehstatistik im. Mittelalter,
■X
7. Eiert Paulsonn: 00 Rodt Kasterkundisch 8 stücke.
8. Pether Parseval, der allein errett unnd darvan gekomen certificiert,
das er mit sich gehat, erstlich in seiner kysten Dalers 214 stucke; Eng-
lische, 9 rodte, 2 schwartze, 2 lichtbrune, i düstergrön, i askefarb, -J- weyss
stücke; Schwartz kersey i stück, Gottinges i stück.
Summa yber die inngeschiffte Hamborgischenn güther inholt irer Certi-
ficacionen: Dalers 1094 stücke, Skarlacken 3^ elen, Stamet 3 stücke, Uther-
fyn 26 stücke, Englisch 61^ stücke, Fyn Englisch 6of elen, Kasterkun-
disch 39 stücke, Kersey 2 stücke 24 elen, Gottinges 3 stücke, Papir for
60 marc Lübsch.
(lOö.) Siunmarum yber alle gudter so auff seligenn Martin Hermes
schiff bey de von Lubschen unnd Hamborgischen geschiffet, gestrandet unnd
geblybenn belaufft sich : Guldh och Penninger: Dobelducaten 7 stucke,
Cursatten 100 stucke, Güldin Ring mit eim stein i stuck, Dalers 3638-^1
stücke, Scki-eckenberger 17 daler, Budel geldes 3 budel, üntze guldh
8 pundh. Gewannt: Skarlackenn 3-Jelenn, Stammet 3 stücke, Utherfynn
26 stücke, Englisch fyn 60^ elen, Ennglisch 270 stücke, Ein pack mit
allerley lacken 1 7 stück , Noch lacken pack i stück , Kasterkundisch 60 stück,
Leydiske lackenn 3 stücke, Molnische 5 stücke, Kersey 2 stucke 24 elen,
Gottinges 5 stücke, Nersch 20 stucke. Seyden gewandt und andere
Kleider: Dammasth i stück 17 elen, Machey er 10 stücke, Halff zcaynn
I stücke, Flemsche decken 3 stücke, Enngelske handzwehel 2 stücke, Blaw
und graw Rock 4, Etlich hossenn mmd wammes. Krüdher: Saffrann
1 5 pundh , Muskaten 1 3^ pundh , Muskatblumen 4^^ pundh , Wey ss Ingfer
29 pundh, Canneel 14^ pundh, Pfeffer 23^ pundh, Langpfeffer 14-^ pundh,
Zcedewer 33 pundh, Calinge 50 pundh, Zced ewersamen 12^ pundh, Sipollenn-
samen 128 pundh, Hering 2 last i tonne. Mettall: Zcyn 4 schipundt min
I marcpund, i fas und 12 kannen, Bley 43 schipund 9 Lispund 2 marc-
pundt, Rolle Messing 10 scintner 28 marcpimd, Messing tradt 83 zintner
150 marcpundt, Weyss bleck 1800 stücke, Weyss blicks i last. Papir for
60 marc Lübsch, Etlich schuch unnd panntoffelnn.
v^
r
^
Thla book should be retumed to
the Iiibraiy on or before the last dato
stamped below.
A flne of flve oents a day is inourred
by retaining it beyond the speoifled
tizno.
Please retum promptly.